„No other source anywhere else provides such detailed information about the life of and the resources available to a twelfth-century lay aristocrat, let alone one written from his own perspective, and clues about the fate of the Bavarian nobility. If Sigiboto had been an Anglo-Norman baron, every Anglophone medievalist would know his name“ (S. 18). Für John B. Freed, den Mediävisten und langjährigen Hochschullehrer an der Illinois State University, ist der „Codex Falkensteinensis“ (Liber traditionum comitatus Neuenburg-Falkenstein), jenes 1166 angelegte, dann bis 1196 fortgesetzte, in einer Handschrift des Bayerischen Hauptstaatsarchivs erhaltene und von Elisabeth Noichl 1978 edierte Urbar und Lehenverzeichnis eine Schlüsselquelle zum 12. Jahrhundert, und dies nicht nur für das hochmittelalterliche Bayern. Freed hat sich seit seiner Monographie von 19841 immer wieder, und auch nicht unwidersprochen, zu Teilaspekten des Falkensteiner Codex geäußert, ob zu Fragen des Weinanbaus, zum sogenannten Mörderbrief oder zum adligen Selbstverständnis.2 Die Quelle verzeichnet Besitzungen, Einkünfte, Recht und Lehen und wurde von Graf Sigiboto IV. von Falkenstein im Jahr 1166 angelegt, um im Fall seiner Nichtrückkehr vom vierten Italienzug Barbarossas seinen Nachlass geregelt zu wissen. Als einzige weltliche Traditionsquelle der Stauferzeit muss der „Codex Falkensteinensis“ als herausragendes Zeugnis zum Selbstverständnis einer hochadligen Familie des 12. Jahrhunderts gelten, wobei Freed zu Recht vermerkt: „The unanswerable question remains: is the Codex Falkensteinensis unique in its creation, its miraculous survival, or both“ (S. 418).
Im Gegensatz zu seiner früheren Einschätzung sieht der Autor die Anlage des Traditionsbuchs nicht mehr als Zeichen der Schwäche Graf Sigibotos, sondern hebt vielmehr die durchaus bedeutsame und selbstbewusste Rolle der Weyarn-Neuburg-Falkensteiner hervor, die sich nicht zuletzt aus den Beziehungen zu den Staufern speiste. Freed kritisiert dabei die Editionstechnik der libri traditionum in der Schule Peter Achts (so auch bei der Noichl’schen Edition), da dadurch die Einträge zuweilen aus ihrem Schreibzusammenhang gelöst und nach modernen Gesichtspunkten gegliedert werden und somit den Blick auf zeitgenössische Kohärenzvorstellungen dieser Zeugnisse pragmatischer Schriftlichkeit verstellen. Um letztlich zu einem tieferen Verständnis der Eigenlogiken des 12. Jahrhunderts zu gelangen, ist die Monographie chronologisch-systematisch aufgebaut. Zunächst wird die Geschichte der Falkensteiner ab dem späten 11. Jahrhundert in ihren regionalen und überregionalen Vernetzungen dargestellt. Wie schon Wilhelm Störmer, so sieht auch Freed in ihnen die Besitznachfolger der Aribonen im Inntal. Der Aufstieg der Falkensteiner sei nicht zuletzt durch das herzogliche Machtvakuum im sogenannten Welfischen Jahrhundert bedingt. Obgleich man seit einem zentralen Aufsatz von Andreas Kraus Bayern nicht mehr als Nebendukat Heinrichs des Löwen ansehen wird3, so bleibt doch Freeds differenzierter Ansatz einer gewissen „Schattenregion“ um Falkenstein, Neuburg und Hartmannsberg bedenkenswert.
Das folgende Kapitel stellt die Leitquelle vor, hebt deren hortativen Charakter heraus, stellt Überlegungen zum Wortgebrauch von Zentralbegriffen wie curtis und curia an, betrachtet die deutschen Begrifflichkeiten wie hantgemahele, heimstiure oder skeffen, äußert sich zum Siegelgebrauch und nimmt abermals den erwähnten „Mordbrief“ in den Fokus. Nach einem methodischen Forschungsüberblick zum Familienverständnis und zur Genealogie von Staufern, Welfen, Wittelsbachern, Babenbergern, Andechsern, Sulzbachern und Vohburgern führt Freed den Stammbaum der Falkensteiner bis auf einen Patto von Dilching zurück, der im frühen 11. Jahrhundert als Vogt von Tegernsee bezeugt ist. Insgesamt sei die Familie, so der Blick in ihr Traditionsbuch, reichlich unbedarft im Wissen um ihre Ahnen gewesen. Anschließend wird Sigiboto als etwas patengleicher, patriarchalischer Familien- und Realpolitiker vorgeführt, der darauf bedacht war, auch in Absenz das Seine geordnet zu wissen, vor allem gegenüber den Machtbestrebungen der Babenberger. Ingesamt waren aber den Behauptungsversuchen der Falkensteiner deutliche Schranken gesetzt: „Comital dynasties like the Falkensteins, unless they, too, submitted to the princes and entered in their service, could not compete on the battlefield or in the bedroom“ (S. 289). Dies bestätigt auch das Folgekapitel, das Besitzungen – gerade die Burgen spielen im „Codex“ eine besondere Rolle – und die Gefolgschaft der Falkensteiner analysiert. Letztlich sei beides zu dürftig gewesen, um ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts den aufstrebenden Wittelsbachern oder Andechsern Konkurrenz zu bieten oder im Ernstfall Widerstand zu leisten. Freed stellt die beneficia- und hominium-Belege – letzteres kommt einmal vor – im „Codex Falkensteinensis“ zusammen und gelangt im Einklang mit der jüngeren Forschung zum Ergebnis, dass das Lehnswesen keine Schlüsselkategorie sei, um politische und soziale Prozesse im hochmittelalterlichen Bayern zu erklären.
Der Urbarteil des „Codex“ gibt wertvolle Einblicke in die Organisation des Besitzes (in vier officia) – Bergrechte, Weinberge, monetäre und Naturalabgaben usw. – und bezeugt das wirtschaftliche Selbstverständnis und Interesse Graf Sigibotos. Die folgenden Seiten der Monographie widmen sich eher kursorisch den Falkensteinern bis zum Aussterben im späten 13. Jahrhundert. Bemerkenswert sind vor allem Freeds Ausführungen zu den Gründen des sogenannten Dynastensterbens im späten 12. und 13. Jahrhundert bzw. zum „Wunder Wittelsbach“, das dazu führte, dass die Herzöge 1255 eine erste „Landesteilung“ vornehmen konnten. Der Autor kehrt dabei zu den Argumenten Aloys Schultes zurück, der bereits 1910 bzw. in zweiter Auflage 1922 ein Konglomerat von Gründen annahm, die zum Verschwinden der Adelsfamilien im Hochmittelalter führten (Kreuzzüge, „Vermönchung“ des Letztgeborenen usw.).4 Freed relativiert allerdings die Bedeutung des kirchlichen Elements und hebt das Moment der Gewalt hervor: „Brute force determined rights“ (S. 420).
Insgesamt hat Freed mit seiner jüngsten Monographie die Ernte seines Forscherlebens verladen. Man muss hier nicht auf die wenigen Unsauberkeiten bezüglich Quellenausgaben, Orts-, Personen- und verhunzten Forschernamen et cetera hinweisen. Vielmehr wird man auch im Detail seine Arbeit konsultieren, gerade auch was die genealogische Bestimmung mancher in der Quelle Genannter betrifft, wozu ein verlässlicher Index die Voraussetzungen schafft. Zusammengefasst liefert die beherzt geschriebene Monographie einen gewichtigen, wenngleich im Detail wie in der grundsätzlichen Stoßrichtung gewiss zu diskutierenden Beitrag zum 12. Jahrhundert in Bayern und darüber hinaus, der neben Max Spindlers inhaltlich wie methodisch unübertroffene Studie5 treten kann und diese durch einen Blickwinkel aus Sicht der Mindermächtigen wertvoll ergänzt.
Anmerkungen:
1 John B. Freed, The Counts of Falkenstein. Noble Self-Consciousness in Twelfth-Century Germany (Transactions of the American Philosophical Society 74), Philadelphia 1984.
2 Patrick J. Geary / John B. Freed, Literacy and Violence in Twelfth-Century Bavaria. The "Murder Letter" of Count Siboto IV, in: Viator 25 (1994), S. 115–129; John B. Freed, Artistic and Literary Representations of Family Consciousness, in: Gerd Althoff / Johannes Fried / Patrick J. Geary (Hrsg.), Medieval Concepts of the Past. Ritual, Memory, Historiography (Publications of the German Historical Institute), Cambridge 2002, S. 233–252; Ders., Bavarian Wine and Woolless Sheep. The Urbar of Count Sigiboto IV of Falkenstein (1126–ca. 1198), in: Viator 35 (2004), S. 71–112; Ders., The Creation of the Codex Falkensteinensis (1166). Self-Representation and Reality, in: Björn Weiler / Simon MacLean (Hrsg.), Representations of Power in Medieval Germany 800–1500 (International Medieval Research 16), Turnhout 2006, S. 189–210.
3 Andreas Kraus, Heinrich der Löwe und Bayern, in: Wolf-Dieter Mohrmann (Hrsg.), Heinrich der Löwe (Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung 39), Göttingen 1980, S. 151–216.
4 Aloys Schulte, Der Adel und die deutsche Kirche im Mittelalter. Studien zur Sozial-, Rechts- und Kirchengeschichte (Kirchenrechtliche Abhandlungen 63/64), Stuttgart 1910.
5 Max Spindler, Die Anfänge des bayerischen Landesfürstentums (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 26), München 1937.