J. Kolata: Krankheit, Wissen, Disziplinierung

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Title
Krankheit, Wissen, Disziplinierung. Öffentliche Gesundheitsfürsorge in Frankfurt am Main zwischen Sozialhygiene und Eugenik 1920–1960


Author(s)
Kolata, Jens
Series
Studien zur Geschichte und Wirkung des Holocaust
Published
Göttingen 2024: Wallstein Verlag
Extent
490 S.
Price
€ 46,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Peter Sandner, Wiesbaden

In seiner Monographie „Krankheit, Wissen, Disziplinierung“ untersucht der Historiker Jens Kolata die öffentliche Gesundheitsfürsorge in Frankfurt am Main von 1920 bis 1960. Der Band ist in einer Reihe des Frankfurter Fritz Bauer Instituts erschienen, wo Kolata seit 2019 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig ist. Intention des Forschungsprojekts war „die Rekonstruktion sowohl der Behördenpraxis des Stadtgesundheitsamts als auch der Perspektive der von dieser Praxis betroffenen Menschen“ (S. 9) über die Systemwechsel von 1933 und 1945 hinweg. Die Stadt Frankfurt war Initiatorin des Projekts am Fritz Bauer Institut; das Gesundheitsamt übernahm die Finanzierung (S. 9). Tatsächlich beschränkt sich Kolata jedoch nicht auf die Tätigkeit des Gesundheitsamts allein, sondern bezieht weitere Ämter mit ein, denn: „Aufgrund der engen strukturellen, personellen und arbeitsteiligen Verflechtung des Stadtgesundheitsamts Frankfurt mit dem städtischen Wohlfahrts-, dem Jugend- und schließlich dem Fürsorgeamt kann seine Geschichte kaum isoliert betrachtet werden.“ (S. 15) Abgesehen von Einleitung und Fazit gliedert sich die Studie in drei chronologisch angeordnete Hauptkapitel, die durch die Zäsuren 1933 und 1945 voneinander abgegrenzt sind. Das erste Hauptkapitel zur Weimarer Republik beleuchtet die Gesundheitsfürsorge im Spannungsfeld zwischen „[s]oziale[n] Reformen und autoritäre[n] Konzepte[n]“ (S. 27–145). „Im Zentrum der Untersuchung steht die Zeit des Nationalsozialismus“ (S. 9) – folgerichtig ist das zweite Hauptkapitel zu „‚Rassenhygiene‘ und Sozialhygiene“ auch das längste in der gesamten Studie (S. 146–294). Im letzten Hauptkapitel werden dann „Kontinuitäten, Brüche und Reformen“ in der Zeit von 1945 bis 1960 – unter der US-Besatzung und in der frühen Bundesrepublik – behandelt (S. 295–436).

Alle drei Hauptkapitel haben eine ähnliche Binnenstruktur: Sie werden jeweils eingeleitet durch ein Unterkapitel, das die Struktur- und Aufgabenveränderungen sowie wichtige Personalia für den jeweiligen Zeitraum überblicksartig zusammenfasst. Es folgen dann jeweils vier Unterkapitel, die immer dieselben Themenstränge beleuchten (S. 25f.): Das erste Thema ist die ambulante psychiatrische Arbeit des Stadtgesundheitsamts in Bezug auf Kinder, Jugendliche und Erwachsene. Der zweite Themenstrang richtet sich auf die Eugenik, was Eheberatung, erbbiologische Erfassung und schließlich Zwangssterilisationen umfasste. Der dritte Themenbereich ist die Geschlechtskrankenfürsorge, wovon hauptsächlich Frauen und Mädchen betroffen waren. Der vierte Themenstrang umfasst die Zwangsunterbringung von Menschen, die als sozial abweichend eingestuft wurden, in geschlossenen Einrichtungen wie zum Beispiel Anstalten, Arbeitshäuser oder – im NS-Staat – Konzentrationslager. Die jeweils vier Unterkapitel kommen in den drei Hauptkapiteln zwar in unterschiedlicher Reihenfolge vor, durch die Gleichartigkeit des Fokus ermöglichen sie jedoch sehr gut vergleichende Betrachtungen. Kolata kann auf einen umfangreichen Forschungsstand aufbauen. Viele lokalhistorische Arbeiten aus anderen Städten und Regionen mit einem „zeitliche[n] Schwerpunkt […] auf der Geschichte des öffentlichen Gesundheitswesens in der Zeit des Nationalsozialismus“ (S. 10) liegen vor. In Frankfurt am Main haben sich bereits mehrere Studien „[m]it der eugenischen Praxis und der Institutionengeschichte des Stadtgesundheitsamtes […] befasst“ (S. 11): 1992 betrachtete ein Sammelband die Geschichte des öffentlichen Gesundheitswesens in Frankfurt über mehrere Jahrhunderte hinweg.1 Und 2017 zeichnete Sabine Börchers die Geschichte des Stadtgesundheitsamts anlässlich von dessen 100-jährigem Bestehen nach.2 Zu diesen und weiteren Arbeiten bildet Kolatas aktuelle Studie nun eine Vervollständigung, indem der Autor weniger den bisher vorherrschenden institutionengeschichtlichen Aspekt, sondern vielmehr die praktische Tätigkeit der Behörde(n) und deren Auswirkungen auf die betroffenen Menschen in den Mittelpunkt stellt.

Eine besondere Stärke des Werkes ist, dass Kontinuitäten und Brüche durch die „Längsschnittanalyse“ über vier Jahrzehnte und zwei Systemwechsel hinweg sehr gut nachvollzogen werden können. Der Autor nimmt „längerfristige Entwicklungen im Feld der Gesundheitsfürsorge, beispielsweise im Bereich der Anstaltsunterbringungen, der eugenischen Eheberatung oder der Erfassung personenbezogener Daten“ in den Blick und untersucht „ihre Rolle bei nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen wie Sterilisationen, Krankenmorden oder KZ-Einweisungen“. Er belegt, dass „in diesen Feldern, aufbauend auf bereits seit der Weimarer Zeit eingespielten Verfahrens- und Handlungsweisen, eine spezifische Verfolgungspolitik etabliert wurde“ (S. 18). Kolata spricht von einer „Janusköpfigkeit“ der öffentlichen Gesundheitsfürsorge: Sozialhygienische Elemente verbanden sich mit eugenischen, sozialreformerische mit sozialdisziplinierenden (S. 437). Durch den Aufbau von vernetzten Strukturen zur Verbesserung der Gesundheitssituation in der Weimarer Zeit erarbeitete das Stadtgesundheitsamt sich „ein besonderes Wissen […] über den Gesundheitszustand und das Sozialverhalten der Bevölkerung“ (S. 437). Diese Informationsbasis wurde ab 1933 durch den Aufbau einer zentralen „Erbkartei“ mit schließlich 420.000 Karteikarten perfektioniert. Die „Erbkartei“ war eines „der reichsweit größten Verzeichnissysteme eines Gesundheitsamts“ (S. 438), diente NS-Verfolgungsmaßnahmen und wurde dann weiter „bis in die zweite Hälfte der 1960er Jahre genutzt und ergänzt“ (S. 439). Die Förderung eugenischer Zwangssterilisationen bildete in den 1930er-Jahren einen Tätigkeitsschwerpunkt des Stadtgesundheitsamts. Es „wurden weite Teile der Behörde in den Dienst der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik gestellt“ (S. 441).

Im Hinblick auf die „Praxis der Sozialdisziplinierung durch Unterbringungen“ konstatiert Kolata „im zeitlichen Verlauf Entwicklungen einer Radikalisierung und einer Deradikalisierung“ (S. 444). Gesundheits- und Fürsorgeamt nutzten in der NS-Zeit die Möglichkeit, „schwer disziplinierbare Personen in Konzentrationslager oder ‚Jugendschutzlager‘ einweisen zu lassen“ (S. 444f.), und nach 1945, als die US-Militärregierung die Arbeitshausunterbringung unterbunden hatte, drangen sie auf die erneute Möglichkeit zu entsprechenden Einweisungen (S. 446, S. 449). Kolata zeigt an diesem Beispiel, dass in den 1950er-Jahren noch starke Beharrungskräfte vorhanden waren, bevor dann in den 1960er-Jahren im Zuge des allgemeinen gesellschaftlichen Aufbruchs eine Liberalisierung eintrat. Dem Autor gelingt es auch, Widerstandslegenden aus dem Kreis der Mitarbeitendenschaft des Stadtgesundheitsamts infrage zu stellen. So weist er nach, dass die städtische Akte zu Einweisungen in die „Kinderfachabteilung“ Eichberg, eine Tötungseinrichtung im Rahmen der sogenannten „Kindereuthanasie“, unvollständig ist und möglicherweise „bei Kriegsende oder in der frühen Nachkriegszeit von belastenden Dokumenten gesäubert“ worden sein könnte. „Eine größer angelegte Boykottierung der Kindereinweisungen sowie ein Netzwerk von Eingeweihten“ erscheint ihm nach Auswertung der verfügbaren Unterlagen als „wenig wahrscheinlich“ (S. 281).

Ein zusätzlicher Pluspunkt der Studie ist die Vielzahl und die Vielfalt der ausgewerteten Archivalien. Unter anderem im Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden und im Archiv des Landeswohlfahrtsverbands Hessen hat Kolata Archivgut in großem Umfang eingesehen und teilweise auch zu statistischen Auswertungen verwendet. Zu den genutzten Quellengattungen zählen Sachakten der Verwaltung, Personalakten der Behörden sowie personenbezogene Fallakten zu Betroffenen der Fürsorge- und Verfolgungsmaßnahmen. Da Berichte von betroffenen Zeitzeugen oder Zeitzeuginnen äußerst rar sind, kann die Beschreibung der Schicksale – zumindest soweit diese in den Akten sichtbar werden – wenigstens einen gewissen Ersatz darstellen, auch wenn natürlich die Degradierung der Betroffenen zu Objekten der behördlichen Maßnahmen nicht zu übersehen ist. Kleinere Schwächen finden sich allenfalls im Detail, etwa vereinzelt bei der Titulierung von Personen oder der Benennung von Institutionen. Der Münsteraner Bischof Graf von Galen wird unzutreffend als „Erzbischof“ bezeichnet (S. 285), der Wiesbadener Landesrat und Anstaltsdezernent Bernotat unrichtig als „Oberpräsident“ (S. 292). Der Bezirksverband Nassau (Träger der Landesheilanstalten im Regierungsbezirk Wiesbaden) wird an einer Stelle fälschlich als „Bezirksverband Hessen-Nassau“ benannt (S. 287), an anderen Stellen als „Bezirksfürsorgeverband [Nassau]“ (S. 23, S. 288), obwohl die Funktion des Bezirksfürsorgeverbands (des Kostenträgers der Anstaltsunterbringung) tatsächlich von Landkreisen und kreisfreien Städten wie Frankfurt selbst wahrgenommen wurde.

Jens Kolatas Arbeit zur öffentlichen Gesundheitsfürsorge in Frankfurt am Main zeigt eindringlich, wie schnell und fast übergangslos eine Verwaltung von einem demokratischen System zu einem verbrecherischen System umgestellt werden konnte – und wie schleppend anschließend der Abbau der repressiven Strukturen vonstattenging. Die Studie liefert damit einen wichtigen Beitrag zur Erforschung sowohl des kommunalen Gesundheitswesens als auch von Kontinuitäten und Brüchen im 20. Jahrhundert.

Anmerkungen:
1 Thomas Bauer / Heike Drummer / Leoni Krämer (Hrsg.), Vom „stede arzt“ zum Stadtgesundheitsamt. Die Geschichte des öffentlichen Gesundheitswesens in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1992.
2 Sabine Börchers, Aufklärung – Vorsorge – Schutz. 100 Jahre Gesundheitsamt der Stadt Frankfurt, Frankfurt am Main 2017.

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