S. Yersin: Willi Gautschi et la Grève générale de 1918

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Titel
Willi Gautschi et la Grève générale de 1918. Un historien et son oeuvre en contexte


Autor(en)
Yersin, Séveric
Erschienen
Lausanne 2023: Editions Antipodes
Anzahl Seiten
232 S.
Preis
CHF 29,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Brigitte Studer, Universität Bern

Während Jahrzehnten wirkte der Schweizer Generalstreik, auch Landesstreik genannt, vom November 1918 mit seinen geschätzten 250.000 Beteiligten, die 100.000 Soldaten gegenüberstanden, den drei erschossenen jungen Arbeitern, dem von einer verlorenen Kugel getöteten Soldaten und den rund 1800 Grippetoten innerhalb der Schweizer Armee wie ein Phantomschmerz im helvetischen politischen Raum nach. Die heftigste innenpolitische Krise des modernen Bundesstaats repräsentierte lange für die Rechte einen verhinderten bolschewistischen Revolutionsversuch, für die Linke die schmähliche Niederlage ihrer größten politischen Aktion, deren Forderungen sie zwar weiterhin verteidigte, deren Form sie im Nachhinein aber ablehnte. Trotz des zeitlichen Abstands und der mittlerweile emotionalen Distanzierung von diesem sozialen Ereignis, scheint es politisch nicht völlig erkaltet. Noch im November 2018 wärmte Christoph Blocher, die éminence grise der rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP), das bürgerliche Erinnerungsnarrativ wieder auf, das bereits im Vorfeld der Ereignisse entstanden war und den Streik – trotz zahlreicher Nuancen – im Kern auf ein bolschewistisches Komplott, angeleitet durch ausländische Drahtzieher, reduzierte.1 Demgegenüber fristete die endogene Sichtweise der Arbeiterbewegung, die den Streik als Reaktion auf die Verschlechterung der materiellen Lage der erwerbstätigen Bevölkerung im Krieg betrachtete, ein Schattendasein. Wann und wie die Historisierung des Streiks einsetzte, analysiert nun Séveric Yersins Buch, das den Aargauer Willi Gautschi ins Zentrum stellt, dem hierzu der entscheidende Impuls zu verdanken ist.

Willi Gautschi war der erste Historiker, der quellenbasiert am Thema arbeitete. 1955 publizierte er seine Zürcher Dissertation „Das Oltener Aktionskomitee und der Landes-Generalstreik von 1918“. Bekannter, ja zu einem Standardwerk geworden ist allerdings seine folgende Studie „Der Landesstreik 1918“, die er 1968 zum fünfzigsten Jahrestag veröffentlichte. 1971 folgte ein Dokumentenband zum Streik, 1973 dann ein Essay zu „Lenin als Emigrant in der Schweiz“, 1978 ein Band zur Geschichte des Kantons Aargau und 1989 schließlich eine umfangreiche Biografie von General Henri Guisan, wohlwollend, aber nicht unkritisch. Die Person Gautschi blieb allerdings bisher hinter dem Werk zurück. Séveric Yersins fundierte Untersuchung ist daher ein willkommener Beitrag zu einer historischen Disziplin- und Intellektuellengeschichte der Deutschschweiz. Vertieft und akribisch hat er sich in seiner überarbeiteten, an der Universität Lausanne eingereichten Masterarbeit mit diesem Historiker von „nationalem Format“ (S. 211) auseinandergesetzt. Wie kommt es, dass der früh verwaiste Sohn einer protestantischen Bauernfamilie, Offizier der Aktivdienstgeneration und bürgerlichen Parteien nahestehende Badener Bezirkslehrer sich mitten im Kalten Krieg für ein derartig explosives Thema interessierte und schließlich ein bedeutendes geschichtswissenschaftliches Oeuvre zu Schlüsselmomenten und -personen der Schweizer Vergangenheit vorweisen konnte?

Als Quellen dienten Yersin in erster Linie die historischen Arbeiten Gautschis, nicht nur seine Monografien, sondern auch die Aufsätze. Daneben hat er den Nachlass Gautschis im Aargauer Kantonsarchiv sowie die betreffenden Zürcher Universitäts-, Rektorats- und Kantonsbestände konsultiert und sämtlich mögliche Rezensionen der Werke erschlossen. Nicht zuletzt konnte er mit Eva Gautschi, Willi Gautschis Tochter, sprechen. Die Frage, weshalb Gautschi, der weder biografisch noch kulturell Bezug zur Arbeiterbewegung hatte, dieses Dissertationsthema wählte und bei Leonhard von Muralt, einem ausgewiesenen Reformationsspezialisten, verteidigte, kann Yersin mangels entsprechender Quellen zwar nicht schlüssig beantworten. Mit seiner Analyse, die Werk und Biografie verflicht, gelingt es ihm jedoch, den Möglichkeitsbedingungen für neue wissenschaftliche Sichtweisen näherzukommen.

Die Darstellung beginnt mit einer Periodisierung der Etablierung der bürgerlichen Interpretation des Generalstreiks ab 1918 in vier Phasen – eine Interpretation, die von der frühen Schweizer Historiographie (Ernst Schenker, Eduard Fueter und vor allem Jacob Ruchti) fast ohne Nuancen erschreckend unkritisch übernommen wurde. Als leicht abweichend bezeichnet Yersin hingegen die 1953 erschienenen Memoiren des früheren freisinnigen Parteisekretärs Ernst Steinmann, der – ohne Historiker zu sein – wohl am verfehlten Putsch festhielt, indessen die mangelnde soziale Prävention der Herrschenden als Ursache identifizierte.

Laut Yersin hat diese Sichtweise Gautschis Dissertation stark geprägt. In Kapitel 2 analysiert er nicht nur deren Stärken, sondern auch Schwächen. In erster Linie ist dies die Tatsache, dass dem Historiker das Schweizerische Bundesarchiv und somit die behördliche Perspektive, die ihn eigentlich interessierte, versperrt blieb. Dank Robert Grimm, eine der prominenten Figuren des Streiks, erhielt er aber stattdessen Zugang zu den Beständen der Sozialdemokratischen Partei (SP) und des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds (SGB). Quellencorpora, die Gautschi die Perspektive des Oltener Aktionskomitees eröffneten und ihn dazu führten, die Revolutionsthese (im Sinne eines geplanten Staatsstreichs) abzulehnen. Indem er den Streik erstmals als ergebnisoffenes Ereignis analysierte, initiierte er einen Bruch mit der dominanten historiographischen Tradition. Neu, zumindest in der Geschichtswissenschaft, war ferner, dass er die materiellen Bedingungen der Arbeiterschaft als Erklärungsfaktor mobilisierte. Darüber hinaus blieb Gautschi der traditionell bürgerlichen Sichtweise treu. Er bezeichnete den Generalstreik als unschweizerisches, ja illegitimes politisches Instrument.

Diesen Interpretationsrahmen behielt er auch in seinem Standardwerk von 1968 bei, dessen Genese und Erkenntnisse Yersin in Kapitel 3 untersucht. Dank der Unterstützung seines früheren Doktorvaters Leonhard von Muralt, des damaligen Bundesarchivars Leonhard Haas und nicht zuletzt des zuständigen sozialdemokratischen Bundesrats Peter Tschudi erhielt er nun auch vor Ablauf der offiziellen Schutzfrist (damals noch «Sperrfrist» genannt) Zugang zu den behördlichen Akten im Bundesarchiv. Das führte dazu, wie Yersin in seinem detaillierten Vergleich der beiden Werke anführt, dass Gautschi nun auch die treibende Rolle des Generalstabs der Armee und da insbesondere diejenige des Generals Ulrich Wille analysierte, während er in der Dissertation noch in Robert Grimm den Motor des Konflikts gesehen hatte.

In Kapitel 4 wird die Rezeption von Gautschis Standardwerk und parallel dazu diejenige des etwa gleichzeitig erschienenen Buchs von Paul Schmid-Ammann „Die Wahrheit über den Generalstreik von 1918“ in den Blick genommen. Yersin kommt zum plausiblen Schluss, dass sich allmählich ein Konsens in Bezug auf die materiellen Ursachen des Streiks etablierte. Ein solches Ergebnis war in Zeiten der Sozialpartnerschaft sowohl für die bürgerliche Seite wie für die Gewerkschaften akzeptabel. Sprechend für die immer noch konditionale politische Integration der Linken war aber auch, dass weder die Legitimität der militärischen Intervention noch die Rolle der politischen Behörden infrage gestellt wurden. Auffällig ist ferner die ambivalente Reaktion der Gewerkschaften, die das Jubiläum von 1968 am liebsten totgeschwiegen hätten. Streik als politisches Kampfmittel galt ihnen als nicht mehr opportun. Lieber feierten sie den Arbeitsfrieden. In Anbetracht dessen, dass aber nicht nur Gautschis Studie im Raum stand, sondern auch die von ihnen in Auftrag gegebene radikalere Schmid-Ammanns, mussten sie wohl oder übel diesen „douloureux anniversaire“, wie es SGB-Sekretär Jean Möri formulierte, begehen.

Das letzte Kapitel, das sich mit Gautschis späteren Werken, aber vor allem mit seiner akademischen Karriere befasst, wartet mit einem wissenschafts- und universitätsgeschichtlich bemerkenswerten Fund auf: Die Universität Zürich, an der Gautschi seit 1971 als Lehrbeauftragter tätig war, verweigerte ihm im Anschluss an seinen Habilitationsvortrag überraschend die venia legendi. Dies führte zu einem Kräftemessen zwischen dem autoritären Regierungsrat Alfred Gilgen an der Spitze des Erziehungsdepartements, der Gautschi wohl aus eigenmächtigen Gründen unterstützte, und der philosophischen Fakultät, wobei sich letztere schließlich behaupten konnte. Wenn die Kritik am Habilitationsvortrag anscheinend berechtigt war, betrachtet Yersin sie dennoch als Vorwand und fragt sich, weshalb ein akademisch anerkannter und öffentlich angesehener Historiker so plötzlich von einer akademischen Position ausgeschlossen wurde. Auf der Basis der beteiligten Akteure und ihrer wissenschaftlichen Positionen kommt er zu einem nicht unplausiblen feldtheoretischen Schluss: Mit seinen Themen sei Gautschi in die damalige professorale Auseinandersetzung zwischen der alten Garde des Historismus (vertreten durch Hans-Conrad Peyer) und den aufkommenden Sozialhistorikern (vertreten durch Carsten Goehrke) um Machtpositionen im Historischen Seminar geraten. Gautschis Zulassung hätte Letztere gestärkt, was Erstere zu verhindern wussten.

Yersins Ansatz, die Werkanalyse in den Kontext ihrer biografischen und akademischen Produktionsbedingungen zu stellen, erweist sich als überaus ergiebig. So können nicht nur Gautschis Deutungen und Erkenntnisse nachverfolgt werden, sondern auch die Rolle seiner materiellen und sozialen Arbeitsbedingungen wie Stipendien, Freistellungen vom Unterricht, Förderung durch Autoritätspersonen und nicht zuletzt die Vorteile einer traditionellen Geschlechterordnung. Es war nämlich seine Frau Alice Gautschi, die Gautschis Texte abtippte und Notizen ordnete – wie so oft, eine öffentlich nie anerkannte Unterstützung! Sprachlich hätte der Text leichtfüßiger daherkommen können. Inhaltlich ist der Erkenntnisgewinn groß. Ein umfangreiches souveränes Vorwort von Malik Mazburi zum weiteren Kontext ergänzt Yersins Text, bringt aber auch Wiederholungen.

Anmerkung:
1 Ausführlich dazu Daniel Artho, «Schandfleck» oder «Ruhmesblatt»? Der schweizerische Landesstreik in der Erinnerungskultur, 1918–1968, Zürich 2024.

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