Die europäischen Afrikareisenden des 19. Jahrhunderts galten lange Zeit als heroische Figuren, als „Entdecker“, die ihr Leben ganz der Forschung widmeten und auch riskierten. Die Erzählung über „große“ Persönlichkeiten wie David Livingstone stehen teilweise bis heute im Vordergrund eines Narrativs, das in der Geschichtswissenschaft jedoch seit einiger Zeit kritisch reflektiert wird. So rücken beispielsweise Fragen nach der psychischen Verfassung und Zurechnungsfähigkeit der Reisenden in den Vordergrund, und jüngere Untersuchungen berücksichtigen ihr mitunter gewaltsames Vorgehen ebenso wie die weitreichende Abhängigkeit von afrikanischen Akteursgruppen.1 Einen wesentlichen Beitrag zu dieser Neuinterpretation hat Dane Kennedy mit der Monografie „The Last Blank Spaces“ und dem Sammelband „Reinterpreting Exploration“ geleistet.2 Nun hat er mit „Mungo Park’s Ghost“ ein weiteres Buch zu dem Thema vorgelegt.
Im Mittelpunkt von Kennedys jüngstem Werk stehen zwei miteinander verbundene britische Expeditionen zwischen 1816 und 1818, die gemessen an ihrem Budget und den beteiligten Personen zwar zu den umfangreichsten Projekten der europäischen Erforschung Afrikas gehörten, aber aufgrund ihrer desaströsen Verläufe schnell in Vergessenheit geraten sind. Das eine Unternehmen sollte mit einem Schiff unter der Führung von James Tuckey den Kongo so weit wie möglich flussaufwärts fahren, das andere, die meiste Zeit von Thomas Campbell und William Gray geleitet, versuchte über Land von der Atlantikküste in das Quellgebiet des Niger vorzudringen und diesem dann bis zu seiner Mündung zu folgen. Das gemeinsame Ziel war es, den jeweiligen Verlauf der Flüsse zu erkunden und in Erfahrung zu bringen, ob es sich bei Niger und Kongo eigentlich um denselben Fluss handelte. Beide Expeditionen scheiterten – teils wegen schwerwiegender logistischer Probleme, teils wegen der Unfähigkeit und dem Unwillen der Expeditionsleiter, mit afrikanischen Politikern angemessen über die Durchreise zu verhandeln. Die Kongoexpedition fuhr am Ende nur etwa 50 Kilometer weiter den Fluß hinauf als es portugiesischen Seefahrern bereits im 16. Jahrhundert gelungen war und hatte als einziges Ergebnis einige naturhistorische Sammlungen vorzuweisen. Die Nigerexpedition wiederum erreichte trotz zweier Anläufe über unterschiedliche Routen kein in Europa unbekanntes Gebiet und blieb letztlich ohne nennenswerte Erkenntnisse. Zugleich führte die damals noch unzureichende Prophylaxe und Behandlung tropischer Krankheiten zu einer sehr hohen Todesrate, sodass am Ende nur ein Bruchteil der beteiligten Europäer überlebte.
Kennedys Studie ist chronologisch aufgebaut und erklärt nacheinander Vorgeschichte, Verlauf und Nachwirkungen der Expeditionen. Die ersten beiden Kapitel führen zunächst in den historischen Kontext ein, indem das britische Interesse an Westafrika als Absatzmarkt und Rohstofflieferant ebenso beschrieben wird wie die eng damit verwobenen abolitionistischen Bemühungen, den Sklavenhandel durch „legitimate commerce“ zu ersetzen. In diesem Zusammenhang wird auch ausführlich auf den schottischen Reisenden Mungo Park eingegangen, dessen zwei Nigerreisen zwischen 1795 und 1806 in Großbritannien ein lebhaftes Interesse an der Region hervorriefen und eine Vielzahl von Nachahmern inspirierten, darunter auch Tuckey, Campbell und Gray.
Deren Unternehmungen werden in den Kapiteln 3 bis 5 detailliert beschrieben, wobei auf die Allgegenwart der Sklaverei und deren Bedeutung für Expeditionen ausführlich eingegangen wird: So begegneten die afrikanischen Eliten, deren Macht und Wohlstand auf dem Sklavenhandel beruhte, den Reisenden sehr skeptisch, weil ihnen die abolitionistischen Ambitionen Großbritanniens bekannt waren. Gleichzeitig setzte sich das afrikanische Expeditionspersonal größtenteils aus ehemaligen Sklaven zusammen, deren Netzwerke sowie Orts- und Sprachkenntnisse oftmals entscheidend für das Weiterkommen der europäischen Reisenden waren. Kennedy arbeitet hierbei überzeugend heraus, wie afrikanische Akteure entscheidenden Einfluss auf den Verlauf von Forschungsreisen nahmen. So scheiterten Campbell und Gray auch deshalb, weil es ihnen nicht gelang, das Wohlwollen der Machthaber am Niger zu gewinnen, zum Beispiel des Almamy Amady, des Herrschers über das Bambara-Reich. Diese verweigerten ihnen die Durchreise und hielten sie so lange hin, bis sie sich durch die rasant steigende Zahl von Fiebertoten zur Umkehr gezwungen sahen.
Das sechste Kapitel stellt die Aktivitäten der britischen Admiralität in den Vordergrund. Sie hatte nicht nur die Expeditionen organisiert, sondern nutzte nach deren Scheitern auch erfolgreich ihre Kontakte in die Presse und ins Verlagswesen, um eine negative Berichterstattung zu verhindern. Spätere Darstellungen blendeten die Misserfolge vollständig aus und beschleunigten ihr Vergessenwerden. Das siebte und letzte Kapitel beschreibt überblicksweise die weitere Geschichte britischer Forschungsreisen nach Afrika im 19. Jahrhundert und argumentiert, dass heutige Vorstellungen von Expeditionen zwar durch bekannte Gestalten wie Livingstone oder Stanley geprägt sind, dass gescheiterte Unternehmen wie die von Tuckey, Campbell und Gray jedoch den Normalfall darstellten: „They were symptomatic of the frustration and futility that repeatedly characterized Britain’s long struggle to establish itself in Africa.“ (S. 181)
Indem Kennedy gescheiterte und weitgehend folgenlose Afrikaexpeditionen als Untersuchungsgegenstand wählt, wird er den jüngsten Forschungstendenzen und damit – als Experte auf dem Gebiet – auch seinen eigenen Ansprüchen gerecht. Denn die inzwischen infrage gestellte teleologische Erzählung von europäischen Reisenden, die Afrika stets nach den Plänen ihrer Auftraggeber entdeckt und erobert haben, beruht gerade auf dem Ignorieren gescheiterter Unternehmungen.3 Diese geben jedoch nicht weniger Aufschluss über die Denkweisen und Ambitionen europäischer Autoritäten und bieten einen Blick auf bislang vernachlässigte Aspekte wie die Fehlbarkeit der beteiligten Europäer oder ihre Abhängigkeit von afrikanischen Akteursgruppen.
Auch methodisch hat Kennedy einen geeigneten Zugang gefunden, der breiter ist als das häufig verwendete Format der Biografie und vermeidet so die in der Historiografie oftmals vorzufindende Fokussierung auf eine einzelne Person und die damit einhergehende Gefahr einer Heroisierung. Stattdessen beruht die minutiöse Analyse der zwei ausgewählten Forschungsreisen auf einer breiten Quellengrundlage – neben Reiseberichten auch Reisetagebücher und Briefe und damit die in diesem Bereich häufig vernachlässigten Selbstzeugnisse.4 Erwähnenswert ist dabei, dass Kennedy, wenn möglich, auf Material mit afrikanischer Urheberschaft zurückgreift, zum Beispiel auf das Reisetagebuch Isaacos, der an Parks zweiter Expedition und der von Campbell und Gray beteiligt war.
Die Studie ist in verständlichem Stil und gut lesbar geschrieben, was allerdings gelegentlich auf Kosten der wissenschaftlichen Präzision geht. Manche Stellen wirken etwas spekulativ, andere zu wertend und gelegentlich finden sich auch Sätze, die beides vereinen: „No doubt there were local peoples observing these strangers [die Expeditionsgesellschaft] from a discrete distance who did indeed view them as a horde of banditti.“ (S. 90). Oder: „It is easy to imagine Park muttering ‚exterminate all the brutes‘“ (S. 181) – eine Anspielung auf Joseph Conrads „Heart of Darkness“. Solche Unterstellungen – hier, dass bereits frühen Afrikaexpeditionen dieselben Denkmuster zugrunde lagen wie den Kongogräueln – schießen über das Ziel hinaus und enthalten doch wieder ein teleologisches Motiv. Interessant ist schließlich auch die Wahl des Buchtitels, der einerseits auf den populärwissenschaftlichen Bestseller „King Leopold’s Ghost“5 und damit ebenfalls auf die Kongogräuel anspielt und sich andererseits die Popularität heroisierter Figuren wie Park zunutze macht, um eine möglichst breite Leserschaft anzusprechen, die sich dann aber hauptsächlich mit anderen Reisenden auseinandersetzen muss.
Bei diesen Kritikpunkten handelt es sich jedoch um Kleinigkeiten, die dem Befund, dass Kennedy ein rundum lesenswertes Buch gelungen ist, keinen Abbruch tun. Es ist nicht nur für Leser, die sich mit Forschungsreisen beschäftigen, eine empfehlenswerte Lektüre, sondern auch für alle, die sich allgemein für die britischen Aktivitäten in Afrika im 19. Jahrhundert interessieren oder eine methodische Anregung für Themen suchen, die aufgrund von Forschungsgeschichte und Quellenlage häufig den Vorwürfen ausgesetzt sind, eurozentrisch zu sein oder koloniale Narrative zu reproduzieren.
Anmerkungen:
1 Johannes Fabian, Out of Our Minds. Reason and Madness in the Exploration of Central Africa, Berkeley 2000; Tiffany Shellam / Shino Konishi / Maria Nugent (Hrsg.), Indigenous Intermediaries. New Perspectives on Exploration Archives, Acton 2015.
2 Dane Kennedy, The Last Blank Spaces. Exploring Africa and Australia, Cambridge, MA 2013; ders. (Hrsg.), Reinterpreting Exploration. The West in the World, Oxford 2014.
3 Vgl. Kennedy, The Last Blank Spaces, S. 5; Anke Fischer-Kattner, Spuren der Begegnung. Europäische Reiseberichte über Afrika 1760–1860, Göttingen 2015, S. 520.
4 Reiner Prass, Forschungsreise und Wissensproduktion in Afrika in der Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Themenportal Europäische Geschichte, 2019, https://www.europa.clio-online.de/searching/id/fdae-1728 (28.01.2024).
5 Adam Hochschild, King Leopold’s Ghost. A Story of Greed, Terror, and Heroism in Colonial Africa, Boston 1998.