Warum hat es die DDR über vier Jahrzehnte gegeben, obwohl diejenigen, die den „ersten sozialistischen Staat auf deutschen Boden“ geschaffen haben, doch von Anfang an beim Volk unbeliebt waren und es bis zum Schluss 1989 auch blieben? Für die Tage um den 17. Juni 1953 gibt es dafür eine befriedigende Antwort: Die SED-Führungsschicht hielt sich dank des Einsatzes sowjetischer Panzer gegen Demonstrierende. Die Panzer, ob nun sowjetische oder später die der Nationalen Volksarmee der DDR, waren stets präsent, aber sie sind nur ein einziges Mal gerollt und Aufstände wie der im Juni 1953 hat es in Ostdeutschland nicht wieder gegeben – jedenfalls nicht bis zum Herbst 1989, als die Demonstranten mit der friedlichen Revolution die Herrschaft der SED beendeten. Dazwischen liegen dreieinhalb Jahrzehnte. Worauf war die rätselhafte Stabilität der DDR in diesen 36 Jahren, einem Zeitraum, der die Lebensdauer sowohl der Weimarer Republik als auch des „Dritten Reichs“ deutlich übertraf, zurückzuführen? Es war diese Frage, die Andrew J. Port, den US-amerikanischen Absolventen von Harvard und Yale und späteren Professor für Geschichte und Politologie der Universität Detroit, während seines Studienaufenthaltes in der Ex-DDR umtrieb. Die von seinen deutschen Kollegen gegebenen Begründungen für dieses Stabilitätsphänomen waren vielschichtig, befriedigten Port aber nicht. Antworten wie die von Günter Gaus, dass es sich bei der DDR um eine Nischengesellschaft gehandelt habe, und der DDR-Bürger darin sozusagen verschwunden war, gehörten dazu1 ebenso wie die These, neben der Repression hätten Wohlstandsversprechen die Stabilität der DDR bewirkt, so weit und so lange die Versprechen durch die Vergabe von erschwinglichen Wohnungen, niedrigen Lebenshaltungskosten und sozialen Sicherheit am Arbeitsplatz materialisiert werden konnten.2 Port wollte sich weder für die eine noch für andere der bereits gegebenen Antworten engagieren, sondern sich seine eigene Meinung anhand von Zeugnissen über das Arbeits- und Alltagsleben der Ostdeutschen bilden. Seine Idee verwirklichte er während eines Studienaufenthalts in Thüringen, der ihm erlaubte, sich für den Kreis Saalfeld auf der Grundlage archivalischer Quellen staatlicher und betrieblicher Provenienz über das „einfache Leben“ der Arbeiter und Bauern in Ostthüringen detailliert zu informieren.
Der Kreis Saalfeld steht also bei Port für die DDR. Dessen Begründung: Dieser Kreis war im strengen Sinne natürlich nicht repräsentativ für die DDR „unterschied sich aber auch nicht radikal von anderen Kreisen“ (S. 30). Das, meint Port, und die Übereinstimmung der Ergebnisse seiner Untersuchungen mit einigen anderen Regionalanalysen ähnlicher Zielstellung3, müsse zur Begründung ausreichen. Und selbst der kritische Leser ist geneigt, ihm Recht zu geben.
In einer Hinsicht jedoch können die von Port eingesehenen Akten nicht als repräsentativ gelten: Aussagen enthalten sie nur über die in „besondere Vorkommnisse“ verwickelte Personen, Gruppen, Betriebsbelegschaften. Saalfelder, die sich weder politisch noch „auf der Arbeit“ besonders engagierten und die nicht zufällig in berichtenswerte Aktionen über andere Mitbürger hineingerissen wurden, kommen nicht vor. Der „brave Saalfelder“, so häufig oder meinetwegen selten es diese Spezies gegeben haben mag, bleibt außerhalb der Untersuchung. Sein Verhalten hat Ports Schlussfolgerungen nicht beeinflussen können. Das kritisch anzumerken, heißt nicht, Ports Erkenntnisse abwerten zu wollen, wohl aber weist es auf bestehende Grenzen seiner Einsichtmöglichkeiten hin, und die Begrenzung hätte von ihm deutlicher benannt werden müssen.
Port hat seine Analyse der Entwicklung der Arbeits- und Lebensverhältnisse im Kreis Saalfeld in 10 Kapiteln dargelegt. Er spürt zunächst der Entnazifizierung nach, den Auswirkungen der Bodenreform sowie des industriellen Auf- und Umbaus, der im Kreis Saalfeld besonders früh einsetzte. Zwei Kapitel widmet Port „Aufständen“. Der erste „Aufstand“ in der DDR überhaupt wurde im August 1951 von den Bergarbeitern der Wismut, die gewaltsam gegen ihre miserablen Arbeitsbedingungen protestierten, ausgelöst. Der zweite, vom 17. Juni 1953, vollzog sich im Kreis Saalfeld wenig spektakulär. Die folgenden Kapitel behandeln die „Ruhe nach dem Sturm“ während der Jahre 1954 bis 1971. Zur Sprache kommen „Repressionen und ihre Grenzen“, die „Mecker-Gesellschaft“, die zwiespältige Stellung der Gewerkschaften, Normenfragen und Lohngestaltung in den Arbeitskollektiven der Betriebe, die Interessengegensätze innerhalb der Arbeiterschaft, die Kollektivierung der Landwirtschaft, die auch in der „klassenlosen Gesellschaft“ spürbaren Animositäten zwischen Arbeitern und Angestellten sowie die besonderen Belastungen der berufstätigen Frauen in der DDR. All dies wird vom Rezensenten mit viel Einfühlungsvermögen, dem Verzicht auf die Dramatisierung der behandelten Konflikte und mit dem Bewusstsein geschildert und bewertet, dass es für die Begründung von Verhalten in der Regel mehrere Ursachen gibt, deren Gewichtung letztlich offen bleiben muss.
Zu welchem Ergebnis kommt Port hinsichtlich der politischen Stabilität der DDR letztendlich? Er verweist die Behauptung, dass das DDR-Regime so stabil war, weil die Ostdeutschen typisch deutsch und damit passiv und gehorsam seien, ins Reich der Legenden. Vielmehr kann er über zweieinhalb Jahrzehnte nachweisen, dass „viele Saalfelder – eingeschlossen Funktionäre der unteren Ebene und einfache SED-Mitglieder – sich den verschiedenen von Partei und Staat erhobenen Forderungen widersetzten, offen die Politik der SED kritisierten und ihre Missbilligung von unpopulären politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen zum Ausdruck brachten“ (S. 30). Diese Feststellung widerspricht der These, dass sich Partei und Regierung der DDR zwar nicht durchgehend, aber über viele Jahre hinweg einer beachtlichen Popularität erfreuten4. Ports Erkenntnis widerspricht aber auch allen Behauptungen, dass die Hauptursache der Stabilität der DDR im Duckmäusertum seiner Bevölkerung zu suchen sei. Was Port herausfand, ist allerdings auch nicht mit der von einigen DDR-Forschern vertretenen Auffassung, dass Partei und Regierung generell verhasst waren oder dass die DDR jahrzehntelang vor dem Abgrund eines „latenten Bürgerkriegs“ zwischen Beherrschten und Herrschenden stand, zu vereinbaren.5
Port verwirft generell die These, Repression allein erkläre, warum es zum Beispiel in Saalfeld zwischen 1953 und 1989 keine groß angelegten Proteste oder eine gewaltsame Volkserhebung gegeben hat. Immer auf der Suche nach den Ursachen der „rätselhaften Stabilität“ der DDR gelangt er zu der Erkenntnis, dass die untere und mittlere Funktionärsebene stets zu Zugeständnissen bereit war, den Arbeitern und Bauern entgegen kam, wenn es darum ging, Streit zu vermeiden bzw. Streiks und Unruhen zu verhindern.
Ports gewichtigstes Argument für die Stabilität der DDR-Gesellschaft ist jedoch ein anderes: Die Beziehungen zwischen und auch innerhalb der sozialen Schichten, Arbeiter, Bauern, Angestellte, waren „durch erhebliche Reibereien und grundsätzliche Spannungen“ gekennzeichnet. „Letztendlich waren es just diese Spannungen, die im Endeffekt ernsthafte Erschütterungen des Regimes von unten verhinderten und somit eine Erklärung für die vielen Jahren innenpolitischer Stabilität liefern.“ (S. 345-6). Mit besonderem Nachdruck verweist Port darauf, dass die aus der Perspektive der Außenstehenden geringen materiellen Unterschiede zwischen den Ostdeutschen immer wieder „eine sprudelnde Quelle für Frustration und Ärger“ waren. Port spitzt zu: „Wenn es wirklich’ einen latenten Bürgerkrieg’ gab, dann war es einer, in dem die Saalfelder gegen sich selbst kämpften“ (S. 348).
Zu diesem Ergebnis konnte Port nur kommen, weil er in seinem Buch – anders als die meisten Publikationen über das Verhältnis von Volk und Herrschenden in der DDR – nicht nur die vertikalen Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft berücksichtigt, sondern auch die horizontalen Beziehungen zwischen den DDR-Bürgern selbst. Dies ist es, was Ports Buch eine besondere Aussagekraft verleiht und zu Schlussfolgerungen über die politische Stabilität der DDR verhilft, die zu ziehen anderen, allein auf die vertikalen Beziehungen in der DDR- Gesellschaft konzentrierten Untersuchungen, nicht möglich war. Sein Buch nimmt dadurch einen herausragenden Platz in den Publikationen über „Alltag und Herrschaft in der DDR“ ein.
Anmerkungen:
1 Günter Gaus, Wo Deutschland liegt. Eine Ortsbestimmung, München 1987, S. 115-169.
2 Christoph Boyer / Peter Skyba (Hrsg.), Repression und Wohlstandsversprechen. Zur Stabilisierung von Parteiherrschaft in der DDR und der CSSR, Dresden 1999.
3 Vgl. Johannes Huinik / Karl-Ulrich Mayer / Martin Diewald (Hrsg.), Kollektiv und Eigensinn. Lebensläufe in der DDR und danach, Berlin 1995.
4 Heinz Niemann, Meinungsforschung in der DDR. Die geheimen Berichte des Instituts für Meinungsforschung an das Politbüro der SED, Köln 1993.
5 Armin Mitter / Stefan Wolle, Die heile Welt der Diktatur. Alltag und Herrschaft in der DDR, 1971-1989, Berlin 1998.