Seit 2018 widmet sich ein an der Technischen Universität Braunschweig angesiedeltes, von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördertes Projekt der „Nationaljüdische[n] Jugendkultur und zionistische[n] Erziehung in Deutschland und Palästina zwischen den Weltkriegen“. Den zeitgeschichtlichen Hintergrund bilden nationalistisches Denken und antijüdische Ressentiments, die ihren Niederschlag in jugendkulturellen Zusammenschlüssen fanden und zu Ausgrenzung sowie Diskriminierungserfahrungen vieler junger Jüdinnen und Juden beitrugen. Zeitgleich begann die Vision einer jüdischen Heimstatt Gestalt anzunehmen, die mit dem Schlagwort „Zionismus“ umrissen werden kann. Sie war mit facettenreichen Vorstellungen der Befähigung für die „Alija“, das heißt der Einwanderung nach Palästina und der Errichtung von Kibbuzim verbunden. Der Vorbereitung auf ein Leben in diesen sozialistisch und zionistisch inspirierten Gemeinschaftssiedlungen dienten diverse „Hachschara“-Stätten: Die gemeinschaftsstiftenden Formen des zeitweisen Zusammenlebens auf landwirtschaftlichen Gütern, in Gartenbauschulen und anderen Ausbildungsstätten beinhalteten vielfach Elemente eines Miteinanders, die in jugendbewegten Gruppierungen verbreitet waren. Nach dem Ersten Weltkrieg fand diese Zukunftsperspektive verstärkt bei jungen Jüdinnen und Juden Resonanz. Nach 1933 gewann sie als möglicher Rettungsweg vor der NS-Verfolgung noch einmal mehr an Bedeutung.
Der vorliegende Sammelband dokumentiert Ergebnisse der zweiten Förderphase dieses Projekts.1 Mit dem Titelstichwort „im Übergang“ betonen die Autor:innen Folgendes: Als sich junge Jüdinnen und Juden angesichts zunehmender antisemitischer Tendenzen in ihren Geburtsheimaten auf ein Leben in Palästina oder auch andere Auswanderungsmöglichkeiten vorzubereiten begannen, gaben sie Vertrautes auf. Es erwartete sie eine ungewisse Zukunft. Ihr Aufbruch ging mit Verlusterfahrungen einher, er war von existenziellen Ängsten begleitet, aber auch von einem stärkenden Gefühl der Zusammengehörigkeit in ihren Gemeinschaften und dem Glauben an die Kraft der „(Selbst-)erziehung“ getragen (Einleitung, S. 4). Der Schwerpunkt des Bandes liegt zum einen auf den transnationalen Vernetzungen der Akteur:innen einzelner jüdischer Jugendbewegungen. Des Weiteren befassen sich die Beiträger:innen mit facettenreichen Transferprozessen, mit dem Fortleben jugendbündischer Traditionen in Kibbuz-Gemeinschaften, Konflikten zwischen Mitgliedern von Gruppierungen unterschiedlicher erzieherischer und weltanschaulicher Vorstellungen oder mit den Auswirkungen von Extrembelastungen in Palästina. Sie berücksichtigen bislang nicht ausgewertete schriftliche und visuelle Quellen, verweisen wiederholt auf nach wie vor bestehende Desiderate und entwickeln Perspektiven für die Weiterarbeit.
Vermisst habe ich einen Hinweis auf Katharina Hobas Arbeit „Generation im Übergang. Beheimatungsprozesse deutscher Juden in Israel“ aus dem Jahre 2017 mit einigen für das Braunschweiger Projekt durchaus zentralen Stichworten – eine Dissertation, die der Kulturwissenschaftler Joachim Schlör betreut hat.
In dem Braunschweiger Projekt stehen die Jahre 1933 bis 1945 und Übergangsprozesse von Jüdinnen und Juden im Mittelpunkt, die aus Zentraleuropa flohen und zumeist nach Palästina, hin und wieder auch in die USA oder nach Lateinamerika einwandern wollten. Die zeitliche und räumliche Begrenzung mag eine pragmatische Entscheidung sein. Allerdings umfassten die Entwurzelungs- und Neubeheimatungsprozesse vielfach wesentlich längere Zeiträume und Aufenthalte in weiteren Ländern und Kontinenten.
Auf einige der elf in dem vorgestellten Band versammelten, „überwiegend auf mikrohistorischen Studien“ gründenden Beiträge sei näher eingegangen (Einleitung, S. 16). Ulrike Pilarczyk schildert in ihrem Aufsatz „Einmal Kibbuz und Zurück. Zionistische Jugendbewegung zwischen Deutschland und Palästina 1926–1930“ am Beispiel dreier Hauptakteure einer Hachschara-Gründung im westfälischen Hameln eindrücklich den „Prozess des Übergangs“ (S. 53). Sie lebten während ihres Aufenthalts in Palästina unter Extrembedingungen und ihre Erfahrungen gestalteten sich dort ausgesprochen konfliktreich. Pilarczyk schreibt: „Jede und jeder hatte für sich und mit der Gemeinschaft einen radikalen Neuanfang zu bewältigen, der […] auch eine radikale Entwurzelung bedeutete.“ „Leere und Hoffnungslosigkeit“ seien bezeichnend für „lokale und mentale Zwischenräume“, „Transiträume, die Migration wohl generell kennzeichnen“ (S. 53). Zu den Verunsicherungen der Neuankömmlinge in „Erez Israel“ trug auch die Frage des Miteinanders mit den arabischen Bewohner:innen Palästinas bei, die in Pilarczyks Beitrag kurz angesprochen wird und der sich Einat Nachmias in seinem Beitrag „Zwischen ‚Dort‘ und ‚Hier‘: ‚Die arabische Frage‘ in den kollektiven Tagebüchern der Jugend-Gemeinschaften in Erez Israel“ widmet. Dieser Aspekt führt Leser:innen des Sammelbandes ein Grundproblem der israelischen Staatsgründung vor Augen, das auch nicht jugendbewegt zionistische Gruppen sowie zudem über die israelische Staatsgründung hinaus beschäftigte und noch beschäftigt.2
Lieven Wölk befasst sich unter der Überschrift „Militärische Selbstbilder deutsch-jüdischer Jugend? Schriftliche Selbstentwürfe und fotografische Inszenierungen im Jugendbund Schwarzes Fähnlein“ mit spezifischen Männlichkeitsvorstellungen, die sich nicht nur in dieser Gruppierung nachweisen lassen. Sie sind vielmehr Kennzeichen weiterer Bünde, in denen das Auftreten in „Kluft“ – also einheitlicher Kleidung – sowie das Antreten zum Appell stilgebend waren. An die Stelle von Laute und Gitarre traten verstärkt Trommeln und Trompeten und mit diesen auch Rhythmen, nach denen die Jugendlichen marschierten. Mit dem „Schwarzen Fähnlein“ werden geschlechtergeschichtliche Aspekte beleuchtet und zudem eine Gruppe, die zeitlich „im Übergang“ zwischen Ende der Weimarer Republik und beginnender nationalsozialistischer Unrechtsherrschaft existierte.
Europäische Perspektiven werden in Anca Filipovicis Aufsatz über einen für die jüdische Jugendbewegungsgeschichte bedeutenden Bund eröffnet. Der Aufsatz thematisiert ausschnitthaft eine hierarchisch organisierte, an den Pfadfindern orientierte Erziehungsgemeinschaft, deren Bedeutung nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Vergemeinschaftung jüdischer Heranwachsender nach der Shoah kaum zu unterschätzen ist.3
Um ein weiteres Beispiel zu geben: Wiebke Zeil untersucht eine der prominentesten und gleichwohl bislang nicht annäherungsweise hinreichend erforschten Hachschara-Stätten: Groß Breesen, ein zeitweiliger Ort des Lernens, Arbeitens und der Geborgenheit für junge Jüdinnen und Juden in Erwartung eines Neuanfangs in Übersee – beispielsweise den USA oder Argentinien. „Zwischen landwirtschaftlicher Ausbildung und geistiger Gemeinschaft: Das jüdische Auswandererlehrgut Groß-Breesen“ überschreibt die Autorin ihren Beitrag und verweist so auf die in der Tat bemerkenswerte Verbundenheit einstiger Breesener:innen. Deren über Jahrzehnte hinweg geführte Korrespondenz und weitere überlieferte Quellen machen die Breesen-Geschichte zu einem besonders geeigneten Untersuchungsgegenstand für eine Vernetzungsstudie.
Von sechs weiteren Aufsätzen befassen sich zwei mit geschlechtergeschichtlichen Fragen: Esther Carlem Hakim mit der Landwirtschaftsausbildung junger jüdischer Frauen, Daniela Bartàková mit Männlichkeitsvorstellungen in tschechoslowakischen Jugend-Gruppierungen. Auf Untergrundaktivitäten in den Niederlanden richtet Hans Schippard den Blick. Nora M. Kissling untersucht Briefwechsel, in denen Vernetzungen zwischen New York, Jerusalem, London und Berlin sichtbar werden. Beate Lehmann stellt mit Werner Senator einen Hauptakteur der Jewish Agency vor und Knut Bergbauer fragt nach länderübergreifenden Vernetzungen junger Zionist:innen während ihres „Unterwegs“-Seins.
Es gibt, so lässt sich abschließend zusammenfassen, viel zu tun. Fächer- und institutionenübergreifende transnationale Projekte lassen bereits jetzt Möglichkeiten zur Weiterarbeit erkennen. Dazu gehört eine Kartierung von Hachschara-Stätten, zu der Wiebke Zeil beigetragen hat.4 Vielversprechend ist nicht zuletzt das am Moses Mendelsohn Zentrum für Europäisch-Jüdische Studien angesiedelte Projekt „Geschichte der deutsch-jüdischen Diaspora“.5 Eine Aufgabe künftiger Untersuchungen wird darin bestehen, mikrohistorische Perspektiven immer wieder in übergeordnete Kontexte einzubinden. Im Blick zu behalten sind Forschungen zu(r) nicht-jüdischen Jugendbewegung(en) oder jugendkulturelle Wandlungsprozesse in weiteren zeitlichen und räumlichen Kontexten. Vielleicht lassen sich stärker als bisher auch die Stimmen von Psycholog:innen und Psychoanalytiker:innen berücksichtigen, in denen die Bedeutung haltgebender Gemeinschaften thematisiert werden oder die schwerwiegenden seelischen Belastungen von Gewalt- und Verlusterfahrungen sowie stärkende und schützende Faktoren unter den Bedingungen existenzieller Angst Gegenstand sind.
Anmerkungen:
1 Vgl. Zwischen Alija und Flucht. Jüdische Jugendbünde und zionistische Erziehung unter dem NS-Regime und im vorstaatlichen Israel 1933–1945, in: DFG-Forschungsprojekt „Nationaljüdische Jugendkultur und zionistische Erziehung in Deutschland und Palästina zwischen den Weltkriegen“, https://www.juedischejugendkultur.de (30.08.2024).
2 Vgl. Barbara Stambolis, Überlebenswege deutsch-jüdischer Ärzte und Ärztinnen. Der Chirurg Max Marcus und andere Persönlichkeiten zwischen Heimatverlust und Neuanfang, Gießen 2021, S. 78–84, S. 127.
3 Vgl. Barbara Stambolis, Haltgebende Gemeinschaften auf unsicherem Grund. Jüdische Jugendbewegungen im Schatten der Shoah 1945–1948, in: Meike Sophia Baader / Till Kössler / Dirk Schumann (Hrsg.), Jugend – Gewalt. Erleben – erörtern – erinnern (Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung 18), Göttingen 2023, S. 223–239.
4 Vgl. Wiebke Zeil, Jüdisches Auswanderergut Groß Breesen, in: Hachschara als Erinnerungsort, https://hachschara.juedische-geschichte-online.net/ort/14 (30.08.2024). Vgl. auch Barbara Stambolis, Fotografien eines ländlichen Zufluchtsorts (Groß Breesen). Jüdische Deutsche in Erinnerung an ihre verlorene Jugend, in: Countryside(s) – Fotografische Konstruktionen des Ländlichen, 25./27.09.2024, https://www.alltagskultur.lwl.org/de/blog/tagung-countryside-s-fotografische-konstruktionen-des-landlichen/ (30.08.2024).
5 Vgl. Geschichte der deutsch-jüdischen Diaspora, in: Moses Mendelsohn Zentrum für Europäisch-Jüdische Studien (MMZ), https://diaspora.juedische-geschichte-online.net/ (30.08.2024).