M. Beer (Hrsg.): Landesgeschichte mit und ohne Land

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Titel
Landesgeschichte mit und ohne Land. West- und ostdeutsche Historische Kommissionen nach 1945


Herausgeber
Beer, Mathias
Reihe
Schriftenreihe des Instituts für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde
Erschienen
Stuttgart 2023: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
287 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Küster, LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte, Münster

Regionale Historische Kommissionen stellen eine eigenartige Mischung dar, denn in ihnen treffen viele und trifft vieles zusammen: Laien und Fachhistoriker:innen, öffentliche Finanzierung und vereinsmäßige Strukturen, umfangreiche Grundlagen- und kleinteilige Spezialforschung. Zumeist sind die Kommissionen in einem besonderen geschichtspolitischen Kontext entstanden, etwa um eine erwartete regionale Identität nachweisen zu können oder wissenschaftliches Arbeiten in und über eine Region zu verstetigen und zu professionalisieren. Zudem genießen Historische Kommissionen einen gewissen reputativen Wert; kaum ein kooptierter Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin verzichtet darauf, in der Dokumentation der eigenen Vita die Mitgliedschaft in einer Kommission zu erwähnen. Dabei produzieren die Historischen Kommissionen nur wenig Sensationelles und kaum jemals einen Bestseller. In der Regel stellen sie einen soliden Grundstock an historischen Daten, Editionen und Handbüchern bereit, die sich für das wissenschaftliche Arbeiten über eine Region oftmals als unverzichtbar erweisen. Auch wenn Kommissionspublikationen selten thesenfreudig auftreten, ist dennoch zu konstatieren, dass die in ihnen präsentierten Befunde der historischen Forschung seit Jahrzehnten reichhaltiges Material und immer wieder neue Erkenntnisse liefern. Trotz dieser Erträge scheint es aber durchaus angebracht, eine kritische Historisierung zur Entwicklung und Bedeutung derartiger Kommissionen in Wissenschaft und Öffentlichkeit vorzunehmen. So ließe sich etwa fragen, ob die Agenda der Kommissionen noch zeitgemäß ist, welche Relevanz ihren Arbeiten zukommt (bei aller Zeitbedingtheit dieses Kriteriums), wie transparent und durchlässig sie agieren, an welche Zielgruppen sie sich wenden und welche Vor- und Nachteile ihr Arbeitsmodell im Vergleich zu demjenigen der Vereine oder der universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen aufweist.

Matthias Thumser zieht in seiner im vorliegenden Sammelband enthaltenen „Bestandsaufnahme“ eine wohl doch zu scharfe Trennlinie zwischen Kommissionen und Vereinen: Erstere betreiben für ihn Wissenschaft, letztere hingegen Laienforschung. Dabei sind durchaus auch Laien in Kommissionen vertreten, genauso wie es viele professionelle Historiker und Historikerinnen in Vereinen gibt. Schon darin drückt sich ein Spezifikum der Kommissionen aus − und der Nukleus dessen, was Regionalität ausmacht: ihre je nach Umfeld regional geprägte Individualität und Unterschiedlichkeit. Thumser, dessen Fazit zugleich eine Kommentierung des Bandes darstellt, zählt übrigens in der Bundesrepublik aktuell 28 bestehende Historische Kommissionen. Doch um Fragen des Status quo ging es auf der Tübinger Konferenz vom Oktober 2017 und dem daraus nun entstandenen Tagungsband nicht in erster Linie. Die Beiträge konzentrierten sich vielmehr darauf, zu beschreiben, wie sich die Kommissionen nach der Zäsur von 1945 inhaltlich und organisatorisch neu orientiert haben.

Alle Beiträge behandeln zunächst die „Vorgeschichte“ der Historischen Kommissionen im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowie im Anschluss die Neu- und Wiedergründungsphase in der Nachkriegszeit, zum Teil bis in die Gegenwart. Dabei geht es weniger um Fragen einer möglichen Kontinuität und kritischen Aufarbeitung nach dem Zusammenbruch des NS-Staates (und seines Wissenschaftssystems). Im Vordergrund steht vielmehr die Frage nach dem Umgang mit den veränderten räumlichen Zuschnitten des jeweiligen Sprengels und den neuen „Förderlandschaften“. Mathias Beer betont in seiner Einleitung den halb-offiziellen Charakter der meisten Kommissionen, ihre Bindung an politische Einheiten und ihre mitunter identitätsstiftende Funktion, wodurch die Grenzverschiebungen nach 1945 sofort und unmittelbar Auswirkungen auf die Kommissionsarbeit haben mussten. „Mit“ und „ohne Land“ bedeutet in diesem Zusammenhang die institutionelle Bindung an bestehende politische Räume oder den Bezug auf verschobene beziehungsweise aufgelöste Länder oder Landesteile. Nicht immer konnten Kommissionsexistenzen aufrechterhalten werden. In der DDR, um das bekannteste Beispiel zu nennen, wurden infolge der Länderauflösung alle Historischen Kommissionen aufgehoben. In Hamburg und Schleswig-Holstein fehlten sie von vornherein (siehe den Beitrag von Martin Göllnitz).

Beer beklagt zu Recht, dass die Kommissionen in Überblicksdarstellungen und Handbüchern zu wenig als aktive Träger von Forschung wahrgenommen werden. Doch woran liegt das? Womöglich werden sie in erster Linie als Veröffentlichungsplattformen einzelner Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und nicht als strategisch-profilierte Einrichtungen gesehen, wie es sie etwa in Form universitärer und außeruniversitärer Institute gibt. Das deutet Carl-Hans Hauptmeyer, der einen allgemeinen Überblick zur Genese der Historischen Kommissionen vorausschickt, zumindest an. Er unterscheidet vier Gründungswellen und sechs Kommissionstypen: unter anderem diejenigen für ein ganzes Bundesland, für den Raum Berlin, für die „neuen“ Bundesländer ab 1990, für die ehemaligen Ostgebiete (zur Sicherung kulturellen Erbes, deshalb vom Bund gefördert) und Sonderfälle, die sich auf eine spezielle Trägerschaft beziehen. Hauptmeyer spricht auch als einziger aktuelle Probleme und Herausforderungen im Alltagsgeschäft der Kommissionen an (Finanzierung, Digitalisierung, Ehrenamt), die er aber nicht weiter vertieft.

Auch für Max Plassmann steht die Frage der nach 1945 so nicht mehr vorhandenen Bezugsregion im Vordergrund. Nachdem „die Rheinlande“ durch die Bildung der Bundesländer in einen rheinland-pfälzisch-saarländischen Teil und einen „nordrheinischen“ Teil separiert worden waren, stellte sich für die Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde (gegründet 1881) die Notwendigkeit einer Neuorientierung aber nur vorübergehend. Sowohl die Mitglieder als auch die Themen kamen aus beziehungsweise bezogen sich vor und nach dem Kriegsende ganz überwiegend auf den Kölner Raum, weshalb die anfangs zögerliche, dann aber enger werdende Kooperation mit der NRW-Kulturpolitik und dem Landschaftsverband Rheinland mehr als naheliegend war und sich schließlich auch etablierte. Immerhin verzichtete die Gesellschaft bis 2018 auf eine gesicherte öffentliche Finanzierung, um sich ihren bürgerschaftlichen Charakter, eine gewisse Unabhängigkeit und die gewünschte thematische Flexibilität zu bewahren. Beinahe ein Gegenmodell stellte die fusionierte Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg dar, die 1954 vom Stuttgarter Kultusministerium unter Hinweis auf Art. 29 des Grundgesetzes („landsmannschaftliche Verbundenheit“) mit Zuständigkeit für das gesamte „Landesterritorium“ aus der Taufe gehoben wurde. Lioba Keller-Drescher wertet deren Wirken in der Rückschau als „Erfolgsgeschichte“ (S. 74). Noch einmal ganz anders entstand die wiederbegründete, bis heute existierende Historische Kommission für Sachsen-Anhalt, quasi eine Privatgründung von überwiegend kirchennahen Historikern, die außerhalb der DDR-Geschichtsschreibung gestanden hatten, in einer Magdeburger Wohnung im November 1990. Erst gegen Ende der 1990er-Jahre gelang auch dieser Kommission eine weitere Professionalisierung ihrer Arbeit (Mathias Tullner).

Die Beiträge von Wolfgang Kessler, Matthias Barelkowski / Eike Eckert, Norbert Spannenberger, David Feest und Roland Gehrke behandeln die zahlreichen „osteuropäischen“ Kommissionen („ohne Land“), in denen die deutsche „Ostforschung“ der 1920er- und 1930er-Jahre nachwirkte und deren Protagonisten häufig in enger Verbindung zu NS-Instituten und NS-Dienststellen gestanden hatten. In der Nachkriegszeit konnten sie unter dem Label der auf das Bundesvertriebenengesetz gestützten Erinnerung an „deutsche Kulturtraditionen“ im Osten ihre Tätigkeit mit geringen Anpassungen fortsetzen. Die diesen Kommissionen gewidmeten Beiträge weisen etliche Überschneidungen auf, kommen aber zu dem übereinstimmenden Ergebnis, dass die im Westen tätigen „Ost-Kommissionen“ trotz ihrer scheinbar unpolitischen „Handbucharbeit“ noch einige Jahrzehnte von der „Erlebnisgeneration“ der früheren „Ostforschung“ dominiert wurden. Das schloss nicht aus, dass sich eine „‚gespaltene‘ Persönlichkeit“ wie Fritz Valjavec (1909–1960) in der Deutschtumsforschung eher zurückhielt. Erst eine jüngere Generation (etwa Klaus Zernack, 1931–2017) setzte nach 1970 und im Zuge der Neuen Ostpolitik andere Akzente, pochte auf strenge wissenschaftliche Standards und bezog Mitglieder aus den osteuropäischen Nachbarländern in die Kommissionsarbeit ein.

Die zentrale Frage des Paradigmenwechsels, der durch eine politische Zäsur notwendig wurde, scheint hier besonders reizvoll, weil sich nicht nur die Arbeitsbedingungen veränderten, sondern auch die Untersuchungsgegenstände. Was man lange Zeit in den Mittelpunkt der eigenen Tätigkeit gerückt hatte, gab es plötzlich so nicht mehr. Die Beiträge des Bandes zeigen, dass sich die angesprochenen Kommissionen im Osten wie im Westen zunächst vor allem politisch anpassten und ansonsten an vielen traditionellen Sichtweisen, Fragen und Methoden festhielten. Werner Conze (1910–1986), dessen ambivalente intellektuelle Biographie mittlerweile gut erforscht ist, hatte zum Beispiel in den 1950er-Jahren als Mitglied der Baltischen Historischen Kommission keine Chance, eine Abkehr vom Paradigma der „lebensweltlichen Anbindung“ und der Fokussierung auf bestimmte Bevölkerungsgruppen durchzusetzen (Beitrag von David Feest, S. 188f.). Erst ganz allmählich haben sich die einzelnen Kommissionen in puncto Organisation, Themensetzung und Rekrutierung modernisiert. Allerdings blieb die Mitgliederpartizipation jenseits der Tätigkeit der Vorstände und Ausschüsse – wie Roland Gehrke am Beispiel der Historischen Kommission für Schlesien zeigt – in der Regel erstaunlich gering. Insgesamt war das Wirken der Kommissionen nach 1945 vor allem durch drei Faktoren und Entwicklungen gekennzeichnet: die Verbundenheit der ersten Generation der Mitglieder mit ihrem Herkunftsgebiet, die Verwissenschaftlichung der Methoden und die Internationalisierung der Forschung nach 1970 sowie die zumeist relativ günstigen Bedingungen der Finanzierung. Das alles arbeiten die Autorinnen und Autoren des Bandes anschaulich heraus.