Schon immer war der Jazz in Deutschland auf konträre Resonanz gestoßen: verehrt von einer kleinen Minderheit, abgelehnt und teils intensiv gehasst von Anhängern der Klassik und des Walzers. In der Kulturpolitik der Nazis bekämpft mit rassistischen, antisemitischen und antiamerikanischen Begründungen, war es kein Wunder, dass er von seinen Anhängern nach 1945 umso mehr als Sound der Freiheit gefeiert wurde. Gleichzeitig dokumentierte sich im anhaltenden Widerstand der Bevölkerungsmehrheit die Persistenz traditionalistischer Ressentiments. Angesichts der Anwesenheit afroamerikanischer Soldaten wurde Jazz umso mehr als ein Symbol kosmopolitischer, antirassistischer und libertärer Kulturimpulse aus Übersee wahrgenommen, die die deutsche Jugend zu verführen drohten. Der Literaturwissenschaftler Stephan Braese untersucht, mit welchen Argumenten und in welchem Ausmaß zwischen 1945 und den frühen 1960er-Jahren in der Bundesrepublik dem Jazz die Qualität einer „Gegenkultur“ zugeschrieben wurde.
Die Studie basiert auf einer beeindruckend großen Menge an Primär- und Sekundärliteratur, während unveröffentlichtes Material außen vor bleibt. Braese betrachtet nicht weniger als 19 Fallbeispiele, an denen er untersucht, inwieweit Jazz „als Gegenkultur“ figurierte, wobei sich die Frage ihres Verhältnisses zum Mainstream als ebenso fruchtbar wie problematisch erweist. Meist stehen Diskurse im Mittelpunkt – untersucht an einem erfreulich breiten medialen Spektrum (Jazzbücher, theoretische Artikel, literarische Texte, Fotobücher, Zeitschriften, Filme) –, weniger eingehend Deutungen und Praktiken von jugendlichen Akteurinnen und Akteuren. Die Analyse in den Fallstudien fällt unterschiedlich intensiv aus: Mal werden fast dreißig Seiten aufgewandt, mal sind es lediglich acht oder zehn. Aneinandergereiht fügen sie sich zu einem Bogen, der schon mit den Überschriften der fünf Hauptkapitel Deutungskonjunkturen hervortreten lässt: Einem „Kampf um Selbstbestimmung 1945–1950“ nach der NS-Diktatur schließt sich der „Durchbruch in die Diskurse 1951–1954“ an, dem eine Ausdifferenzierung in „Höhenkamm und Underground 1958–1959“ folgt. Mit der Etablierung „Zwischen Zeitgeist und Mode 1958–1960“ setzt zugleich der Niedergang des Jazz als „Gegenkultur“ ein, der nur bekräftigt wird durch einige „Aus- und Nachklänge“ – isolierte Reminiszenzen einer verblühten Counterculture, die am Ende der 1960er-Jahre dann von anderen musikalischen Stilen verkörpert wird. Geschrieben ist das Buch in einem gelehrten Tonfall. Über weite Strecken erzeugen die elaborierten, theoretisch reflektierten und die Quellen fein sezierenden Überlegungen des Autors einen argumentativen Sog, dem man sich gern hingibt.
Die Überzeugungskraft des Bandes resultiert daraus, dass er die verbreitete Annahme, Jazz sei in den 1950er-Jahren selbstverständlich „Gegenkultur“ gewesen, von vornherein konterkariert und stattdessen jeweils näher untersucht, inwieweit ihm diese Qualität appliziert wurde. So arbeitet Braese etwa heraus, dass Joachim-Ernst Berendts „jazzbuch“ von 1953 keineswegs den Oppositionsgeist einer jugendlich-intellektuellen Minorität unterstützen sollte, sondern, ganz im Gegenteil, die „versöhnende Qualität des Jazz“ (S. 196) in den Mittelpunkt stellte und – wie auch schon in seinem ersten Jazzbuch von 1950 – um eine kulturelle Aufwertung bemüht war. Es ging darum, dem Jazz Respektabilität zu verschaffen, indem man ihn zu „Kunst“ adelte und seine Aufnahme in den Kanon der Hochkultur erstrebte. Auch andere Beispiele, etwa ein Text Wolfgang Borcherts von 1947 oder der Musikfilm „Hallo, Fräulein – !“ von 1949 enthalten keinerlei Devianz, sondern dienten der Rehabilitierung Deutschlands nach dem verlorenen Krieg. Ex negativo zeigt sich die gegenkulturelle Qualität des Jazz indes anhand einer Anti-Jazz-Kampagne der Zeitschrift „Hör Zu!“ von 1947/48, die hier ausführlich analysiert wird.
In den frühen 1950er-Jahren verbesserten sich die Voraussetzungen für eine oppositionelle Wahrnehmung; zum einen, weil positive Jazz-Deutungen stärker popularisiert wurden – trotz seines konservativen Charakters schreibt der Autor Berendts „jazzbuch“ daher eine „objektiv subversive Funktion“ zu (S. 129). Mit der 1951 erschienenen deutschen Übersetzung des berühmten Buches „Jazz. A People’s Music“ des kommunistischen US-Kulturtheoretikers Sidney Finkelstein lag schließlich eine viel rezipierte materialistische und antirassistische Analyse vor, die eine solide Basis für die Interpretation von Jazz als Protest abgab. Aber auch auf der formalen Ebene häuften sich derartige Zeichen, wie Braese etwa in einer schönen Analyse von Berendts Bildband „Jazz optisch“ (1954) zeigt: Die ausgewählten Fotografien bekräftigten die Absicht einer Nobilitierung des Jazz, wohingegen die Kleidung der Künstlerinnen und Künstler Normabweichung symbolisierte und daher als Zeichen der Gegenkultur zu dechiffrieren war. Vollends wird eine solche Deutung sichtbar in Louis Malles Film „Fahrstuhl zum Schafott“ (1958), von der Kritik nahezu einhellig abgelehnt und schon deshalb interessant für existenzialistisch gestimmte Minderheiten.
Überzeugend ist „Cool“ dort, wo das Buch mediale Diskurse und Wahrnehmungen der Jazz-Adepten rekonstruiert, weniger dort, wo es der Musik selbst ein gegenkulturelles Potenzial attestiert – weil zwar postuliert, aber nicht eingehender begründet wird, dass Jazz über eine „genuin kritische Qualität“ (S. 261) verfügt habe.1 Dass Miles Davisʼ Cool Jazz „das traditionelle kritische Dispositiv afroamerikanischer Musik in eine Aktualisierung“ trieb, die „die westliche, technokratisch deformierte Nachkriegs-Moderne mit bis dato beispielloser Präzision“ erfasst haben soll (S. 260, dortige Hervorhebung), ist eine derart voraussetzungsvolle und daher wackelige Konstruktion, dass es schwerfällt, ihr ohne weiteres zuzustimmen. Sicheren Boden betritt der Autor hingegen, wenn es um Literatur geht. So überzeugt die am konkreten Text und seiner Rezeption belegte Analyse des 1959 in deutscher Übersetzung erschienenen Beat-Romans „On the Road“ von Jack Kerouac (deutscher Buchtitel: „Unterwegs“) als Porträt eines musikalisch am Jazz orientierten radikalen Gegenentwurfs zur westlichen Gesellschaft.
Bieten die in den Detailanalysen versammelten Miniaturen eine Fundgrube aufschlussreicher Befunde, so vermag die Anlage der Gesamtstudie nur begrenzt zu überzeugen. Grundsätzlich problematisch erscheint die konzeptionelle Gegenüberstellung von „Mehrheitskultur“ und „Gegenkultur“, bei der die Selbstwahrnehmung der Jazz-Adepten als Rebellen für bare Münze genommen wird. Dadurch verschenkt das Buch das analytische Potenzial, mehr über die Rolle des Jazz als Filter für Selbst- und Gesellschaftsbilder der Akteure zu erfahren. Vor allem aber werden Popularisierungen des Jazz als Bedrohung seiner gegenkulturellen Potenz aufgefasst, durch die sie „abgeschliffen“, „immunisiert“ und „absorbiert“ worden sei (S. 25). Dieser Vorgang kulminiert dem Autor zufolge im kommerziellen Erfolg der 1959 gegründeten Zeitschrift „twen“, der „das Ende des Jazz als Gegenkultur im westlichen Nachkriegsdeutschland“ (S. 365) markiert habe. Wie dies mit dem Eigensinn einer wachsenden Zahl von Akteuren harmoniert, denen diese Zeitschrift als Massenblatt überhaupt erst die Möglichkeit verschaffte, eingehender mit dem Jazz Bekanntschaft zu schließen, bleibt offen. Weil Braese das emanzipatorische Potenzial der Massenkultur nicht sieht, sondern Popularisierung mit Niedergang gleichsetzt, bleibt die Frage unbeantwortet bzw. wird erst gar nicht gestellt, inwieweit die Verbreitung dieser kulturellen Innovation zum gesellschaftlichen und politischen Wandel der deutschen Nachkriegsgesellschaften beigetragen haben könnte. Die These, der musikalische Ausdruck einer Gegenkultur sei vom Jazz auf den Rock’n’Roll übergegangen (S. 371), vermag vor dem Hintergrund des Verflachungspostulats ebenso wenig zu überzeugen, denn der Rock’n’Roll entfaltete ja – erst recht in seinen nachfolgenden Varianten Beat und Pop – noch sehr viel größeres kommerzielles Potenzial als der Jazz.
Angesichts derartiger Ungereimtheiten erstaunt es umso mehr, dass das Buch mit der letzten Fallstudie endet – ein Fazit gibt es nicht. Dabei wäre eine zusammenfassende und weiterführende Diskussion der Ergebnisse dieses bunten Straußes an Einzelstudien gerade aufgrund der vielfältigen Befunde geboten gewesen und hätte Anlass geben können, den in der Einleitung ausführlich dargelegten Topos Mehrheitskultur vs. Gegenkultur einer differenzierenden Revision zu unterziehen. So wirkt Stephan Braeses Band eher wie ein Kompendium interessanter Fälle, deren übergeordnete These nicht wirklich überzeugt.
Anmerkung:
1 Vgl. dagegen Wolfram Knauer, „Play yourself, man!“ Die Geschichte des Jazz in Deutschland, Ditzingen 2019, der aufgrund der kulturhistorisch eingebetteten musikalischen Analyse zu überzeugenden Schlüssen kommt. Siehe dazu meine Rezension, in: H-Soz-Kult, 16.01.2020, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-28749 (03.09.2024).