Das Diktum, Geschichte werde von den Siegern geschrieben, wird unterschiedlichen Persönlichkeiten in den Mund gelegt. Im übertragenen Sinne wird damit ausgedrückt, dass die historische Überlieferung von den Gewinnern aufgezeichnet und damit auch geschaffen wird. Ein weiteres Postulat, dieses Mal klar Reinhart Koselleck zuzuschreiben, lautet, dass von den Besiegten weitreichendere Einsichten in die Geschichte stammen würden.1 Dies sind die zentralen Annahmen, die im Rahmen der Beiträge überprüft werden, wobei schon auf den ersten Blick erkennbar ist, dass die Verlierer keinesfalls immer geschwiegen, sondern durchaus ihre eigenen Geschichten gestaltet haben.
Der von Manuel Kamenzin und Simon Lenzsch herausgegebene Band beinhaltet neben Einleitung und Ausblick 15 Beiträge, von denen sieben die Zeit vom klassischen Athen bis in die Spätantike behandeln und acht weitere das Mittelalter, wobei hier Hoch- und Spätmittelalter im Fokus stehen. Aus althistorischer Sicht ist es verwunderlich, dass keine der prominenten Niederlagen Roms beispielsweise gegen Kimbern und Teutonen oder Arminius detailliert thematisiert werden. Diese Lücke wird allerdings zum Teil durch den umfangreichen Artikel von Oliver Stoll gefüllt.
In der Einleitung wird auf aktuelle Krisen Bezug genommen und der Vorteil der Betrachtung antiker und mittelalterlicher Geschehnisse betont. Aufgrund der historischen Distanz seien weitgehend wertungsfreie Analysen ohne politische Implikationen möglich. Der Aussage, in jeder Schlacht und in jedem Krieg wird letztendlich eine Seite verlieren (S. 14), würden sich eventuell nicht alle Leserinnen und Leser anschließen. Es ließen sich sicher Fälle aufzählen, in denen sich ein Patt ergab und verstetigte. Auch ist die Niederlage in einer Schlacht nicht mit der im Krieg gleichzusetzen. Die Schlachten gegen Hannibal verlor Rom, gewann aber den Krieg. Diese Punkte hätten noch sorgfältiger dargelegt werden können, was allerdings an der Aussagekraft der Beiträge nichts geändert hätte. Nach einer Kritik an einigen Aussagen Reinhart Kosellecks folgt eine ausführliche Besprechung der relevanten Literatur, die zu weiteren Recherchen zu diesem innovativen Thema einlädt.
Teil eins über „(Forschungs)Perspektiven auf Niederlagen“ beginnt mit zwei Artikeln über Athen im Peloponnesischen Krieg. Christian Wendt analysiert die Beschreibung der Sizilienexpedition durch Thukydides. Er bezieht den dauernden Nutzen, den der antike Autor mit seinem Werk zu erzielen hofft, auf die schwere Niederlage vor Syrakus. Ein nicht nur militärisch-strategisches, sondern allumfassendes Kollektivversagen habe in die Niederlage geführt. Christoph Degelmann betrachtet am Beispiel der Niederlage Athens im Krieg die Entstehung und Verbreitung von Gerüchten im klassischen Griechenland. Die Nachricht sei in der Stadt eingetroffen und habe die Runde gemacht, bevor es eine offizielle Bestätigung gegeben habe. Die antiken Autoren gingen damit auf unterschiedliche Weise um. Es stellt sich heraus, dass das moderne Gerücht sich vom antiken Phänomen unterschied. Martin Clauss betrachtet die Überlieferung zur Schlacht von Mühlendorf von 1322. Es wurde versucht, den Verlierer König Friedrich von der Schuld an der Niederlage freizusprechen, ihn zu überhöhen und stattdessen anderen die Verantwortung zuzuschieben. Die Entscheidungsgründe für das Eingehen auf die Schlacht und den verfrühten Beginn werden rationalisiert, während zugleich die Leistungen Ludwigs und der Wittelsbacher heruntergespielt werden. Es folgt Helen Wiedmaier mit einer Analyse der Konstruktion von Männern als Besiegte im 14. Jahrhundert. Dafür werden die Berichte über vier Schlachten nacheinander vorgestellt und die Darstellungen verglichen. Die Niederlage war per se nicht ehrenrührig, Verlierer konnten dennoch vorbildhaft agieren. Vor allem die Flucht vom Schlachtfeld wird als unehrenhaft angesehen, exemplarisches Verhalten hervorgehoben.
Der zweite Teil über „Die unterlegene Gesellschaft“ ist mit neun Beiträgen am umfangreichsten. Den Anfang macht Julia Hoffmann-Salz über die Darstellung von Niederlagen im Krieg zwischen Seleukiden und Hasmonäern. Darin seien vier Motive der Hebräischen Bibel zu finden, wobei der Zorn Gottes mit fünf Mustern hervorzuheben ist. Simon Lentzsch stellt die Charakterisierung des Viriathus als Sieger über die Römer in den Kriegen in Spanien 147 bis 141 v. Chr. vor. Er trennt zwischen dem Charakter des Viriathus, der positiv und mit klassisch ruralen Hirteneigenschaften gezeichnet wird, seiner Rolle als verdienstvoller, gerechter Anführer und seiner Ermordung im Auftrag der Römer. Die positive Darstellung des Viriathus habe zur Herabsetzung der römischen Feldherren gedient. Meret Strothmann betrachtet die Niederlage des Maxentius und ihre Deutung durch das pagane Rom. Der Widersacher Konstantins hatte sich, wie schon sein Vater Maximian, beim römischen Volk unter anderem durch Baumaßnahmen beliebt gemacht. Dementsprechend konnte sich Konstantin nach seinem Sieg nicht einfach als Befreier in Szene setzen. Stattdessen okkupierte er die durch seinen Vorgänger besetzten Orte und verzichtete auf einen triumphalen Einzug in die Stadt. Die Niederlagen in Orosius‘ Historiographie sind das Thema von Sonja Ulrich. Dieser habe die Ansicht vertreten, dass es im Krieg nur Verlierer gebe und Krieg eine Strafe für die Sünden der Menschen sei. Frühere antike Autoren haben laut Orosius das Leid heruntergespielt. Seine Darstellung wandelt sich ab der Geburt Jesu Christi, nun dienten manche Konflikte der Ausbreitung des Christentums. Auch die Plünderung Roms durch Alarich mildert er in seinem Werk ab, da dieser seine Krieger zur Mäßigung angehalten und Kirchen geschont habe. Malte Prietzel untersucht, wie Erinnerungsgemeinschaften mit drei unterschiedlichen Niederlagen umgegangen sind. Sein Beitrag beschäftigt sich mit der Niederlage Karls des Großen in der Rolandschlacht von 778, der Niederlage Heinrichs II. von Schlesien gegen die Mongolen bei Wahlstadt 1241 und drei Niederlagen des Herzogs Karls des Kühnen bei Granson, Murten und Nancy 1476/77. In allen drei Fällen ging man anders mit den Geschehnissen um. Der ältere verklärte Bericht wurde nach einiger Zeit an die Realität angepasst, das tapfere Kämpfen wurde hervorgehoben und man fand unterschiedliche Strategien, um mit dem Versagen eines verehrten Herrschers umzugehen. Benjamin Müsegades beleuchtet Deutungs- und Bewältigungsstrategien der Markgrafen von Baden und der Grafen von Württemberg nach der Schlacht von Seckenheim 1462 in den Quellen bis ins frühe 16. Jahrhundert. Man versuchte, Erklärungen für das Ausbleiben des Sieges zu finden und dabei die Ehre des Besiegten zu wahren. Die Schuld wurde dafür unter anderem auf die Räte und Hofmeister und ihren schlechten Einfluss geschoben. Viele Maßnahmen im Umgang mit den Niederlagen waren sicherlich auch mündlich und symbolisch und seien daher nicht überliefert. Dirk Jäckel betrachtet arabische und syrische Klagelieder des 12. und 13. Jh. und stellt die Frage, ob die Niederlagen der lateinischen Christen auch von den Christen des Orients als Niederlagen empfunden wurden. Im Speziellen nimmt er ein Klagelied über die Eroberung von Tripolis 1289 sowie drei über die Eroberung Jerusalems unter die Lupe. Es zeigt sich, dass zumindest ein Teil der orientalischen Christenheit sich in einer Leidensgemeinschaft mit den lateinischen Christen sah. Christoph Mauntel widmet sich der englischen Perspektive auf die Eroberung Englands 1066 anhand der Angelsächsischen Chronik und dreier weiterer Quellen. In manchen Versionen der Chronik wird Harold Godwinson von jeglicher Verantwortung freigesprochen und stattdessen die Sündhaftigkeit des englischen Volkes betont. In ähnlicher Weise ist für William vom Malmesbury die Uneinigkeit der Engländer und ihre Tugendlosigkeit, für Henry von Huntingdon die Tüchtigkeit und Frömmigkeit der Normannen ursächlich. Nur John von Worcester weicht von diesem Muster ab. Laury Sarti betrachtet die Schlachten und Crécy und Azincourt. Beide Konfrontationen hatten vergleichbare Ausgangssituationen, Ablauf und Ergebnisse waren ebenfalls sehr ähnlich. Man habe es verpasst, aus der ersten Niederlage zu lernen. Auf französischer Seite machte man mitunter den Hochmut der Teilnehmer verantwortlich und sah den Ausgang als Strafe für die Sünden des Volkes an.
Im dritten Teil mit dem Titel „Der unterlegene Herrscher“ sind zwei Beiträge zu finden. Oliver Stoll untersucht, wie sich militärische Niederlagen auf römische Kaiser auswirkten. Sieghaftigkeit war ein zwingendes Kriterium für deren Akzeptanz, weshalb Niederlagen erklärt werden mussten. Unter Augustus, Nero, Domitian, Lucius Verus und Septimius Severus wurden Niederlagen auf Offiziere oder andere Umstände geschoben, sie wurden verdrängt oder stattdessen feierte man ostentativ andere teilweise fiktive Siege. Bei Gordian III., Philippus Arabs und Trebonius Gallus wurden die Niederlagen mitunter durch Ermordung des Kaisers erklärt oder durch sein Verschwinden, wie auch im Falle von Valerian. Im Fall von Diokletian und Galerius wurde ein Sieg inszeniert. Im letzten Beitrag analysiert Manuel Kamenzin die Darstellung der gescheiterten Belagerung Parmas durch Friedrich II. in 1247/8. Der Autor Mattheus Parisiensis sieht den Zorn Gottes am Werk, den der Kaiser erweckt habe, während sich die Belagerten zu ihren Sünden bekannt hätten. Salimbene de Adam fokussiert auf die Erbeutung der Krone als Herrschaftszeichen. Dies sei eine Demütigung des Kaisers gewesen, den er als Kirchenverfolger sah.
Den Abschluss macht ein sehr knapper Ausblick, in dem das eingangs erwähnte Postulat, von den Besiegten würden weitreichendere Einsichten in die Geschichte stammen, aufgegriffen wird. Dies sei offensichtlich nicht der Fall. Stattdessen würde man oft auf ähnliche Erklärungsmuster zurückgreifen, um die Niederlagen zu deuten oder zu rechtfertigen. Häufig wurden Niederlagen auf das Verhalten bestimmter Gruppen oder Einzelpersonen geschoben, es wurden zudem die Tugenden der Verlierer betont. Aus den Analysen resultierten oftmals auch keine Verhaltensänderungen. Praktische Gründe für eine Niederlage, wie größere Ressourcen, technische Entwicklungen oder militärische Taktiken spielten kaum eine Rolle. Die Herausgeber sind sich bewusst, dass Sie mit den Beiträgen nur einen Teil der Aspekte herausarbeiten konnten. Dies ist ihnen und den Autorinnen und Autoren allerdings sehr gut gelungen. Die Artikel geben die Vielfalt der Umgangsmethoden mit Niederlagen wieder, offenbaren aber zugleich die geringe Anzahl an Kernmotiven, auf die man dafür zurückgriff. Es bleibt zu hoffen, dass sich weitere Forscherinnen und Forscher mit dem Thema beschäftigen und die vorgelegten Erkenntnisse präzisieren und erweitern.
Anmerkung:
1 Reinhart Koselleck, Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Skizze [1988], in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt am Main 2003, S. 27–77.