Manche Bücher sind Ereignisse im Leben des Forschers oder der Forscherin. Sie markieren einen Einschnitt im Denken – trotz aller Einsicht in die Kontinuität von Erkenntnisprozessen. Elizabeth Harveys Studie „Women and the Nazi East. Agents and Witnesses of Germanization“ ist so ein Buch, und die Lektüre der (sehr gut lesbaren, von Paula Bradish besorgten) deutschen Übersetzung ruft diesen ersten Eindruck wieder hervor.1 Als das Buch 2003 erschien, war es ein Pionier, weil seine Autorin das bekannte Wissensterrain überschritt und ein Gebiet erkundete, das bis zu diesem Zeitpunkt weitgehend unerforscht geblieben war: den Einsatz deutscher Frauen während des Zweiten Weltkriegs jenseits der „Heimatfront“, in den eroberten, besetzten und dann ein- oder angegliederten polnischen Ostgebieten. Dieser Raum war bislang vor allem als Kernland der von Männern betriebenen nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in den Fokus der Forschung geraten. Frauen gehörten, so schien es lange Zeit, zu den Opfern dieses Prozesses, aber nicht zu den beteiligten Akteuren, den Handelnden, den Tätern.
Zwar hatte die Geschlechtergeschichte Anfang der 2000er-Jahre bereits lange jene erste identifikatorische Phase hinter sich gelassen, in der Frauen zuerst und unterschiedslos durch Zeiten und Räume hindurch als Opfer des Patriarchats beschrieben worden waren. Das historische Material hatte sich dieser glatten Zuordnung der Geschlechter in Gut und Böse verwehrt; ambivalente Befunde waren zu integrieren und Forschungen systematisch zu differenzieren. Die Geschichtswissenschaft hatte sich auf die Suche nach einem Begriff zur Beschreibung der Beteiligung „ganz normaler Frauen“ (Gisela Bock) an der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gemacht.2 Die Wenigen, die als KZ-Aufseherinnen agiert hatten und auf die sich die Forschung lange Zeit (zu Recht) besonders konzentriert hatte, konnten kein Leitfall für die Analyse der Vielen sein. Erst Elizabeth Harvey hat, so meine ich, empirisch breit nach diesen „ganz normalen Frauen“ gesucht und ein spezifisches Beteiligungsfeld – die „Siedlerhilfe“ in den besetzten Ostgebieten – in den Blick genommen. Sie stellt jene Frauen ins Zentrum, die, als Angehörige des BDM oder des Reichsarbeitsdienstes, als von der NS-Frauenschaft geworbene Ansiedlerbetreuerinnen, als Lehrerinnen oder Kindergärtnerinnen, seit Anfang der 1940er-Jahre im „Osten“ zum Einsatz kamen. Diese Helferinnen kümmerten sich in vielfältiger Weise um die dort lebende deutsche Minderheit wie um die Volksdeutschen, die vor allem aus dem sowjetischen Machtbereich „heim ins Reich“ geholt worden waren. Sie richteten die Höfe her, die diese Familien übernehmen sollten und die (jüdischen) Polen gehört hatten; sie führten die Volksdeutschen an eine (nach NS-Vorstellungen) zeitgemäße Haushaltsführung und moderne Hygienestandards heran; sie unterrichteten sie in deutscher Sprache, erzogen ihre Kinder und sollten insgesamt Vorbild für die Volksdeutschen sein, die durch ihre langjährige Siedlung unter Slawen als Deutsche zweiter Klasse galten. Auf diese absurde Weise sollte der „Osten“ eingedeutscht werden. Ansiedlung und Vertreibung waren dabei, wie schon Götz Aly gezeigt hat, unauflöslich miteinander verquickte Prozesse; Entwurzelung und Enteignung hunderttausender Menschen waren Voraussetzung der Deutschtumspolitik. Frauen in den Blick zu nehmen, die bei der Siedlerbetreuung halfen, erweitert nicht nur unser Wissen über die NS-Geschlechtergeschichte, sondern auch und gerade über die Funktionslogik nationalsozialistischer Rassen- und Mordpolitik.
Harveys Buch über die weiblichen Osteinsätze erhellt so einen spezifischen historischen Kontext nationalsozialistischer Vernichtungspolitik. An diesem Beispiel werden die Aporien einer biologistischen Rassenpolitik besonders deutlich. Bevölkerungsgruppen zu vertreiben und zu ermorden, die den Rassenansprüchen des NS-Regimes nicht genügten, war eine Seite dieser Politik. Die andere war der absurde Versuch, die immer wieder beschworene „Reinheit des deutschen Blutes“ durch Erziehung, also sekundär, schaffen zu können. Die als minderwertig angesehenen Volksdeutschen sollten durch Vorbild und Erziehung in ‚richtige‘ Deutsche verwandelt werden (im englischen Original heißt es treffend bildhaft: „moulding the ethnic Germans into model Germans“ (S. 79)). Die Hauptaufgabe der Frauen war gerade nicht die biologische Reproduktion durch Mutterschaft, wie sie die Propaganda feierte, sondern eine sekundäre Reproduktion durch Erziehung, eine kulturelle Re-Generation. Zwar wurde aufwändig versucht, die vermeintlichen Unterschiede von „Reichs-“ und „Volksdeutschen“ biologisch zu definieren, nämlich als Verunreinigung des Blutes durch die lange Siedlung im Osten. Letztendlich aber markierten Kulturunterschiede das ‚Blutsniveau‘: Sprache, Sitten oder gar die Kleidung (waren die Trachten der Volksdeutschen slawisch oder urdeutsch?). Das Beispiel der reichsdeutschen Frauen vor Ort zeigt im Kleinen die unauflösbaren Aporien der Deutschtumspolitik im Ganzen. Und es legt offen, wie eng Eindeutschungs- und Ausgrenzungspolitik zusammenhingen: oft unmittelbar, nachdem die polnischen Familien vertrieben worden waren, ‚säuberten‘ die Helferinnen deren Häuser und richteten sie für die Ankunft der Volksdeutschen her. Diese spezifisch weibliche Form der Säuberung mit dem Besen ist ein genuiner Bestandteil nationalsozialistischer Vertreibungs- und Vernichtungspolitik.
Wie paradox die Aufgabe der deutschen Frauen in den besetzten Ostgebieten war, wird in Harveys Untersuchungen zu den deutschen Kindergärten in weiter östlich gelegenen Distrikten des Generalgouvernements besonders klar herausgestellt. Die hier ansässigen Deutschen waren zunächst in den Warthegau umgesiedelt worden, um dort einen flächendeckend deutsch besiedelten Raum zu schaffen. Nach dem Angriff auf die Sowjetunion im Juni 1941 bezog man das Generalgouvernement jedoch in die Siedlungspläne ein. Gerade an dieser nur dünn von Deutschen besiedelten Außengrenze des Reiches galt es nun, möglichst viele ‚eindeutschungsfähige‘ Personen zu finden – und an der „Fahndung nach deutschem Blut“ waren auch deutsche Frauen beteiligt. Dass Deutschsein eine Definitionsfrage und keine biologische Tatsache war, zeigt sich hier deutlich. Mitten im Krieg war die Eindeutschungspolitik, wie Harvey betont, zudem eine pragmatische Strategie: „In Wahrheit ging es weniger darum, ‚verlorene‘ Deutsche zurückzuholen, als vielmehr um die Neutralisierung eines Teils der lokalen Bevölkerung für die Dauer des Kriegs.“ (S. 325)
In einem solchen Rahmen war die Frage der Kindererziehung zentral: Bei den noch formbaren Kindern war anzusetzen, hier sah man den Urgrund für den deutschen Osten der Zukunft. Auch die erwachsenen Volksdeutschen wurden allerdings als zu erziehende Kinder betrachtet, wie Harvey aus den Tätigkeitsberichten von Kindergärtnerinnen herausliest. Diese Infantilisierung, so wäre hinzuzufügen, war logischer Teil einer Re-Generationspolitik, die darauf ausgelegt war, Volksdeutsche von Grund auf neu kulturell zu prägen und dies als ‚Blutwäsche‘ auszugeben. Die Volksdeutschen sämtlich als Kinder zu betrachten und zu behandeln, speiste zudem, das zeigen Harveys Beispiele immer wieder, ein spezifisch weibliches Machtgefühl. Die deutschen Helferinnen wähnten sich auch Männern, den volksdeutschen und mehr noch den polnischen und polnisch-jüdischen Männern, überlegen: Viel mehr als im Zentrum des „Reiches“ schien an der Peripherie des Reiches das traditionelle Geschlechterverhältnis außer Kraft gesetzt.
Das Beispiel der in Galizien eingerichteten Kindergärten frappiert aber noch aus einem anderen Grund: Die Sorge um die Kinder ging harmonisch mit einer Ignoranz gegenüber den Opfern des Germanisierungsprozesses zusammen. So bemächtigten sich Kindergärtnerinnen etwa des Hab und Guts der vertriebenen und ghettoisierten Juden. Marie E. schrieb in einem Brief: „Was ich an Einrichtungsmaterial nötig habe, und die Möglichkeit besteht, beschlagnahme ich für meinen Betrieb. [...] Jetzt ist noch in Arbeit eine Apotheke und ein Handwerkskasten, auch noch ein Griff für einen Puppenwagen (den fand ich im Ghetto).“ (S. 356) Dieses Zitat belegt das Machtgefühl, das Frauen gerade in der Sondersituation in den besetzten Ostgebieten durchdrang und das sie mitunter auch motiviert haben mag, einen „Osteinsatz“ anzunehmen.
Aus Harveys Buch lässt sich eindrucksvoll lernen, wie Grenzziehungen im Raum zugleich zwischengeschlechtliche, zwischenmenschliche Grenzen verschieben können. Die Gender-Forschung hat diesen Kunstgriff, die Übertretung von Geschlechtergrenzen an konkreten territorialen Grenzen zu untersuchen, nur selten angewendet. Harvey zeigt, wie fruchtbar das ist.
Anmerkungen:
1 Vgl. Elizabeth Harvey, Women and the Nazi East. Agents and Witnesses of Germanization, New Haven/London 2003.
2 Vgl. Gisela Bock, Ganz normale Frauen. Täter, Opfer, Mitläufer und Zuschauer im Nationalsozialismus, in: Kirsten Heinsohn/Barbara Vogel/Ulrike Weckel (Hrsg.), Zwischen Karriere und Verfolgung. Handlungsräume von Frauen im nationalsozialistischen Deutschland, Frankfurt a.M./New York 1997, S. 245-277.