W.-R. Wagner: Die Beschleunigung der Schrift

Cover
Titel
Die Beschleunigung der Schrift. Geschichte der Stenografie im 19. und frühen 20. Jahrhundert


Autor(en)
Wagner, Wolf-Rüdiger
Reihe
Edition Medienwissenschaft
Anzahl Seiten
253 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Wolschner, Zentrum für Medien- Kommunikations- und Informationsforschung (ZeMKI), Universität Bremen

Geschichte wird gewöhnlich von den Siegern geschrieben. Das gilt auch für die Mediengeschichte. In einer Zeit, in der jedes Smartphone als Diktiergerät genutzt werden kann, müssen die Bemühungen des 19. und 20. Jahrhunderts um eine „Redeschrift“ wie Erinnerungen aus einer versunkenen Welt von gestern erscheinen. Wolf-Rüdiger Wagner (geboren 1943), der als Medienpädagoge in der Lehrerfortbildung und in Modellversuchen zur Einführung der Neuen Technologien in Schulen arbeitete, hat die Debatten über die Stenografie unter dem Titel „Die Beschleunigung der Schrift“ zusammengetragen, erschienen 2024 im Bielefelder transcript-Verlag. Der Titel ist etwas irreführend, denn die Versuche, die Schrift zu „beschleunigen“, sind im Wesentlichen gescheitert. Die Stenografie hat sich an den Schulen nicht durchgesetzt, auch nicht in den Zeiten, als noch niemand von einer Diktier-App auf dem Smartphone träumen konnte. Wagner zeichnet die großen Hoffnungen nach, mit denen im technikbegeisterten 19. Jahrhundert die Stenografie zur „Bundesgenossin von Dampf und Elektrizität“ stilisiert wurde. Seine Quellen sind vor allem die Texte von Lobbyisten der Stenografen sowie Zeitungsberichte.

Die Tradition stenografischer Schreib-Systeme seit der Antike, die in älteren Büchern über die Geschichte der Stenografie ausgiebig referiert wird, übergeht Wagner, ebenso die englische Vorgeschichte seit Timothy Brights „Zeichenkunst“ (Characterie) von 1588. Die „Lebendige Kurzschriftgeschichte“1 von Franz Moser und Karl Erbach berichtet von mindestens zwei Dutzend Kurzschrift-Tüftlern seit dem späten 17. Jahrhundert, deren unterschiedliche Ansätze einen Vergleich wert wären. In Wagners Literaturliste taucht das Buch von Moser und Erbach nicht auf.

Die Idee einer „Schnellschrift“ war offenbar verbreitet. Der badische Erfinder Baron Karl Freiherr von Drais (1785–1851), von Beruf Forstbeamter, machte sich als Tüftler 1812 einen Namen mit einer „Notenschriftmaschine“, mit der man beim Klavierspielen die Noten aufschreiben könne. 1831 suchte er in einer britischen Wissenschaftszeitschrift nach einem Partner, um ein Patent für eine von ihm erfundene „Schnellschreibmaschine“ anzumelden. Das Frankfurter „Morgenblatt für gebildete Stände“ war von einer Vorstellung der Maschine offenbar nicht überzeugt – sie könne sich „vornehmlich bei Blinden bewähren“, hieß es da, oder sei „Personen, die undeutliche Handschriften schreiben, sehr zu empfehlen“ (zitiert nach S. 42).

Wagners „Geschichte der Stenografie im 19. und frühen 20. Jahrhundert“ steigt gleich ein mit Franz Xaver Gabelsberger, dem 1789 in München geborenen „Vater der deutschen Stenographie“ (S. 9). Der Handwerkersohn, dem ein Studium aus finanziellen Gründen verwehrt war, wurde Kanzlist im bayerischem Staatsdienst und befasste sich angeregt durch die Arbeit in der Kanzlei, aber durchaus aus „Vergnügen in Mußestunden“, mit der Idee einer Schnellschrift. Als 1819 in Bayern die erste Ständeversammlung einberufen wurde, fand seine „Redezeichenkunst“ eine praktische Anwendung – sie blieb aber, so Wagner, ein „Kind der Politik“ (S. 9). Das Kurzschrift-System von Gabelsberger war als Zeichenschrift für Protokollanten entworfen – der Protokollant konnte kurz nach der Rede mit Hilfe seines Gedächtnisses aus den stenografischen Kurzzeichen ein für alle lesbares Redeprotokoll erstellen. 1834 erschien Gabelsbergers „Anleitung zur deutschen Redezeichenkunst oder Stenographie“ als Buch – bei der Aufzeichnung parlamentarischer Verhandlungen hatte sich sein stenografisches System bewährt.

Der Schumacher-Sohn Heinrich August Wilhelm Stolze beschäftigte sich in derselben Zeit privat mit der Idee einer Kurzschrift. Auch er hatte aus Geldnot nicht studieren können und verdiente seinen Lebensunterhalt als Angestellter der Berliner Feuerversicherungsgesellschaft. Schon knapp 10 Jahre nach Gabelsbergers Buch erschien Stolzes „Theoretisch-practisches Lehrbuch der deutschen Stenographie“ (1841). Im Unterschied zu Gabelsbergers „Redeschrift“ hatte Stolze eine Kurzschrift entwickelt, die nicht als Erinnerungshilfe für die persönliche Aufzeichnung der Stenografen gedacht war, sondern eine allgemeine „Verkehrsschrift“ sein sollte, also zuverlässig und gut lesbar auch für andere Personen als den Schreiber selbst. Stolze hatte alle diejenigen im Auge, „die durch ihren Beruf genötigt sind, viel mit der Feder zu arbeiten“, so Kurt Schmidt 1902 (zitiert nach S. 10), sein stenografisches System musste daher komplizierter sein als das von Gabelsberger. Während Gabelsbergers Schrift vor allem im süddeutschen Raum Verbreitung fand und weiterentwickelt wurde, bevorzugte man in Preußen eher das anspruchsvollere und präzisere Verfahren von Stolze.

Die Unterschiede zwischen den stenografischen Schulen von Gabelsberger und Stolze schienen lange unüberbrückbar. Am Ende des 19. Jahrhunderts stritten in Deutschland mehr als 3.000 unterschiedliche Stenografenvereine mit über 80.000 Mitgliedern um das richtige Stenografie-System. Sie konnten untereinander nicht lesen, was in „gegnerischen“ Vereinen geschrieben wurde – zu unterschiedlich waren die Kurzschrift-Systeme. So traten 1906 die Stenografenverbände an die deutsche Reichsregierung mit der Aufforderung heran, zu vermitteln. Erst nach 18 Jahren, 1924, gab es dann eine Entscheidung über die Einführung der „Deutschen Einheitskurzschrift“. Wagner sieht darin bestätigt, dass die Stenografie für die Reichsregierung einen „hohen Wert“ hatte. Man könnte daraus aber auch schließen, dass die Vereinheitlichung nicht als vordringlich angesehen wurde.

Wagner zitiert vor allem Zeitungsberichte, um nachzuzeichnen, wie die Stenografie in zeitgenössischen Äußerungen bewertet wurde. Die Leipziger „Illustrirte Zeitung“ etwa prognostizierte 1852 sehr euphorisch den Siegeszug der Stenografie sogar im Hinblick auf den „Gedankenfluss des speculativen Philosophen“: „Unser Jahrhundert, welches das Motto ›Zeit ist Geld‹ mit tiefen Zügen an der ehernen Stirne trägt, verlangt gebieterisch eine zweckmäßige Umwandlung der schwerfälligen, eckigen, mühsamen und zeitraubenden Currentschrift in eine leichtere, schreibflüchtigere, in wenig Zügen Vieles prägnant ausdrückende Zeichensprache, welche dem Gedankenfluss des speculativen Philosophen, wie des speculirenden Geschäftsmannes nachzueilen und den Ideen des auf neue Erfindungen sinnenden Technikers, kaum gedacht, Form und Gestalt zu leihen vermag“ (zitiert nach S. 12).

In Gabelsbergers „Anleitung zur deutschen Redezeichenkunst“ findet sich auch der Hinweis, dass die an den Lauten orientierte „stenographische Schrift“ den Zugang zu fremden, noch nicht verschriftlichten Sprachen erleichtern könnte: „Entwickelt die stenographische Schrift die Eigenschaft, dass die Worte mittels derselben rein nach dem Sprachklange, gleichsam musikalisch für das Auge reproduziert werden können, so dürfte dieselbe einem Reisenden unter einem Volke, dessen Sprache er nicht versteht, die er erst erlernen sollte, und wofür vielleicht noch gar keine Grammatik existirt, von ganz ausserordentlichem Nutzen werden.“ (zitiert nach S. 52).

Der Germanist Adolf Bacmeister (1827–1873), begeistert von der neuen Technik der Telegrafie, machte 1870 gleich einen kostensparenden Vorschlag, Nachrichten mit „Stenotelegraphie“ zu verbreiten. Für ihn war zudem die teure Telegrafie, die die Kosten pro Zeichen berechnete, ein Anlass, die deutsche Orthografie insgesamt zu entrümpeln. Die Initialen seien von den Telegrafen schon gestrichen worden, warum nicht ebenso bei den Großbuchstaben am Wortanfang verfahren werde oder bei den Dehnungsbuchstaben? Warum ein zweifaches „ee“ oder „oo“? Warum „Muth“ und nicht „Mut“ wie Blut? Telegrafisch ganz überflüssig seien das „ph“ und das „y“, und so weiter. Teilweise sind solche Reformvorschläge in den Rechtschreibreformen verwirklicht worden, aber bei weitem nicht alle. Auch Bacmeisters Idee der „Stenotelegrafie“ gehört zu den Verlierern der Mediengeschichte.

Die Frage, warum sich die Kurzschrift, die ja „Zeit und Geld“ zu sparen versprach, auch nach der obrigkeitsstaatlichen Einigung nicht mehr durchsetzte, stellt Wagner nicht. Möglicherweise ist das alte Alphabet doch eine geniale Erfindung gewesen, um Wortlaute grafisch und eindeutig wiederzugeben. Möglicherweise sind die Kurzschrift-Zeichen nicht eindeutig genug, möglicherweise erfordern die Systeme der Kurzschrift doch alle mehr Präzision als von einem gewöhnlichen Schreiber erwartet werden kann. Dazu müsste man Lehrer der Stenografie befragen. „Jeder dritte westdeutsche Berufsschüler scheitert derzeit bei der Handelskammerprüfung – wegen mangelnder Leistung in Stenographie“, wusste der Spiegel 1966 zu berichten.2 Und der erbitterte Streit um eine bessere Kurzschrift endete keineswegs, wie Wagner suggeriert, mit der Entscheidung der Reichsregierung von 1924, sondern ging munter weiter. Die Bundesrepublik einigte sich mit Österreich in der „Wiener Urkunde“ 1968 auf eine Reform der Kurzschrift-Normen. Die DDR war an der Vorbereitung nicht beteiligt und entwickelte daher 1970 ihre eigene, modernisierte „Deutsche Stenografie“ mit den drei Stufen „Notizschrift“, „Diktatschrift“ und „Redeschrift“.

Die Klagen über schlechte Handschrift zeigen jedenfalls, wie menschlich dieses flexible Medium der Schreibschrift ist, mit der die 40 Phoneme der deutschen Sprache in rund 30 Grapheme übertragen werden können. Und möglicherweise wollen Philosophen, Kaufleute und Techniker ihre Überlegungen auch gar nicht beschleunigt fixieren, sondern in aller Ruhe abwägen, um sie dann sehr präzise und unmissverständlich niederzuschreiben – eine schnelle, flüchtige Schnellschrift wäre das allerletzte, was ihrem Gedankengang angemessen wäre. Und möglicherweise wollen auch normale Zuhörer in einem Vortrag mitdenken und sich das Wesentliche notieren, anstatt sich auf eine schnelle vollständige Mitschrift zu konzentrieren.

Das insgesamt recht unterhaltsame Material, das Wagner ausbreitet, enthält keine Hinweise auf derart kritische Fragen. Wenn er am Ende „Parallelen“ sieht „zwischen den Forderungen nach Einführung einer Einheitskurzschrift im 19. bzw. im beginnenden 20. Jahrhundert und den Erwartungen, die heute mit einer ‚Digitalstrategie‘ verbunden werden“ (S. 233), fragt sich, wo diese Parallelen liegen sollen. Parallelen gibt es sicherlich bei den von ihm herangezogenen optimistischen Prognosen der Kurzschrift-Lobby und den entsprechenden Verkündungen der Digitalisierung. Die Digitalisierung kann jedoch nach 30 Jahren auf ihre großen Erfolge verweisen. Die neueste „Erfindung“, die sich vermutlich kaum durchsetzen wird, ist der „Stenogenerator“, ein Computerprogramm, das stenografische Zeichen in Normalschrift umwandelt.

Wer erfahren will, wie die Stenografie in der Öffentlichkeit im 19. und 20. Jahrhundert wahrgenommen wurde, erfährt aus dem Buch von Wagner viele Einzelheiten. Andere – meist ältere Texte – über die Stenografie konzentrieren sich auf die Beschreibung der Unterschiedlichkeit der Schrift-Normen. Und in Überblicken über die Mediengeschichte kommt die Stenografie schlicht überhaupt nicht vor.3 Das Buch füllt so eine Lücke in der Mediengeschichte.

Anmerkungen:
1 Franz Moser / Karl Erbach, Lebendige Kurzschriftgeschichte. Ein Führer durch Kurzschriftlehre und Kurzschriftgeschichte. 8., neubearb. Aufl., Darmstadt 1979 (1. Aufl. 1939).
2 Kurzschrift: Kampf um Krakel, in: Der Spiegel 45/1966, 30.10.1966, S. 174–176, https://www.spiegel.de/kultur/kampf-um-krakel-a-34768cfb-0002-0001-0000-000046414983 (17.06.2024).
3 Vgl. Frank Bösch, Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck zum Computer, 2., überarb. Aufl., Frankfurt am Main 2019 (1. Aufl. 2011).

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