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Titel
Anstiften zur guten Tat. Die »Aktion Gemeinsinn« und die westdeutsche Zivilgesellschaft, 1957–2014


Autor(en)
Kafurke, Anja
Reihe
Histoire
Anzahl Seiten
388 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christine G. Krüger, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bonn

Über mehr als fünf Jahrzehnte hat sich die 1957 gegründete „Aktion Gemeinsinn“ in verschiedensten Kampagnen für die Förderung bürgerschaftlichen Engagements und die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts in der Bundesrepublik eingesetzt. Sie ging damit den intensiven politischen Bemühungen um eine Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements seit den 1990er-Jahren voraus. Dass sie ihre Arbeit 2014 einstellte, also just in einer Zeit, in der die Notwendigkeit einer solchen Förderung weitgehend unumstritten war und gleichzeitig in der Öffentlichkeit die Sorge vor einer gesellschaftlichen Desintegration angesichts zunehmender Polarisierungstendenzen wuchs, mag auf den ersten Blick überraschen. Anja Kafurke zeichnet in ihrer 2021 an der Universität Leipzig abgeschlossenen Dissertation die Entstehung, Zielsetzung und Funktionsweise der „Aktion Gemeinsinn“ nach, wirft damit ein Licht auf die öffentliche Diskussion und Wertschätzung der Zivilgesellschaft in der Bundesrepublik und legt schließlich auch plausibel dar, was sich aus der Auflösung des Vereins über den Wandel der Engagementförderung in den vergangenen Jahrzehnten lernen lässt.

Die gesellschaftlichen Probleme, zu deren Lösung die Kampagnen der „Aktion Gemeinsinn“ beitragen sollten, waren äußerst vielfältig: Ziele der Kampagnen waren etwa eine bessere Integration von Studierenden aus dem Ausland oder von „Gastarbeiter“-Kindern, gesundheitliche Prävention, eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Belange alter Menschen, die Förderung eines Dialogs zwischen Ost- und Westdeutschen nach der staatlichen Vereinigung, die Stärkung des Umweltbewusstseins oder des Europagedankens. Und damit sind nur einige der Themen benannt, für die die Verfasserin die Arbeit der „Aktion Gemeinsinn“ beispielhaft ausführlicher analysiert. Mit einem Blick in die Liste sämtlicher Kampagnen des Vereins, die sich im Anhang der Studie findet, ließe sich noch manches ergänzen.

Das breite Themenspektrum, dem sich die „Aktion Gemeinsinn“ widmete, stellt für die historische Analyse konzeptionell eine Herausforderung dar: Die Vielfalt der verschiedenen Problemfelder, die nach vereinsinternen Diskussionen jeweils in den Mittelpunkt der Kampagnen rückten, lässt weder eine Systematik bei ihrer Auswahl erkennen noch klare Entwicklungslinien bei den Inhalten der Kampagnen aufscheinen. Um die Arbeit zu strukturieren, hat die Verfasserin daher das Konzept der Zivilgesellschaft zum Ausgangspunkt gewählt: In den vier zentralen Kapiteln der Arbeit fragt sie jeweils, in welcher Gestalt sich zentrale Elemente dessen, was sie in Anlehnung an gängige Definitionen als „Zivilgesellschaft“ fasst, in der „Aktion Gemeinsinn“ wiederfinden lassen und wie sich dies im Laufe der Zeit wandelte. Als derartige Elemente identifiziert Kafurke die Organisationsform des zivilgesellschaftlichen Engagements, das Agieren in der Öffentlichkeit, die Orientierung am Gemeinwesen sowie das Bemühen um eine politische Einflussnahme.

Bevor die Autorin diese vier Aspekte für die „Aktion Gemeinsinn“ genauer analysiert, gibt sie nach der Einleitung im zweiten Kapitel einen Überblick zur „Entwicklung der Zivilgesellschaft und des bürgerschaftlichen Engagements bis 1945“, in dem sie vor allem die Rolle des Vereinswesens im Kaiserreich und in der Weimarer Republik skizziert. Studien von Sheri Berman oder Rudy Koshar, die darlegen, dass auch antidemokratische Kräfte das Assoziationswesen nutzten und damit gar zum Aufstieg des Nationalsozialismus beitrugen, rezipiert sie nicht als Kritik an der Normativität des Zivilgesellschaftskonzepts, sondern überraschenderweise eher, um daraus ein Versagen der staatlichen Engagementpolitik abzuleiten.1 Überzeugender erscheint die Argumentation des daran anknüpfenden, als „Exkurs“ bezeichneten Abschnitts zum nationalsozialistischen „Winterhilfswerk“. Hier arbeitet Kafurke heraus, wie das „Winterhilfswerk“ durch Druck und massive Propaganda die Spendenbereitschaft zu mobilisieren versuchte, und erklärt damit die Vorbehalte, die in den ersten Jahren nach 1945 der Werbung als Mittel zur Aktivierung freiwilligen Engagements entgegengebracht wurden.

Das dritte Kapitel, das sich der Gliederungslogik zufolge der Organisationsstruktur widmet, die als Merkmal der Zivilgesellschaft betrachtet werden soll, skizziert vor allem die Gründungsgeschichte des Vereins. Maßgeblich angestoßen wurde die „Aktion Gemeinsinn“ durch den kurz nach dem Krieg aus dem englischen Exil nach Deutschland zurückgekehrten Pfarrerssohn und Oxford-Absolventen Carl-Christoph Schweitzer (1924–2017). Als Referent der „Bundeszentrale für Heimatdienst“, der späteren „Bundeszentrale für politische Bildung“, lernte er auf einer USA-Reise das 1941/42 gegründete (und bis heute existierende) gemeinnützige Ad(vertising) Council kennen, das ihn zur Gründung einer ähnlichen Institution in der Bundesrepublik inspirierte.

Im vierten Kapitel widmet sich die Autorin zunächst den Werbekampagnen der „Aktion Gemeinsinn“ und kontextualisiert diese in der Geschichte der kommerziellen Werbung. Obwohl Werbung in den Nachkriegsjahren vielfach als moralisch verwerflich angesehen und im gesellschaftlichen beziehungsweise politischen Bereich mit der NS-Propaganda assoziiert wurde, setzte die „Aktion Gemeinsinn“ massiv auf Werbeanzeigen in den Printmedien. Zeitschriften und Tageszeitungen stellten unentgeltlich Seiten zur Verfügung, Werbeagenturen, die Anzeigen gestalteten, ihre Arbeitskraft. Über 20 Abbildungen liefern Beispiele für die Anzeigen verschiedener Kampagnen; dem Wandel der Bildstrategien widmet die Verfasserin allerdings kaum Aufmerksamkeit. Ein zweiter Abschnitt – der im Kapitel zu Öffentlichkeit und Kommunikation thematisch überrascht –, analysiert die verstärkte Zusammenarbeit des Vereins mit staatlichen Stellen. Am Beginn stand 1968 eine vom Bundesgesundheitsministerium vorgeschlagene und mit diesem gemeinsam durchgeführte Kampagne. Auf seine Unabhängigkeit bedacht verzichtete der Verein jedoch auf staatliche Subventionen. Zwei kürzere Abschnitte am Ende des Kapitels legen schließlich dar, wie die „Aktion Gemeinsinn“ seit den 1990er-Jahren versuchte, angesichts der nachlassenden Bedeutung der Printmedien neue Kampagnenformate zu finden: So organisierte sie beispielsweise Tagungen und bemühte sich, mithilfe von „Eventkultur“ und Social-Media-Auftritten auch jüngere Generationen anzusprechen.

Die beiden folgenden Kapitel setzen sich stärker mit der inhaltlichen Arbeit der „Aktion Gemeinsinn“ auseinander, die in ihrer Heterogenität hier nicht nachgezeichnet werden kann. Daher seien nur einige allgemeine Entwicklungen hervorgehoben, die die Geschichte der Zivilgesellschaft prägten und am Beispiel der „Aktion Gemeinsinn“ zum Vorschein kommen. Während die ersten Kampagnen der 1950er- und frühen 1960er-Jahren versuchten, moralisierend auf die Bürger und Bürgerinnen Einfluss zu nehmen, bemühten sich spätere Kampagnen, auf die viel beschworene Individualisierung zu reagieren, indem sie Selbstverwirklichung als Motivation für zivilgesellschaftliches Engagement nicht nur tolerierten, sondern auch gezielt ihre Werbestrategie darauf einstellten. Allerdings gelang die beabsichtigte Anpassung an den Zeitgeist nicht immer. Der Verein scheiterte etwa bei dem Versuch, auch mit der „68er“-Bewegung in Dialog zu treten. Ihr galt die „Aktion Gemeinsinn“ zu sehr als Teil des „Establishments“. Tatsächlich nutzte der Staat in den frühen 1970er-Jahren die Zusammenarbeit mit dem Verein, um angesichts der damals verbreiteten Staatsskepsis eigene Bemühungen, Einfluss auf die öffentliche Meinung zu nehmen, zu kaschieren: Ohne selbst als Auftraggeber in Erscheinung zu treten, griff das Bundesministerium des Innern auf einen im Rahmen einer Kampagne der „Aktion Gemeinsinn“ verteilten Fragebogen zurück, um Daten über verbreitete Einstellungen zum Thema Umweltschutz zu erheben. Die enge Verzahnung von Staat und Zivilgesellschaft ist in der Forschung der letzten Jahrzehnte oft hervorgehoben worden, mitunter allerdings wird die staatliche Instrumentalisierung zivilgesellschaftlicher Strukturen als Kennzeichen des angestrebten Rückbaus des Sozialstaats seit den 1990er-Jahren präsentiert. Kafurkes Ausführungen zeigen indes, dass sie schon in den 1970er-Jahren möglich war, wenn auch mit anderen Zielen und in anderer Form.

Dass die „Zivilgesellschaft“ in den 1990er-Jahren zu einer politischen Zauberformel wurde und alle Seiten nun die Förderung bürgerschaftlichen Engagements verlangten, wurde der „Aktion Gemeinsinn“ letztlich zum Verhängnis, wie das abschließende Kapitel zeigt. Der zunehmenden Konkurrenz war sie nicht gewachsen, hinzu kam der Medienwandel: Mit sinkenden Zeitungsauflagen schrumpfte auch die wichtigste Plattform für ihre Kampagnen.

Es ist nicht unbedingt einfach, bei der Lektüre der Monografie klare Entwicklungslinien herauszufiltern, was teilweise am Untersuchungsgegenstand liegt, teilweise aber auch an der passagenweise eigenwilligen Struktur der Darstellung. Alles in allem liefert Anja Kafurkes Analyse jedoch zahlreiche erhellende Informationen und Einsichten zur historischen Zivilgesellschaftsforschung.

Anmerkung:
1 Sheri Berman, Civil Society and the Collapse of the Weimar Republic, in: World Politics 49 (1997), S. 401–429; Rudy Koshar, From Stammtisch to Party. Nazi Joiners and the Contradictions of Grass Roots Fascism in Weimar Germany, in: Journal of Modern History 59 (1987), S. 2–24.