Der Buchrücken kündigt eine „regionale Vereinigungsgeschichte“ an. Das weckt hohe Erwartungen, denn der deutsche Vereinigungsprozess seit 1989/90 wurde bislang vor allem aus nationaler Perspektive erzählt. Erst in jüngster Zeit werden auch regionalgeschichtliche Perspektiven ausgelotet.1 Zugleich denkt man beim Vorhaben einer „regionalen Vereinigungsgeschichte“ nicht zuallererst an Westfalen. Damit stößt der kompakte Band von Thomas Küster, Mitarbeiter des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte in Münster, in eine doppelte Forschungslücke. Obwohl die sozio-ökonomischen Umbrüche in Westdeutschland und -europa von den 1970er-Jahren bis circa 2000 seit über 15 Jahren intensiver erforscht werden2, blieben die Jahre seit 1990 dabei erstaunlich unterbelichtet. Die seit einigen Jahren boomende historische Transformationsforschung, die sich den 1990er-Jahren widmet, konzentriert sich dagegen bislang auf die Geschehnisse in Ostdeutschland und Ost(mittel)europa – sieht man einmal von Philipp Thers These der Kotransformation ab.3
Westfalen, so der Ausgangspunkt des Buches, musste sich nach dem Ende des Kalten Krieges besonders mit den Folgen der Entmilitarisierung auseinandersetzen. Das macht die Region zu einem interessanten, gleichwohl spezifischen Untersuchungsfall für eine regionale Zeitgeschichte seit 1990, aber noch nicht automatisch zum Gegenstand einer „regionalen Vereinigungsgeschichte“. Doch der Band beschränkt sich nicht auf das Feld des Militärischen. Vielmehr wagt Küster auf rund 200 Seiten einen Rundumschlag und fragt, wie sich die Umbrüche seit 1989/90 in weiteren zentralen Bereichen wie Migration und Bevölkerung, Verwaltung, Wirtschaft und Verkehr sowie Politik und Sozialem niederschlugen. Aber auch dieses Tableau zeigt, dass der Fokus weit über eine „Vereinigungsgeschichte“ hinausweist. Vielmehr geht es um die Entwicklung der Region Westfalen insgesamt, die auch, aber nicht nur vom Prozess der deutsch-deutschen Vereinigung geprägt war. Warum der Autor vor diesem Hintergrund und trotz des einleitenden Kapitel-Titels „Entgrenzung und Transformation“ in der Analyse kaum bzw. erst in der Bilanz auf den breiteren, offeneren, wenngleich ebenfalls nicht unproblematischen Transformationsbegriff zurückgreift, erschließt sich nicht. Ebenso erklärungsbedürftig ist die Quellenauswahl. Küster beschränkt sich auf gedruckte Jahresberichte, Statistiken, Prognosen, Verbandszeitschriften und wenige Archivalien, ohne diese Auswahl näher zu erläutern. Zudem fehlen quellenkritische Bemerkungen, was insofern problematisch ist, als Daten über Westfalen als Region ohne administrative Grenzen kaum zu erfassen sind. Insgesamt ist der Band einer klassischen Politik- und Sozialgeschichte verpflichtet. Es überwiegen statistische Analysen. Damit trägt das Buch zur regionalgeschichtlichen Grundlagenforschung bei, liefert aber auch die eben angesprochenen Quellenprobleme mit.
So beleuchtet das zweite Kapitel (nach der Einleitung) die Auswirkungen unterschiedlicher Migrationsbewegungen nach 1989 auf Nordrhein-Westfalen (NRW), aber nicht auf Westfalen im Besonderen. Dabei arbeitet Küster heraus, dass NRW nicht das bevorzugte Zielland der Ostdeutschen war. Das habe vor allem an der Strukturschwäche und der großen Entfernung NRWs von den ostdeutschen Heimatregionen gelegen. Viel wichtiger für NRW seien dagegen postsowjetische Wanderungsbewegungen aus Russland, Kasachstan und der Ukraine gewesen. Das Kapitel ist mit statistischen Daten etwas überfrachtet und thematisiert erfahrungsgeschichtliche Dimensionen von Migration nur am Rande.
Das dritte Kapitel konzentriert sich auf ost-westdeutsche Kooperationen beim Verwaltungsaufbau in Brandenburg, dem Partnerland NRWs, sowie auf entsprechende Kooperationen zwischen Kirchen, Verbänden und Kammern. Obwohl zwischen 1990 und 1994 schätzungsweise rund 4.000 „Aufbauhelfer“ aus NRW in Brandenburg tätig gewesen seien, weist Küster die pauschale These einer „Eroberung“ der ostdeutschen Verwaltungen durch Westdeutsche zurück (S. 84). Vielmehr betont er die große Hilfsbereitschaft, die auch in Kirchen, Verbänden und Kammern dominiert habe, wenngleich er nicht verschweigt, dass in diesen Kooperationen stets eigene Interessen mitschwangen. Im Grunde aber bestätigt Küster in diesem Kapitel das geläufige Bild eines insgesamt erfolgreichen „Aufbaus Ost“ nach westdeutschem Vorbild, während sich Rückwirkungen auf Westfalen nicht belegen ließen.
Auch das vierte Kapitel über Wirtschaft und Verkehr vermittelt den Eindruck, dass Westfalen nur sehr begrenzt vom Vereinigungsprozess tangiert wurde. Wirtschaftlich sei die Region auf das strukturschwache Ruhrgebiet ausgerichtet gewesen, weshalb die mittelständische Wirtschaft schon vor 1989 alle Hoffnungen in das Binnenmarktprojekt der Europäischen Gemeinschaft bzw. seit 1993 der Europäischen Union gelegt habe. Daran habe sich durch die deutsche Einheit nichts geändert. Erst die großzügigen Infrastrukturhilfen, die günstigen Grundstückspreise und die Steuervorteile in den neuen Bundesländern hätten westfälische Unternehmen zu Investitionen in Ostdeutschland bewegt – mitunter sogar zum Nachteil westdeutscher Standorte. Zudem habe die westfälische Wirtschaft vom vereinigungsbedingten Autobahnausbau, von der Konsum- und Investitionsgüternachfrage sowie vom „Bauboom“ in den neuen Bundesländern profitiert. Insgesamt jedoch seien „nachweisbare positive Wirkungen der Vereinigung“ (S. 121), aber auch langfristig negative Wirkungen der Einheit auf Westfalen ausgeblieben. Die Wachstumsschübe seit 2005 seien vielmehr auf Branchendynamiken, die enge Verbindung von Produktion und Forschung, den starken sekundären Sektor, die Überwindung des Strukturwandels in der Textil- und Möbelindustrie sowie das an Bedeutung gewinnende Chinageschäft zurückzuführen.
Die beiden letzten Kapitel, die sich mit der Konversion ehemaliger Militärflächen sowie mit der politischen Kultur und der Sphäre des „Sozialen“ befassen, wobei die Zusammenfassung der beiden letztgenannten Themenfelder in einem Kapitel recht konstruiert wirkt, runden den Gesamteindruck ab, den das Buch vermittelt: Globalisierungs- und Europäisierungsprozesse tangierten die Region Westfalen mehr als Fragen der deutschen Vereinigung. Der bis zum Jahr 2020 gestreckte Abzug britischer Militäreinheiten nach dem Ende des Kalten Krieges ging nicht nur mit dem Verlust zahlreicher Arbeitsplätze im zivilen Bereich einher. Vielmehr habe dieser auch einen Wandel der Machtverhältnisse vor Ort impliziert. Standorte, die lange Zeit dem Nordatlantikpakt (NATO) unterstanden hatten, wurden kommunale Flächen, die aber zugleich mithilfe europäischer Fördermittel konvertiert wurden. Damit liefert Küster ein anregendes Beispiel für die Neuverhandlung von globalen, transatlantischen, europäischen und lokalen Zusammenhängen, deren Dynamiken künftig noch tiefgreifender untersucht werden sollten.
Das letzte Kapitel (Fazit) stellt noch einmal die Frage nach Ost-West-Transfers, die Küster aber als sehr begrenzt betrachtet. Die politische Stimmungslage in NRW sei durch die Einheit nicht nachhaltig beeinflusst worden, Expert:innen aus den neuen Bundesländern seien in NRW nicht zu finden gewesen, und die aus der Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) hervorgegangene Linkspartei habe erst seit 2009 auf kommunaler Ebene an Bedeutung gewonnen. Diese Befunde überraschen nicht. Ärgerlich ist indes, dass die unter „Soziales“ subsummierten Unterkapitel zur Sozialpolitik, Zivilgesellschaft und regionalen Erinnerungskultur kaum NRW- oder Westfalen-Bezug aufweisen, sondern – sieht man von der bloßen Aufzählung regionaler Erinnerungsinitiativen ab – fast ausschließlich auf die Nation bezogen bleiben und damit lediglich den überregionalen Forschungsstand beschreiben. Zudem haben sich in diesem Kapitel kleinere Ungenauigkeiten eingeschlichen. So fand die Bundestagswahl 1990 nicht im Herbst statt (S. 161), sondern am 2. Dezember. Die Formulierung vom „Vereinigungsprozess, der noch Jahre währen […] sollte“ (S. 168), ist zudem unglücklich. Hat dieser Prozess denn bereits ein Ende gefunden? Dazu gibt es zumindest unterschiedliche Positionen.
Thomas Küster kommt zu dem wenig überraschenden Schluss, dass die deutsche Einheit nicht zu den primär prägenden Faktoren der Geschichte Westfalens seit 1989/90 zähle. Vielmehr hätten die Globalisierung und Europäisierung der Region einen stärkeren Stempel aufgedrückt. Eine erfahrungsgeschichtliche Schwerpunktsetzung hätte hier womöglich zu etwas differenzierteren Ergebnissen geführt. Gleichwohl hat Küster gut daran getan, sich nicht auf eine „regionale Vereinigungsgeschichte“ zu beschränken, sondern von Anfang an die Dimensionen des Globalen und Europäischen einzubeziehen. Damit befindet sich das Buch ganz auf der Höhe einer modernen Regionalgeschichte, die sich ohne eine Berücksichtigung dieser Dimensionen nicht mehr seriös schreiben lässt. Zugleich offenbart das Buch dabei auch konzeptionelle Schwachstellen. So bedarf es noch einer präziseren theoretischen Diskussion darüber, wie sich künftig eine integrierte Regional-, Vereinigungs-, Europäisierungs- und Globalisierungsgeschichte schreiben lässt. Der bilanzierende und auf Philipp Ther verweisende Satz demonstriert die Notwendigkeit genauerer Begriffsbildungen, die Küster nicht liefert: „Die Bundesrepublik erlebte keine mit der Umwälzung Osteuropas korrespondierende Kotransformation, sondern war in eine allgemeine Transformation der westlichen und östlichen Gesellschaft einbezogen.“ (S. 215) Die notwendige begriffliche Debatte müsste auch mit der Bereitschaft einhergehen, sich von der Logik nationaler Debatten zu lösen und offen zu fragen, wie trennscharf Prozesse der Vereinigung mit den noch immer wirkmächtigen Leitkategorien „Ost“ und „West“ sowie Prozesse der Globalisierung und Europäisierung überhaupt analysiert werden können.
Anmerkungen:
1 Matthias Frese / Thomas Küster / Malte Thießen (Hrsg.), Varianten des Wandels. Die Region in der jüngsten Zeitgeschichte 1970–2020, Paderborn 2023.
2 Zurückgehend auf Anselm Doering-Manteuffel / Lutz Raphael, Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte seit 1970, 3. ergänzte Aufl, Göttingen 2012 (1. Aufl. 2008).
3 Philipp Ther, Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa, aktualisierte Ausg., Berlin 2016 (1. Aufl. 2014).