I. Rebitschek u.a. (Hrsg.): Social Control under Stalin and Khrushchev

Cover
Titel
Social Control under Stalin and Khrushchev. The Phantom of a Well-Ordered State


Herausgeber
Rebitschek, Immo; Retish, Aaron B.
Erschienen
Anzahl Seiten
353 S.
Preis
€ 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kirsten Bönker, Nordost-Institut (IKGN e.V.) an der Universität Hamburg

Wie funktionierten Praktiken und Mechanismen sozialer Kontrolle in der Sowjetunion jenseits von Massenexekutionen, offener Gewalt und Repression? Dies ist eine spannende und relevante Frage, wenn auch die soziale Kontrolle kein neues Forschungsfeld in der sowjetischen Geschichte darstellt.1 Um dennoch neue Perspektiven zu eröffnen, definieren die beiden Herausgeber Immo Rebitschek und Aaron B. Retish – beides ausgewiesene Kenner stalinistischer Herrschaftspraktiken – soziale Kontrolle in einem umfänglichen Sinne als „complex set of processes and means used by institutions and individuals to establish norms of behaviour in a community and to penalize deviance from these norms“ (S. 5). Sie lehnen ein binäres Konzept von Staat und Gesellschaft ab und gehen davon aus, dass das Sowjetregime selbst unter Stalin kein monolithischer Staat gewesen sei, der eine uniforme Strategie zur sozialen Kontrolle der Menschen verfolgt habe. Im Gegenteil sei anzunehmen, dass die verschiedenen Akteurinnen und Akteure, die durch staatliche Organe kontrollierende Praktiken über die Gesellschaft ausübten, selbst unter den rigiden stalinistischen Kommunikationsbedingungen Schlupflöcher für eigensinniges Handeln fanden, dabei eigene Vorstellungen über die Steuerung der Gesellschaft aushandelten und zu implementieren versuchten (S. 3). Zudem seien auch für die Gesellschaft Aushandlungsmöglichkeiten entstanden, die die Herausgeber mit dem Konzept der „agency“ in den Blick nehmen wollen. Um die neuartigen Beziehungen und Aushandlungen zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Akteur:innen in ihren performativen Aspekten zu untersuchen, rekurrieren sie ebenfalls auf einen weiten Begriff von Handlungsmacht als „capacity of human beings to shape the circumstances in which they live“ (S. 4).

Mit diesem analytischen Bezugsrahmen rücken die elf Beiträge und die resümierende Betrachtung David Shearers in drei chronologisch angeordneten Abschnitten Praktiken der sozialen Kontrolle und Aushandlungsprozesse in den Blick. Der erste Teil ist den 1920er-/1930er-Jahren gewidmet. Aaron Retish zeigt, wie das stalinistische Regime mittellosen alleinerziehenden Frauen ermöglichte, Unterhalt einzuklagen und so die Mängel der sozialstaatlichen Absicherung auszugleichen. Allerdings sei es so weder gelungen, die häusliche Ausbeutung von Frauen zu beseitigen noch die Männer zu verantwortungsvollen Vätern zu erziehen. Samantha Lomb untersucht, wie lokale Behörden Strafsteuern einsetzten, um verbliebene Kleinbauern in die Kolchosen zu zwingen. Sie verdeutlicht den Konflikt zwischen der Moskauer Zentrale, die einen Integrationsansatz verfolgte, und den örtlichen Akteuren, die die widerständigen Einzelbauern als Klassenfeinde stigmatisierten und sie ausmerzen wollten. Das hier analysierte Fallbeispiel zeigt eindrucksvoll, dass der Anspruch, soziale Kontrolle auszuüben, zu erheblichen Spannungen zwischen dem Zentrum, das einen nicht offen repressiven Handlungsrahmen setzte, und den lokalen Praktikern führen konnte, die wiederholt auf Widerstand und Gewalt trafen. Damit stellte sich die Frage, inwiefern in bestimmten Kontexten wie dem sowjetischen Dorf soziale Kontrolle nicht doch vor allem mit Gewalt durchsetzbar war. Für den urbanen Raum beleuchtet Maria Starun, wie soziale Kontrolle in Betrieben ausgeübt werden sollte. Hier schufen Genossenschaftsgerichte und Gewerkschaften eigene Rechtsräume, in denen die Arbeiterinnen und Arbeiter Konflikte und ihre eigenen Interessen mit Blick unter anderem auf Arbeitsrechte und Disziplin zum Teil erfolgreich aushandeln konnten. Timothy K. Blauvelt erörtert anhand des Gerichtsverfahrens im Jahre 1957 gegen den früheren georgischen NKVD-Ermittler Sergo Davlianidze zum einen, wie aus „normalen“ Männern brutale Täter im Großen Terror werden konnten. Zum anderen zeigte das Verfahren gegen Davlianidze, wie das Sowjetregime die Maßstäbe der sozialistischen Gesetzlichkeit neu justierte. Indem Davlianidzes Taten retrospektiv als konterrevolutionär eingestuft wurden, verurteilte das Regime die willkürliche Entgrenzung der stalinistischen Gewalt.

Im zweiten Teil des Bandes, der die Jahre des Zweiten Weltkriegs bis zum Tod Stalins umfasst, betrachten Alan Barenberg und Juliette Cadiot den Gulag als Raum, in dem Gewalt in der Regel auch deswegen willkürlich zur sozialen Kontrolle eingesetzt worden ist, weil hier konkurrierende Konzepte der Bestrafung, Isolation, Umerziehung und ökonomischen Ausbeutung aufeinanderprallten. Barenberg illustriert dies sehr erhellend anhand des Umgangs mit den Inhaftierten, die als politisch besonders „schädlich“ galten und daher zur Zwangsarbeit (katorga) verurteilt waren. Zwar hätten sie die Arbeitsleistung eines Lagers theoretisch steigern können, doch erhöhten sie vor allem die Mortalitätsraten, was sich ungünstig auf die Außendarstellung des Lagers auswirkte. Cadiot hingegen eröffnet eine Perspektive auf Handlungsspielräume von Gulag-Inhaftierten, die nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgreiche Gnadengesuche stellten. Sie alle waren vom stalinistischen Regime wegen Diebstahls sozialistischen Eigentums verurteilt worden und versuchten sich nun, durch die Aushandlungen über die vormaligen Gewaltpraktiken wieder in die Gemeinschaft einzufügen und damit den neuen Kontrollpraktiken zu unterwerfen. Amanda McNair nimmt mit dem Abtreibungsverbot ab 1936 den Versuch des Regimes in den Blick, den weiblichen Körper über Strafverfahren und medizinische Kontrolle zu disziplinieren. Durch die Medikalisierung des Verfahrens eröffneten sich gewisse Handlungsspielräume für Schwangere und Ärzte, was eine völlige Überwachung der Reproduktion zwar verhinderte, die Frauen aber dennoch oft in prekäre Lagen brachte.

Der dritte Abschnitt des Sammelbandes widmet sich für die Ära der sogenannten Entstalinisierung unter Nikita S. Chruščev der Frage von Kontinuitäten und Wandel, ohne 1953 als klare Zäsur zu setzen. Dieser Ansatz überzeugt, da doch zum Beispiel die Neuausrichtung der sozialistischen Gesetzlichkeit bereits in den 1940er-Jahren in Angriff genommen worden war. Immo Rebitschek beschreibt anhand des Umgangs von Polizei und Justizbehörden mit Kindern und Jugendlichen in den 1950er-Jahren, wie die Staatsanwaltschaft sich professionalisierte und an Einfluss gewann. So gelang es ihnen, polizeiliche Praktiken einzuhegen und Gerichtsverfahren verlässlicher zu machen. Daran schließt Yoram Gorlizki mit seiner Analyse der sozialistischen Gesetzlichkeit an. Das Konzept wurde neu justiert und zielte fortan darauf, dass gesetzliche Verfahren erwartbar verliefen und die stalinistischen Praktiken willkürlicher Gewalt und außergesetzlicher Repressionen zurückgewiesen wurden. Dass diese Praktiken zurückgedrängt werden konnten, erforderte einen Kulturwandel in den Geheimdiensten. Evgenia Lezina zeichnet diesen anhand neuer Praktiken des KGB in der Ukraine und Litauen eindrücklich nach. In den späten 1950er- und frühen 1960er-Jahren verfeinerte der KGB seine sogenannten präventiven Methoden (profilaktika), um zum Beispiel nationalistische und religiöse Gruppen zur ideologischen und sozialen Konformität zu zwingen und sie letztlich zu zerschlagen. Dazu gehörten persönliche Ansprachen und Beschämungen in Betriebsversammlungen, in den lokalen Medien oder ähnlichen. Verhaftungen gingen zwar zurück, blieben aber neben dem Entzug des Studien- oder Arbeitsplatzes eine gängige Praxis. Dina Moyal lenkt den Blick auf zivilrechtliche Konflikte. Sie untersucht Wohnungsstreitigkeiten, die bis zum Obersten Gerichtshof der UdSSR gelangten. Diese Prozesse belegen, dass das Konzept der sozialistischen Gesetzlichkeit im Kontext des Versprechens Chruščevs einen steigenden Lebensstandard zu garantieren, den Bürgerinnen und Bürgern tatsächlich eine neue Handlungsmacht gab. Auf dieser Grundlage formulierten sie fortan ihr Recht auf Wohnraum und kämpften darum vor Gericht. David Shearer schließt den Band mit einem resümierenden Beitrag über die Brüche und Kontinuitäten zwischen der stalinistischen und der Chruščev’schen Sowjetunion. Da das Regime die militarisierten und gewalthaften Praktiken der sozialen Kontrolle bereits in den späten Jahren Stalins deutlich abschwächte, sei der Bruch keinesfalls so schroff gewesen, wie lange behauptet worden ist. Gleichzeitig sahen viele Menschen die Vorteile dieser Liberalisierung nicht unmittelbar, nahmen sie doch zeitgleich steigende Kriminalitätsraten und öffentliche Non-Konformitäten bis hin zu Unruhen wahr. Zugleich veränderte das Regime unter Chruščev seine Kontrollpraktiken dahingehend, dass der Staat nun mit Gesetzen, institutionellem Konformitätsdruck und Eingriffen ins Privatleben einen „civic authoritarianism“ etablierte (S. 340f.).

Die Beiträge sind lesenswert. Sie unterfüttern die bereits vorliegenden Untersuchungen zu Praktiken der sozialen Kontrolle mit einigen spannenden Aspekten zur Handlungsmacht staatlicher wie gesellschaftlicher Akteurinnen und Akteure, ohne die bisherige Forschung grundsätzlich herauszufordern oder sie zu widerlegen. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass die Herausgeber zwar einleitend einen weiten Begriff von sozialer Kontrolle formulieren, sich die Beiträge aber dennoch auf polizeiliche und gerichtliche Organe beschränken. So wird nur ein einseitiges Bild der kontrollierten Gesellschaft gezeichnet, das hätte diversifiziert werden können, wenn zum Beispiel sozial- und lebenswissenschaftliche oder medizinische Kontrollkonzepte jenseits von Schwangerschaftsabbrüchen berücksichtigt worden wären. Zudem veränderten das Chruščev’sche Konsumversprechen und der in den 1960er-Jahren damit einhergehende Rückzug ins Private das Koordinatensystem von gesellschaftlichen Ansprüchen und staatlicher Kontrolle erheblich. Insofern erstaunt, dass der Bereich von materiellem Konsum, von Sport, Freizeit und Unterhaltung, Medien und Kommunikation ebenso fehlt wie die Versuche des Regimes, die arbeitsfreie Zeit der Menschen zu kontrollieren. Konzeptionell ist der Band daher konventionell. Dies gilt auch für den Untersuchungszeitraum, der trotz der mittlerweile zahlreichen Studien zur Brežnev-Ära mit Chruščev endet. Die Aussagekraft wäre deutlich größer gewesen, wenn die Fragen nach sozialer Kontrolle auch die 1970er- und 1980er-Jahre einbezogen hätten. Wie wirkte sich der little deal der Brežnev-Ära auf die Kontrollpraktiken und das rechtliche Verhältnis von Regime und Gesellschaft aus? Systematische Kritik an Partei und Regierung blieb unmöglich, dafür aber durften lokale Missstände, Einzelfälle oder niederrangige Sündenböcke angeprangert und vor Gericht gezogen werden. Generell übten neben den Medien die Bürgerinnen und Bürger in ihren Eingaben Kritik. Eingaben waren ein zentrales Medium der Konfliktbewältigung in den sozialistischen Gesellschaften. Obwohl in mehreren Beiträgen Eingaben als Quellen auftauchen, bleibt die umfangreiche Forschung zur politischen Kommunikation unberücksichtigt. So bleibt die Frage offen, inwiefern sich die Praktiken der sozialen Kontrolle mit dem offensichtlichen Wandel der sowjetischen Gesellschaft hin zu einer Konsumgesellschaft weiter veränderten und welche stalinistischen Kontinuitäten erhalten blieben. Bei aller Kritik bleibt es das lobenswerte Verdienst dieses Sammelbandes, zentrale Praktiken der Sozialkontrolle insbesondere mit Beispielen aus Georgien, der Ukraine und Litauen präzise herausgearbeitet zu haben.

Anmerkung:
1 Siehe zum Beispiel Mirjam Galley, Building Communism and Policing Deviance in the Soviet Union. Residential Childcare, 1958–91, London 2020; Brian LaPierre, Hooligans in Khrushev’s Russia. Defining, Policing, and Producing Deviance during the Thaw, Madison 2012; Tricia Starks, The Body Soviet. Propaganda, Hygiene, and the Revolutionary State, Madison 2008.

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