Als 1914 Millionen von Wehrpflichtigen mobilisiert wurden, kamen die Systeme sozialer Absicherung für Invaliden, Witwen und Waisen in den kriegführenden Staaten Europas schnell an ihre Grenzen. Der Zusammenhang von Krieg und Sozialpolitik und insbesondere der Umgang mit Kriegsversehrten sind auch für die Geschichte der Habsburgermonarchie und ihrer Nachfolgestaaten wichtige Forschungsthemen. Unter den bisher dazu veröffentlichten Studien ist insbesondere die von Verena Pawlowsky und Harald Wendelin vorgelegte Monographie über „Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938“1 zu nennen. Die Studie von Thomas Süsler-Rohringer, eine überarbeitete Fassung der 2019 eingereichten Dissertationsschrift, setzt unter dem Obertitel „Kriseninduzierte Kontinuität“ für diesen Themenbereich neue Akzente, obwohl auch sie Ungarn nur am Rand einbezieht. Möglich wird dies nicht zuletzt durch die intensive Beschäftigung mit den sozialpolitischen Entwicklungen der Vorkriegszeit sowie durch die Einbeziehung des militär- und innenpolitischen Kontextes. Bei der Analyse von „Regelungsstrukturen staatlicher Sozialpolitik“ (S. 12) orientiert sich Süsler-Rohringer an Governance-Konzepten.
Zunächst geht er auf sozialpolitische Felder der Vorkriegszeit ein, die in der Forschungsliteratur bislang separat behandelt wurden. Die Versorgung von nicht mehr dienstfähigen Berufsoffizieren und Berufssoldaten sowie ihrer Angehörigen wurde 1875 gesetzlich festgelegt, galt jedoch schon bald als reformbedürftig. Dem zuständigen Kriegsministerium gelangen aber angesichts knapper öffentlicher Kassen und schwelender Interessenskonflikte nur eng begrenzte Verbesserungen. Vergleichbares lässt sich parallel dazu in der „zivilen“ Sozialpolitik beobachten. Etablierte Governance-Modelle für die Unfall- und Krankenversicherung oder der Rentenversicherung für Angestellte wurden bis 1914 nicht grundlegend verändert, sondern nur behutsam und für Einzelaspekte angepasst. Die Leitlinien der Vorkriegszeit – auch für den Bereich der Rehabilitation – blieben, so die Analyse, dann auch noch über 1914 hinaus wichtig.
Der zweite Teil der Monographie ist der Fürsorge für die Kriegsversehrten im Weltkrieg gewidmet. Die finanziellen Versorgungsleistungen wurden – gerade auch auf Betreiben des Kriegsministeriums – ausgeweitet, die Kriegsversehrtenfürsorge neu strukturiert und Re-Integrationsmaßnahmen ausgehandelt. Süsler-Rohringer arbeitet hier unter anderem heraus, wie sich in Böhmen neue Strukturen der Fürsorgeadministration abzeichneten und welche Vorstellungen der Invalidenfürsorgereferent des Militärkommandos Leitmeritz / Litoměřice Hauptmann Karl Eger entwickelte. Die „Invalidenschule“ von Hans Spitzy, die Initiativen zur Integration in den Arbeitsmarkt und die Vorschläge von Eger zur Neugestaltung der Kriegsbeschädigtenfürsorge aus dem letzten Kriegsjahr finden sich auch bereits in der Studie von Pawlowsky und Wendelin.2 Süsler-Rohringer aber bettet insbesondere die Darstellung von Egers Initiativen gut nachvollziehbar in den Kontext der lokalen Diskussionen in Böhmen ein. Generell gelingt es ihm, durch eine breite und vielfältige Quellengrundlage, die Verbindung von Debatten in den Wissenschaften, in der Sozialpolitik und in der Verwaltungspraxis sichtbar zu machen. Gestützt auf Gesuche von Kriegsversehrten, einer weiteren Quellengattung, skizziert Süsler-Rohringer das Selbstbild dieser Kriegsopfer.
Kritisch setzt sich Süsler-Rohringer in seinem Buch mehrfach mit einem Beitrag von John Deak und Jonathan E. Gumz auseinander, die 2017 die These vertraten, Österreich-Ungarns Militärführung habe den Krieg dazu genutzt, die verfassungsmäßige Ordnung der Habsburgermonarchie gezielt zu untergraben.3 Die Konfrontation mit der Zivilverwaltung und der Justiz sei dabei oft bewusst gesucht und so der Rechtsstaat angegriffen worden. Für die Sozialpolitik lässt sich diese Konfrontationsstrategie aber, wie Süsler-Rohringer zeigen kann, nicht nachweisen. Dies spricht sicherlich dagegen, dem österreichisch-ungarischen Militär jede Bereitschaft zur Kooperation mit der Zivilverwaltung abzusprechen, bleibt jedoch für die Frage nach dem Verhältnis zum Rechtsstaat eher nachrangig.
Das Beispiel zeigt nicht zuletzt, dass Süsler-Rohringer in seiner Argumentation immer wieder auf aktuelle Forschungsdiskussionen eingeht und etablierte Deutungsmuster auf den Prüfstand stellt. Der verbreiteten Einschätzung, die Sozialpolitik der Habsburgermonarchie sei in den letzten Vorkriegsjahren von Stagnation gekennzeichnet gewesen, widerspricht er entschieden. Die von ihm nachgezeichneten Reformprojekte im militärischen wie im zivilen Bereich mündeten zwar aufgrund finanzieller und innenpolitischer Krisenlagen nicht in neue Gesetze, bewirkten aber Anpassungen in Teilbereichen und stellten so die Weichen für die Maßnahmen im Krieg. Reformfähig war, so Süsler-Rohringer, die militärische wie die zivile Sozialpolitik vor und im Ersten Weltkrieg durchaus und auch das Selbstverständnis der Kriegsversehrten sowie ihre Erwartungen an den Staat wandelten sich.
Süsler-Rohringer ergänzt den Forschungsstand zur Sozialpolitik der späten Habsburgermonarchie durch die systematische Verknüpfung von Vorkriegs- und Kriegszeit sowie die Verbindung von militärischer und ziviler Sozialpolitik, die insbesondere für die Governance der Kriegsversehrtenfürsorge wichtig geworden sei. Leider kommt Ungarn in dieser Analyse kaum vor, aber der Fokus auf Cisleithanien, also die – von Wien aus gesehen – diesseits der Leitha gelegenen Habsburgermonarchie ist alles andere als ein Alleinstellungsmerkmal und forschungspraktisch gut nachvollziehbar. Davon abgesehen gehört die Kontextualisierung der Fürsorge für Kriegsversehrte aber zu den besonderen Stärken der Untersuchung von Süsler-Rohringer.
Anmerkungen:
1 Verena Pawlowsky / Harald Wendelin, Die Wunden des Staates. Kriegsopfer und Sozialstaat in Österreich 1914–1938, Wien 2015.
2 Vgl. ebd., S. 93–192.
3 John Deak / Jonathan E. Gumz, How to Break a State. The Habsburg Monarchy’s Internal War, 1914–1918, in: American Historical Review 122 (2017), S. 1105–1136.