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Titel
"Ich will fortleben, auch nach meinem Tod". Die Biographie des Tagebuchs der Anne Frank


Autor(en)
Sparr, Thomas
Erschienen
Frankfurt am Main 2023: S. Fischer
Anzahl Seiten
336 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Aline Munkewitz, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Etwa ein dreiviertel Jahrhundert nach der erstmaligen Veröffentlichung und mehr als 50 Jahre seit der globalen Verbreitung (S. 185 f.) unternimmt Thomas Sparr den Versuch einer Biographie des Tagebuchs der bekannten Jugendlichen aus dem Versteck der Amsterdamer Prinsengracht. Bereits in seiner zentralen Fragestellung nach einer Verortung des Bandes zwischen Literatur und Dokument, nach Strategien der Verbreitung und der Wirkung (S. 16), greift er dabei – ohne dies zu explizieren – auf Hinweise auch der jüngeren Tagebuchforschung zurück, wonach diese Quellen als „antifiktional[e]“1 Textgattung zwar Literarisierungen enthalten, diese allerdings eng an die darin thematisierte außertextuelle Welt gebunden bleiben. Über diesen vorrangig textimmanenten Fragehorizont hinaus verknüpft Sparr die besondere Rolle des Buches auf dem globalen Publikationsmarkt mit der wechselseitigen Beeinflussung von Publikations- und Rezeptionsgeschichte, in deren Mehrdeutigkeit der anhaltende Erfolg gründe (vgl. S. 186 f., 293 f.). Gelingt ihm damit zugleich ein Ansatz zu einer Gesellschaftsgeschichte des Tagebuchs, dessen Teilergebnisse sich in eine umfangreiche Forschungsliteratur einfügen, nähert er sich dieser Hypothese entlang dreier Pfade: der Entstehungs- und Publikationsgeschichte, der globalen Rezeption sowie schließlich einer Betrachtung der Textgattung selbst.

Den Ausgangspunkt für die ambivalente Verortung des Tagebuchs der Anne Frank zwischen Literatur und Quelle findet Sparr einerseits in Anne Franks Einsatz stilistischer Mittel und andererseits in der mehrfachen editorischen Überarbeitung des erhalten gebliebenen Materials. Hatte Anne Frank selbst wohl aufgrund eines Appells der niederländischen Exilregierung vom 28. März 1944, Tagebücher über die Besatzungszeit zu schreiben, damit begonnen, ihre Einträge zu überarbeiten,2 widmet sich Sparr anhand einzelner Beispiele ebenso den Eingriffen in das Manuskript durch den „lesenden Vater“ (S. 36) und andere, die an der Vorbereitung der Publikation beteiligt waren. Auch angesichts der durch den Anne Frank Fonds anvisierten und durch Mirjam Pressler vorgelegten Zusammenführung einzelner Manuskriptversionen,3 stellt Sparr heraus, dass es sich hierbei schwerlich um eine kohärente „ursprüngliche[…] Form“ (S. 36) handele, das Tagebuch vielmehr – wie auch mit Blick auf seine Deutungen – einen „zweifelhafte[n] Singular“ (S. 51) darstelle. Ausdrücklich fordert er dazu auf, die Pluralität sowohl des Materials als auch der Verortung des Textes zwischen Literatur und zeithistorischem Dokument anzuerkennen.

In Würdigung des Engagements Otto Franks4 erörtert Sparr daran anschließend ausführlich einzelne Stationen der Publikationsgeschichte und vollzieht dabei nach, dass bereits in den Veröffentlichungen in gewisser Weise unterschiedliche Deutungen angelegt waren. Mag es angesichts der heutigen globalen Verbreitung des Tagebuchs auch irritieren, erscheint diese „Erfolgsgeschichte“ in der Rekonstruktion letztlich als Resultat einer „Kette von Misserfolgen, Missverständnissen, Anfechtungen“ (S. 15). Indem Sparr die Korrespondenzen aus dem Otto Frank Archiv durchleuchtet, kann er nicht nur die mentalitätsgeschichtlichen und ökonomischen Herausforderungen der Veröffentlichungen demonstrieren, sondern auch zeigen, dass diese häufig erst durch Vermittlungen zustande kamen. Ungeachtet späterer Bemühungen um eine vereinheitlichte Ausgabe rekonstruiert Sparr bereits anhand des Publikationskontextes Anknüpfungspunkte einer heterogenen Rezeption. Mit Blick auf die globale Verbreitung rekurriert der Autor5 insbesondere auf die von Goodrich und Hackett entwickelte Bühnenfassung, macht allerdings zugleich auf eine in mehrfacher Hinsicht transnationale Dynamik aufmerksam: Einerseits mündete die Broadway-Adaption in einer erheblichen Bekanntheitssteigerung dies- und jenseits des Atlantiks. Andererseits löste die Entdeckung des Tagebuchs auf dem hebräischen Buchmarkt in der israelischen Einwanderungsgesellschaft weitere Übersetzungen unter anderem ins Jiddische sowie südost- und osteuropäische Sprachen aus (S. 174 f.).

Sparr beschränkt sich nicht darauf, den Erfolg des Buches durch die theatrale Inszenierung zu benennen, sondern verknüpft die Überführung des verfolgungs- und kriegsspezifischen Schicksals der jungen Autorin hin zu einer allgemeinen humanistischen Botschaft mit der Herausbildung heterogener Deutungen und Identifikationen. Exemplarisch vollzieht Sparr diese Tendenz zu einer interpretatorischen Öffnung anhand der Auswertung von Vor- und Geleitworten nach, von denen bereits Otto Frank meinte, dass es nicht „schadet […] wenn dabei verschiedene Schwerpunkte zur Geltung kommen“ (zit. nach S. 207). Artikuliere sich in diesen regelmäßig eine „eigene, historisch geprägte Lesart[…]“ (S. 160), fördert Sparrs Analyse doch ein breites Spektrum zutage, das sich von der Verortung Anne Franks als Teil der Leidenserfahrung der Generation der Kriegsgesellschaft im Vorwort der deutschen Ausgabe von Goes bis hin zu Elie Wiesels Rekonstruktion des Tagebuchs als spezifische Ghettoerfahrung erstreckt.

Auch in impliziter Anlehnung an eine bereits von Otto Frank erwogene Rezeptionsforschung (vgl. 211) weitet Sparr die Betrachtung zu weiteren Ländern, Regionen und Gemeinschaften über eine dezidierte Analyse von Vorworten und Korrespondenzen aus, um verschiedene Formen der Aneignung zu reflektieren. Fokussiert er für einen keineswegs einheitlichen jüdischen Referenzraum („Jiddischland“) vor allem eine Reflexion des Tagebuchs angesichts antisemitischer Ausgrenzung und Verfolgung (vgl. 184),6 habe in der japanischen Rezeption demgegenüber vor allem der Übergang Anne Franks vom Mädchen zur jungen Frau im Zentrum gestanden, insofern mit dem Tagebuch eine der ersten populären Darstellungen der Periode vorlag.7 Mit Blick auf Südafrika erinnert Sparr insbesondere an Nelson Mandelas Rezeption des Tagesbuchs in der Auseinandersetzung mit dem Apartheidregime.8 Ebenso wirft er ein Schlaglicht auf Elemente der Instrumentalisierung während der Blockkonfrontation des Kalten Krieges.

Gegenüber dieser Bandbreite unterschiedlicher Lesarten thematisiert Sparr schließlich explizit eine Verortung des Tagebuchs zwischen Quelle und Literatur. In einem ersten Zugang nähert sich der Autor einer genaueren Bestimmung der Textgattung vor allem auf Grundlage einer Differenzierung zwischen der Charakterisierung der Schwester Margot Frank im Tagebuch und den wenigen Überlieferungen zu ihrer Identität. Wie auch für die übrigen Bewohner:innen des Verstecks in der Prinsengracht hebt Sparr hier auf eine literarische Überformung der Figuren ab,9 die nicht notwendig mit den historischen Akteur:innen identifiziert werden könnten. Zwar werde das Tagebuch der Anne Frank trotz literarischer Elemente mehrheitlich als historisches Dokument gelesen, allerdings deutet die Wirkungsgeschichte des Bandes darauf hin, dass dessen Bedeutung darüber hinaus reicht. Es sei ebenso „Zeugnis von Verfolgung und Bedrohung, welches das spätere Grauen in den Vernichtungslagern nicht mehr schildert“ (S. 293), wie auch autobiographische Lebensgeschichte der heranwachsenden Autorin, sowohl „Kriegsbuch“ als auch „humanistisch universelles Tagebuch“ (S. 293) appellativen Charakters, mit dem sich nicht zuletzt Heranwachsende identifizieren könnten. Entsprechend speise sich die besondere Qualität des Werkes aus der unauflöslichen Gleichzeitigkeit von literarischer Gestaltung und ihrer „historischen Signatur“ (S. 305). Gerade weil sich der Band angesichts dieser Ambivalenz einer eindeutigen Zuordnung im Spannungsfeld von historischem Bericht und künstlerisch geformter Prosa entziehe, bietet das Tagebuch zwar vielfältigen Rezeptionen Anknüpfungspunkte. Angesichts der Mehrdeutigkeit, so Sparr, sperrt sich der Text allerdings gegen eine umstandslose Universalisierung des Schicksals seiner Protagonistin wie auch gegen eine Ablösung der Erinnerung vom historischen Kontext seiner Entstehung.
Sparrs schmale Biographie des Tagebuchs der Anne Frank greift im Kern einen Gedanken Otto Franks auf, dass es einer globalen Rezeptionsgeschichte bedürfte, um die Bedeutung des Werkes ermessen zu können. Zugleich ist er allerdings ebenso mit der zentralen Herausforderung konfrontiert, die dieser von einem solchen Projekt erwartete: „Ausserdem glaube ich, dass eine Arbeit dieser Art nicht von einer Person geschrieben werden kann.“ (zit. nach S. 211) Gerade die ambitionierte Herangehensweise eine Publikations- parallel zur Rezeptionsgeschichte des Tagebuchs auf etwa 300 Buchseiten regional differenziert zu entwickeln, führt dabei zuweilen zu Inkonsistenzen im Aufbau, sodass zwischen einzelnen Ereignissen teilweise größere Sprünge liegen, an anderer Stelle Redundanzen entstehen. Das innovative Potenzial dieser Arbeit besteht gerade angesichts umfangreicher Detailforschungen zu Deutungsmustern weniger darin, substanziell neue Rezeptionsbeobachtungen zutage zu fördern. Einerseits führt Sparr dabei viele bereits aus vorliegenden Forschungsarbeiten bekannte Erkenntnisse zusammen, andererseits berücksichtigt er beispielsweise kaum Perspektiven aus dem asiatischen Raum außerhalb Japans.10 Eingedenk dieser Herausforderung eines breiten und vielfältigen Forschungsfeldes, besteht die besondere Leistung dieser buchbiographischen Metastudie zur Wechselbeziehung von Publikations- und Rezeptionsgeschichte in einer lesenswerten Überblicksdarstellung an der Schnittstelle von Forschungsliteratur und populärwissenschaftlicher Publikation. Einschließlich der Forderung, Anne Frank stärker als Literatin wahrzunehmen, dürfte die Studie zugleich geeignet sein, Stichworte und Anknüpfungspunkte für weitere geschichtswissenschaftliche Betrachtungen zu liefern.

Anmerkungen:
1 Janosch Steuwer, „Ein Drittes Reich, wie ich es auffasse“. Politik und privates Leben in Tagebüchern 1933–1939, Göttingen 2017, S. 25. Siehe auch: Frank Bajohr, Das „Zeitalter des Tagebuchs“? Subjektive Zeugnisse aus der NS-Zeit – Einführung, in: Frank Bajohr / Sybille Steinbacher (Hrsg.), „Zeugnis ablegen bis zum letzten“. Tagebücher und persönliche Zeugnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust, Göttingen 2015, S. 7–21, bes. S. 9 f.
2 Aus dem Exil hatte diese unter anderem zur Erstellung von Tagebuchaufzeichnungen aufgerufen, worauf auch der Eintrag Anne Franks mit Datum vom 29. März 1944 referiert. Zit. in: Ronald Leopold, Anne Frank, München 2023, S. 102 f.; vgl.: Anne Frank, Tagebuch, übers. v. Mirjam Pressler, 29. Aufl., Frankfurt am Main 2020, S. 233 f.
3 Heute bildet diese die vom Anne Frank Fonds herausgegebene Fassung. Für die deutsche Ausgabe: Anne Frank Tagebuch, übersetzt von Mirjam Pressler, 28. Aufl., Frankfurt am Main 2020.
4 Vgl. zur Schwerpunktlegung Otto Franks in knapper Form auch: Raphael Gross, Otto Frank and Anne Frank’s Diary. The History of a Universal Icon, Berlin 2019, S. 16-21, https://digipres.cjh.org/delivery/DeliveryManagerServlet?dps_pid=FL2419804& (13.06.2024).
5 Siehe hierzu u.a. auch: Leopold, Anne Frank, S. 110–112; Gerhard Fischer, Anne Frank auf dem Broadway und in Hollywood. Das Theaterstück und der Film The Diary of Anne Frank von Frances Goodrich und Albert Hackett (1958/59), in: Peter Seibert / Jana Piper / Alfonso Meoli (Hrsg.) Anne Frank. Mediengeschichten, Berlin 2014, S. 37–53, bes. S. 46.
6 Ausführlich widmet sich diesem Komplex zumindest mit Blick auf Europa zur Zeit ein Forschungsprojekt unter Leitung von Raphael Gross und Martin van Gelderen. Siehe: Raphael Gross / Martin van Gelderen, Die Tagebücher der Anne Frank, in: Fritz Bauer Institut, https://www.fritz-bauer-institut.de/forschungsprojekte/die-tagebuecher-der-anne-frank (22.05.2024).
7 Ausführlicher: Sylvia Kesper-Biermann, Holocaust und Hiroshima. Das Tagebuch der Anne Frank im japanischen Manga, in: Peter Seibert / Jana Piper / Alfonso Meoli (Hrsg.) Anne Frank. Mediengeschichten, Berlin 2014, S. 99–116. Knapp auch: Mirjam Zadoff, Gewalt und Gedächtnis. Globale Erinnerung im 21. Jahrhundert, München 2023, S. 99 f.
8 Vgl. zur Publikation auch: Roni Mikel-Arieli: Remembering the Holocaust in a Racial State. Holocaust Memory in South Africa from Apartheid to Democracy (1948–1994), Berlin 2022, S. 133–137.
9 Auf weitere Elemente verweist bereits: Leopold, Anne Frank, S. 102–104.
10 Zu Nord-Korea jüngst: Dafna Zur, North Korea’s Translation of Anne Frank and the Politics of Self-Writing, in: AJS 47 (2023), S. 149–175, bes. S. 150-158. Anekdotische Hinweise auf Rezeptionen in China, Hongkong, Vietnam sowie auf dem indischen Subkontinent thematisiert: Gillian Walnes Perry, The Legacy of Anne Frank, Barnsley 2018, S. 228–236 u. 247–260.

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