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Titel
Seidener Handel. Basel und das Osmanische Reich im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Topkaya, Yiǧit
Reihe
Beiträge zur Basler Geschichte
Erschienen
Anzahl Seiten
208 S.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Hans-Lukas Kieser, Historisches Seminar, Universität Zürich

Die Schweiz war wirtschaftlich, kulturell, humanitär und religiös vielfach präsent im späten Osmanischen Reich, aber sie errichtete nie eine diplomatische Mission in der osmanischen Hauptstadt Istanbul. Das tat sie erst 1926 in Ankara, der Hauptstadt der neuen türkischen Republik. Yiğit Topkayas sorgfältige Studie fokussiert facettenreich auf nicht staatliche Beziehungen im Jahrhundert davor. Sie begannen in den 1820er-Jahren mit Textilhandel, hielten über Jahrzehnte an und erwiesen sich als wegweisend für weitere Interaktionen.

Topkayas Studie geht vergleichend über die schweizerisch-spätosmanische Beziehungsgeschichte hinaus auf die Umwälzungen in der Stadtentwicklung sowohl in Basel als auch in Bursa, Izmir und Istanbul ein, den für die Basler Seidenhändler wichtigsten Städte im Osmanischen Reich. Basel wurde damals von einer Zunftstadt zu einer exportorientierten Industriestadt mit Gewerbefreiheit und Anschluss an ein europäisches Eisenbahnnetz im Aufbau. Sowohl in Europa als auch in der osmanischen Welt wurden Stadtmauern geschleift und es entstanden Vorstädte mit modernen Bauten wie Bahnhöfen, Schulen, Gefängnissen und Industriebauten.

Zu Beginn des untersuchten Zeitraums dominierte in Basel die Seidenbandproduktion. Das damit geschaffene Kapital erlaubte Basler Unternehmern weltweit Investitionen in verschiedenen Sparten. In den 1830er- und 1840er-Jahren, „als in Bursa die Rohseidenproduktion umgestellt und industrialisiert wurde, führte man auch in Basel die Mechanisierung der Seidenproduktion ein“ (S. 25) und bereits begonnene geschäftliche Verflechtungen intensivierten sich. Das Osmanische Reich konnte sich dem wachsenden Weltmarkt umso weniger entziehen, als seine politische und militärische Verletzlichkeit – während der Binneneroberung durch das nominal osmanische Ägypten Mehmed Alis in den 1830er-Jahren – die Abhängigkeit vom Gutdünken der europäischen Mächte verstärkte.

Geschäftliche Zusammenarbeit bedingte freilich gelungene Kommunikation auf verschiedenen Ebenen. Neben dem osmanisch-britisch-westlichen Freihandelsabkommen von 1838 und der damit einhergehenden Handelsfreiheit blieb die Unterstützung durch lokale Partner mit direktem Draht zu osmanischen Beamten ein unabdingbarer Faktor für den Erfolg. Der Fund Hunderter von Briefen aus Firmenarchiven der Basler Seidenbandindustrie hat Topkaya eine Fülle an einschlägigen Quellen verschafft.1 Briefliche Korrespondenz, bald ergänzt durch Telegrafie, war das Mittel der Wahl im damaligen Geschäftsnetz, einem zumeist französischsprachigen „empire of writing“ (S. 38).

Die expandierende Industriewirtschaft der Schweiz im 19. Jahrhundert war global orientiert und suchte Absatzmärkte auch in der Levante. Schweizer Staatsangehörige im Osmanischen Reich konnten die konsularische Protektion durch europäische Mächte und deren in Abkommen kodifizierten rechtlichen Privilegien („Kapitulationen“) in Anspruch nehmen, ohne ihre heimatliche Rückbindung zu verleugnen und als Angehörige einer westlichen Großmacht zu gelten. Manche taten sich als polyglotte Netzwerker hervor, waren beruflich ausgesprochen erfolgreich und integrierten sich rasch in die osmanische sowie levantinische Umwelt.2 Nicht wenige von ihnen wurden im Nebenamt zu Konsuln westlicher Mächte.

Topkaya geht ausführlich auf Emanuel Falkeisen ein, einen Basler Seidenhändler, der in Bursa zum Besitzer einer neu mit Dampfkraft betriebenen Seidenspinnerei, eines Hamams und einer Weinhandlung sowie Mitinhaber der ersten Dampfschifffahrtverbindung nach Istanbul wurde. Zudem betätigte er sich als russischer und danach als österreichisch-ungarischer Konsul. Sein Bruder und Mitarbeiter Johann Jakob Falkeisen, ein Maler und Kupferstecher, hat Stationen dieses Lebens auf Aquarellen festgehalten, von denen Topkayas reich bebilderte Studie mehrere reproduziert.

Wirtschaft, Handel und Finanzen sind bis heute ein Standbein schweizerisch-türkischer Beziehungen geblieben. Die nicht staatlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern lassen sich allerdings in größere, zum Teil herausfordernde Zusammenhänge stellen, die in Topkayas Untersuchungszeitraum noch nicht explizit hervortreten. Denn im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert kamen inzwischen recht gut erforschte wichtige Bereiche hinzu: Asyl, Exil, Diaspora, Menschenrechte, Hochschulbildung und Rechtstransfer. Sie hingen einerseits mit der damals beträchtlich angewachsenen Diaspora diverser nahöstlicher Bildungseliten und Oppositioneller vor allem in der französischsprachigen Schweiz, andererseits mit den humanitären und missionarischen Aktivitäten an Brennpunkten des späten Osmanischen Reichs zusammen.

Insofern ist „Seidener Handel“ auch Teil der Vorgeschichte eines bemerkenswerten Engagements zum Beispiel im „Deutschen“ beziehungsweise „Schweizer Spital“ im nordmesopotamischen Urfa, das 25 Jahre lang personell und finanziell aus Basel getragen wurde. An der Textilindustrie beteiligte Familien gehörten zu den Unterstützern.3 Daher konnte Spitalmanager Jakob Künzler im September 1918 in Aleppo ohne Rücksprache einen Scheck von 10.000 Schweizer Franken (entspricht heute circa 140.000 Schweizer Franken) für humanitäre Zwecke auf seine Bank in der Schweiz ausstellen – im vollen Vertrauen auf seine Basler Freunde, die den Scheck decken würden.4

Humanitäre Aktivitäten und die Basler sowie Schweizer Geschäftsnetze standen während der schweren Krisen am Ende des Osmanischen Reichs in zuweilen enger Synergie. In den Korridoren und im Hintergrund der Nahostfriedenskonferenz von Lausanne 1922/23 hingegen traten sie vor allem als Gegensätze in Erscheinung: Auf der einen Seite stand eine Geschäftswelt, die auf möglichst rasche Betätigung unter den neuen türkischen Machthabern und den Erhalt ihres Besitzstands drängte; auf der anderen Seite standen jene, die dem Völkerbund und den „kleinen Völkern“, namentlich den staatenlos gewordenen armenischen Genozidüberlebenden, nahestanden und für diese (vergeblich) Gerechtigkeit sowie Heimat einforderten. Zu diesen Fürsprechern gehörte etwa der Basler Andreas Vischer-Oeri, Künzlers Kollege und ehemaliger Chefarzt im Urfa-Spital.5

Topakays lebendig geschriebenes und gediegen ausgestattetes Buch ist ein hochwillkommener Beitrag zur bisher kargen Forschungslandschaft der schweizerisch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen im weiten Sinn.6

Anmerkungen:
1 Die inzwischen digitalisierten Briefe finden sich auf https://www.e-manuscripta.ch/ (11.06.2024).
2 Allerdings nicht alle. Daher wurde 1857 die „Hülfsgesellschaft Helvetia“ in Konstantinopel zur Betreuung fürsorgebedürftiger Landsleute ins Leben gerufen. Siehe „Türkei“, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), 07.01.2014, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/003374/2014-01-07 (11.06.2024).
3 Ab 1907 vom „Verein der Freunde des medizinischen Liebeswerkes in Urfa“. Eine neuere Studie zu diesem Spital, das der „Deutschen Orient-Mission“ von Johannes Lepsius angehörte, ist Emanuel La Roche, Doctor, sieh mich an! Der Basler Arzt Hermann Christ auf medizinischer Mission in der Osttürkei (1898–1903), Zürich 2013. Für eine umfassende Studie siehe die einschlägigen Kapitel in Hans-Lukas Kieser, Der verpasste Friede. Mission, Ethnie und Staat in den Ostprovinzen der Türkei 1839–1938, 2. überarb. Aufl., Zürich 2021.
4 Gegen Weltkriegsende wandten sich zahlreiche überlebende armenische Frauen und Kinder für ihren Lebensunterhalt an das Ehepaar Jakob und Elisabeth Künzler-Bender in Urfa. Der später wegen seiner medizinisch-humanitären Arbeit mit einem Ehrendoktorat ausgezeichnete Künzler war in den 1890er-Jahren im Basler Bürgerspital als Krankenpfleger ausgebildet worden.
5 „Vischer, Andreas“, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), 31.07.2013, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/044905/2013-07-31 (11.06.2024). Siehe auch Hans-Lukas Kieser, Nahostfriede ohne Demokratie. Der Vertrag von Lausanne und die Geburt der Türkei 1923, Zürich 2023.
6 Neben dem von Topkaya aufgeführten Standardwerk von Beat Witschi, Schweizer auf imperialistischen Pfaden. Die schweizerischen Handelsbeziehungen mit der Levante 1848–1914, Stuttgart 1987; Yavuz Köse, Westlicher Konsum am Bosporus. Nestlé & Co. im späten Osmanischen Reich, München 2010, sind die Artikel von Thomas David zu erwähnen, die sich mit den Genfer Uhrmacherkreisen im Istanbul des 18. Jahrhunderts sowie mit spätosmanischen Bank- und Eisenbahnmanagern wie Louis Rambert und Edouard Huguenin Pascha auseinandersetzen. Im Entstehen ist an der Universität Lausanne eine Doktorarbeit von Tosca Martini über diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen Schweiz-Türkei in der Zwischenkriegszeit.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch http://www.infoclio.ch/
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