Cover
Titel
Verhandeln statt Zeigen. Der dokumentarische Film und die Erinnerung an Holocaust und Nationalsozialismus


Autor(en)
Lachwitz, Götz
Reihe
Mediologie
Erschienen
Hamburg 2023: Avinus Verlag
Anzahl Seiten
411 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Steinle, Institut de recherche sur le cinéma et l'audiovisuel, Universität Sorbonne Nouvelle, Paris

In der Diskussion um die für dokumentarische Filme wesentliche Darstellung von (historischer) Wirklichkeit spielt die Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus (NS) und Judenvernichtung eine zentrale Rolle: Fragen der (Un-)Darstellbarkeit, der Beweiskraft von Bildern, des historisch richtigen und ästh-ethisch adäquaten Umgangs mit Täter-, Opfer- und Propagandabildern, aber auch mit fehlenden Bildern wurden und werden in diesem Kontext verhandelt sowie wissenschaftlich untersucht. Ausgangspunkt der Studie von Götz Lachwitz ist die Annahme, dass sich dokumentarische Filme, verstanden als „Medien der Erinnerung“, mit Verfahrensweisen von Gerichtsverhandlungen vergleichen lassen, etwa beim Einsatz von Zeugen, Archivdokumenten und Rekonstruktionen. Die ersten Prozesse gegen NS-Täter, die sich auch auf audiovisuelles Material stützten, bilden entsprechend den medialen Gedächtnisrahmen, aus dem dokumentarische Filme zum Thema bis heute ihr Material schöpfen und in den sie sich methodisch-diskursiv einschreiben.

Bei der Publikation handelt es sich um die Dissertation des Verfassers, die 2019 im Fach Medienwissenschaft an der Universität Hamburg angenommen wurde. Im zweiten Kapitel (nach einer kurzen Einleitung) rekapituliert Lachwitz erinnerungs- und gedächtnistheoretische Ansätze. Erinnerung fasst er als aktiven Prozess in der Gegenwart, durch den Gedächtnisinhalte bewusst werden. In der Studie geht es darum, anhand konkreter Medienangebote deren vielschichtige Wechselwirkungen und Funktionen im Diskurs um Erinnerung und Gedächtnis nachzuvollziehen. „Filmische Erinnerung lässt sich dann als der konstruktive Prozess des Vergangenheitsbezugs verstehen, der sich in der Struktur eines Films manifestiert.“ (S. 82) Praktiken dokumentarfilmischer Erinnerung präsentiert Lachwitz am Beispiel gängiger Formen „des unterhaltenden Geschichtsfernsehens“ (S. 101) seit den 1990er-Jahren, dessen methodische und inhaltliche Schwächen er zusammenfasst.

Das dritte Kapitel befasst sich mit „Dokumente[n] der Anklage“, welche die Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust in dokumentarischen Filmen von 1945 bis 1962 geformt haben. Einleitend beschreibt Lachwitz die Medialität des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses, der als Medienereignis geplant war.1 Während des Prozesses konnten bestimmte Momente gefilmt werden, und vor allem kamen verschiedene Medien zum Einsatz, darunter NS-Filme und für das Verfahren produzierte Dokumentationen. So lässt sich das Gerichtsverfahren auch als „Bildgebungsverfahren“ (S. 125) verstehen und hat in diesem Sinn die filmische Erinnerung geprägt. Der von der US-amerikanischen Militärregierung in Auftrag gegebene Dokumentarfilm „Nürnberg und seine Lehre“ (1947/48) sollte den Prozess erklären und öffentlichkeitswirksam fortführen.2 Obwohl die Breitenwirkung eher begrenzt war, geht Lachwitz auf diesen Film ausführlicher ein, da er charakteristische Darstellungsformen im Umgang mit Nationalsozialismus und Holocaust bündelt. Wenn „Nürnberg und seine Lehre“ auch nicht die Spezifik der Judenvernichtung erfasst, zeigt der Film doch Bilder, die als „Strategien der visuellen Verdichtung des Massenmordes“ (S. 135) paradigmatisch wurden. Lachwitz verdeutlicht, wie die Montage des Films die Schuld der Angeklagten unterstreicht und damit zugleich deren Dämonisierung fördert, was andere Tätergruppen und die Bevölkerung generell entlastet.

In der jungen Bundesrepublik bestand zunächst die Möglichkeit, bei Gerichtsverfahren mit bestimmten Einschränkungen zu filmen. Nach einem Überblick zu Prozessen im Beisein der Kamera konzentriert sich Lachwitz auf zwei Verfahren, von denen Filme erhalten geblieben sind, da sie die Bundeszentrale für Heimatdienst in ihren Katalog aufgenommen hatte. Bei „Der Prozess Huppenkothen“ (1958) handelt es sich um eine Aufzeichnung des Bayerischen Rundfunks vom Augsburger Prozess 1955 gegen die ehemaligen SS-Richter Walter Huppenkothen und Otto Thorbeck. Der Film gibt alle Phasen des Prozessverlaufs wieder, verzichtet auf Archivmaterial und räumt der Zeugenbefragung die Hälfte des Berichts ein. Eine weitere detaillierte Analyse beschäftigt sich mit dem Filmbericht des Nordwestdeutschen Rundfunks „Sorge-Schubert-Prozess“ über das Verfahren gegen die KZ-Aufseher Gustav Sorge und Wilhelm Schubert 1958/59, der nach der TV-Ausstrahlung unter dem Titel „KZ-Schergen“ (1959) vertrieben wurde. Im Film sind sechs Zeugenaussagen im Synchronton zu hören, was aufgrund der damaligen technischen Schwierigkeit, Ton lippensynchron aufzunehmen, bemerkenswert ist. Die Zeugen erfüllen eine Beglaubigungsfunktion in den frühen Prozessen. Darüber hinaus vermag die detaillierte Filmanalyse aufzuzeigen, wie über die Montage deren emotionale Belastung deutlich wird. Lachwitz demonstriert an dem Beispiel auch, wie durch die Dämonisierung der Angeklagten eine Entlastung der Öffentlichkeit erfolgt. Mit der Aufnahme der beiden Filme in den Katalog der Bundeszentrale für Heimatdienst fand zudem ein Statuswechsel statt – vom tagesaktuellen Bericht zum Dokumentarfilm. Beide Filme waren anfangs mit 100 Kopien im Einsatz und wurden bis in die 1980er-Jahre im Katalog geführt. Lachwitz sieht darin einen Beleg für das den Aufnahmen beigemessene Erinnerungs- und Gedächtnispotenzial. Mit dem Teil zur Medialität früher NS-Prozesse in der Bundesrepublik und den detaillierten Filmanalysen schließt der Verfasser eine Forschungslücke bezüglich des Nationalsozialismus im westdeutschen Fernsehen der 1950er-Jahre. Aufgrund fehlender Materialüberlieferung waren solche Sendungen bisher nur über Programmzeitschriften zu erfassen3, weswegen weitere Untersuchungen erst in den 1960er-Jahren einsetzen.4

Die zweite Hälfte des Kapitels widmet sich der Medialität des Eichmann-Prozesses und dessen Berichterstattung in der 36-teiligen NDR-Fernsehreihe „Eine Epoche vor Gericht“ (1961/62). Lachwitz legt das Hauptaugenmerk auf die Auswahl der Zeugenaussagen in der Reihe und zeichnet nach, wie die von Annette Wieviorka beschriebene „Entstehung des Zeugen“5 durch den Jerusalemer Eichmann-Prozess im westdeutschen Fernsehen begleitet sowie im Sinne der Strategie von Staatsanwalt Gideon Hausner, den Opfern eine Stimme zu verleihen, mitvollzogen wurde. Die Reihe antizipierte damit auch eine Verschiebung der Zeugnisfunktion – von der Beglaubigung der Fakten zur Affizierung des Publikums. Zur späteren Entwicklung bis hin zur spezifisch medialen Figur des „Zeitzeugen“ in Deutschland vermisst man allerdings weiterführende Reflexionen.

Mit der seit Anfang der 1960er-Jahre diskutierten und 1964 beschlossenen Modifikation des Gerichtsverfassungsgesetzes waren Film- und Tonaufnahmen in laufenden Verhandlungen verboten. Entsprechend gibt es seitdem kein dokumentarisches Filmmaterial mehr aus bundesdeutschen Verfahren. Zur Frage des Einsatzes von dokumentarischem Bildmaterial vor deutschen Gerichten hätte sich der Rezensent weitere Informationen erhofft. Dieser scheint relativ gering, sodass Lachwitz einen Sprung in die Zeit ab der Jahrtausendwende macht: Das vierte Kapitel beschäftigt sich beispielhaft mit drei dokumentarischen Filmen, die „innovative filmische postmemoriale Erinnerungspraktiken“ (S. 249) entwickeln und Perspektiven für zukünftige filmische Erinnerung nach dem Verschwinden der Zeuginnen und Zeugen eröffnen. Das inhaltliche Auswahlkriterium des Korpus ist die Verwendung von Material, das in den Nachkriegsprozessen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Besonders durch die Verwendung in Filmen wurde dieses Material (Filmaufnahmen, Fotos, Reden) zu „Monumenten negativer Erinnerung“, oder sogar die Filme selbst gerieten zu solchen. Dabei wird die Differenz zwischen ursprünglicher Intention und der im Lauf der Zeit etablierten Erinnerungsfunktion deutlich. Die israelisch-deutsche Produktion „Geheimsache Ghettofilm“ (ISR/D, 2010) von Yael Hersonski belegt dies am Beispiel der Aufnahmen von Goebbelsʼ Kameramännern aus dem Warschauer Ghetto, die Überlebenden im Kino vorgeführt und von diesen erklärt werden.

Auch der Film „Aufschub“ (2007) von Harun Farocki zeigt extensiv Aufnahmen eines Propagandaprojektes – hier aus dem nicht fertiggestellten Film über das Lager Westerbork. Das Filmdokument wurde in Gerichtsverfahren vorgeführt, wie im Prozess 1948/49 gegen den Lagerkommandanten Albert Gemmeker. Lieferte es auch keine direkten Beweise, so kann es laut Lachwitz „den Verbrechen ein Bild geben“ (S. 267) und ist zu einem visuellen Erinnerungsort im Sinne Pierre Noras geworden. Farocki hat das ohne Ton überlieferte Dokument stumm belassen und befragt in Zwischentiteln sowie über die Montage die Bilder als Palimpseste. Dabei hebt er performativ die Leerstellen im Archivmaterial hervor und reflektiert, wie die Geschichte der Bilder und das Wissen der Rezipierenden die Wahrnehmung bedingen. Romuald Karmakar bietet mit „Das Himmler-Projekt“ (2000) ein weiteres alternatives Verfahren filmischer Erinnerung an: Basierend auf der Tonaufnahme der Posener Rede Heinrich Himmlers vom 4. Oktober 1943 liest der Schauspieler Manfred Zapatka die komplette dreistündige Rede mit allen Zwischenvorkommnissen ab. Karmakars minimalistisches Verfahren verzichtet auf Kostüme, historische Kulissen oder Einfühlung in die historische Person. Lachwitz zeigt, dass der Himmler-Rede eine spezifische Medialität inhärent ist, und zeichnet die Verwendungsgeschichte der Posener Rede in Nachkriegsprozessen sowie Filmen nach. Zumeist wurden nur die dramatischsten Passagen wie diejenige zur Judenvernichtung zitiert, was eine einfache Distanzierung von den Tätern ermöglicht. Indem Karmakars Film aus der Gegenwart spricht, markiert er die Vergangenheit als nicht abgeschlossen und fordert das Publikum auf, sich zu verhalten.

Das Buch bietet einen guten Einblick in die bedeutende erinnerungskulturelle Funktion von dokumentarischen Filmen zum Holocaust und Nationalsozialismus. Die Analyse früher Gerichtsfilme des bundesdeutschen Fernsehens belegt die Rolle des Mediums Fernsehen als „Agentur der Erinnerungsarbeit“ (Knut Hickethier) und als Modernisierer mit dem Einzug neuer dokumentarischer Formen. Schlüssig legt Lachwitz dar, wie Gerichtsprozesse zu NS-Verbrechen als „eine Art übergeordnetes Archiv an Medienangeboten, Narrativen, Sichtweisen und Erinnerungspraktiken“ (S. 346) verstanden werden können. Ob aber von einer „Wechselwirkung“ (S. 21) zwischen frühen Prozessen und dokumentarischen Filmen in einem konzeptionellen Sinn zu sprechen ist, bleibt fraglich. Weitere mediale Gedächtnisrahmen, zumal populäre wie das kommerzielle Kino, müssten in die Überlegungen einbezogen werden. Insgesamt zeigt Götz Lachwitzʼ Studie überzeugend, dass beim medialen Einsatz historischer Dokumente deren Gedächtnisgeschichte – also die Entstehungs-, Verwendungs- und Wahrnehmungsgeschichte – mitgedacht werden muss.

Anmerkungen:
1 Siehe die ausführliche Darstellung in Sylvie Lindeperg, Nuremberg, la bataille des images. Des coulisses à la scène d’un procès-spectacle, Paris 2021.
2 Zur Auseinandersetzung zwischen den Alliierten um den Film und seine Genese siehe das Kapitel „Krieg der Drehbücher“ in Lindeperg, Nuremberg, S. 333–350.
3 Christoph Classen, Bilder der Vergangenheit. Die Zeit des Nationalsozialismus im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland 1955–1965, Köln 1999.
4 Siehe den – aufgrund der Sprachbarriere in Deutschland unzureichend wahrgenommenen – systematischen Vergleich der Darstellung der Schoa im westdeutschen und im französischen Fernsehen von Julie Maeck, Montrer la Shoah à la télévision. De 1960 à nos jours, Paris 2009.
5 Annette Wieviorka, Die Entstehung des Zeugen, in: Gary Smith (Hrsg.), Hannah Arendt Revisited. „Eichmann in Jerusalem“ und die Folgen, Frankfurt am Main 2000, S. 136–159.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch