Europa wurde durch den Ersten Weltkrieg aus dem „langen 19. Jahrhundert“ in ein neues Zeitalter katapultiert. Zu Recht gilt diese militärische Auseinandersetzung als „weltumspannende Katastrophe“ und als „das prägende Ereignis des 20. Jahrhunderts“.1 Besonders um das Gedenkjahr 2004 hat sich die Forschungs- und Publikationsdichte zum Ersten Weltkrieg noch einmal intensiviert. Heute liegen fundierte Gesamtdarstellungen und unzählige Detailuntersuchungen vor.
Arnd Bauerkämper und Elise Julien haben nun einen weiteren Sammelband veröffentlicht, der sich mit dem „ersten totalen Krieg“ (S. 7) beschäftigt und dabei der Frage nachgeht, wie es Soldaten und Zivilisten der am Krieg beteiligten Nationen gelang, die Belastungen der vier Jahre währenden Auseinandersetzung durchzustehen.
Dabei ist der Sammelband im Kontext der französischen Kontroverse um die Geschichtsschreibung zum Ersten Weltkrieg zu verstehen, die mit der Eröffnung des Historial de la Grand Guerre in Péronne im Jahr 1992 einsetzte. Das Museum, das 15 Millionen Euro kostete und jedes Jahr mehr als 75.000 Besucher anzieht, präsentiert den Ersten Weltkrieg mit einem konsequent kulturhistorischen, supranationalen und die „Heimatfront“ als gleichberechtigten Schauplatz von Krieg- und Gewalterfahrung einschließenden Blick.2 Diese neue Form der Darstellung folgt der These, in den europäischen Nationen habe während des Krieges eine „Kriegskultur“ geherrscht, die sich aus dem übersteigerten Patriotismus der Vorkriegszeit gespeist, im Krieg einen flammenden Hass auf den jeweiligen Kriegsgegner im Angesicht der Totalität der militärischen Auseinandersetzung heraufbeschworen und gemeinsam mit der Frontsolidarität und -freundschaft der Soldaten zu deren „Durchhalten“ geführt habe.
Dieser These hat sich eine Gruppe von Historikern entgegengestellt, die sich im Collectif de Recherche International et de Débat sur la Guerre 1914-1918 (CRID 14-18) zusammengeschlossen und die Theorie vertreten haben, dass vielmehr staatlich auferlegter Zwang und Gewalt zu einer „Kultur des Gehorchens“ geführt haben. Nur durch eine drakonische Militärjustiz und Unterdrückung durch die staatliche Macht seien die Soldaten zum „Durchhalten“ gezwungen worden, die vermeintliche Zustimmung, wie sie die Wissenschaftler des Historial unterstellen, sei dahinter zurückgetreten.3
Vor diesem Hintergrund wollen die Herausgeber des hier vorzustellenden Sammelbandes den Blick auf die folgenden Leitfragen lenken: Hat Zwang oder Begeisterung entscheidend zum Durchhalten motiviert? Welchen Einfluss hatten die unterschiedlichen Kriegskulturen? Und wie nahm die Art der Kampfhandlungen an den verschiedenen Fronten Einfluss?
Als Beitrag zu einer Kulturgeschichte des Ersten Weltkrieges möchte das Buch auch auf die Rezeption und Verarbeitung des Ersten Weltkriegs in den jeweiligen nationalen Narrativen eingehen, um „die in der französischen Geschichtswissenschaft kontrovers diskutierten Ansätze produktiv aufzunehmen und sie in einer breiten, vergleichenden Perspektive […] [zu] diskutieren“ (S. 23). Erreicht werden soll dies durch Beiträge zu verschiedenen europäischen und außereuropäischen (USA, deutsche Kolonien in Afrika und Osmanisches Reich) Beispielen, die jedoch in ihrer jeweiligen spezifischen Fragestellung sehr unterschiedlich intensiv die genannten Leitfragen aufgreifen.
Um es vorweg zu nehmen, die von den Herausgebern formulierten Aufgaben kann das Buch nicht erfüllen. Zwar erlangt der Leser für einige der vorgestellten Staaten einen Einblick in das spezielle nationale Narrativ der Kriegswahrnehmung und der historischen Forschung, ein konsequenter Vergleich erwartet ihn jedoch nicht. Dies liegt zum einen daran, dass die einzelnen Beiträge weder in ihrer Zielsetzung noch in ihrem Aufbau einem Fragenkatalog folgen und zudem mehr oder weniger stark von der Kernfrage nach den Gründen für das „Durchhalten“ der verschiedenen Kriegsgesellschaften abdriften.
Nach einem einleitenden, von den Herausgebern verfassten, äußerst lesenswerten Beitrag zum Forschungsstand und dem Aufbau des Bandes folgen elf Aufsätze, die in vier Abschnitten zusammengefasst wurden.
Der erste dieser Abschnitte fragt nach dem Verhältnis von „Zwang“ und „Zustimmung“ bei der Motivation der französischen Kriegsgesellschaft und geht damit auf die oben skizzierte Kontroverse noch am direktesten ein. Er vereinigt einen Beitrag von Gerhard Hirschfeld und Gerd Krumeich mit dem Titel „Wozu eine ,Kulturgeschichte` des Ersten Weltkriegs“? und einen Beitrag des an der Sorbonne lehrenden Historikers Nicolas Offenstadt, der sich mit der Rezeption des Ersten Weltkriegs im Frankreich der Gegenwart beschäftigt.
Krumeich und Hirschfeld identifizieren vor allem die neuartigen Propaganda- und Kommunikationsmittel als Transmitter eines „permanenten Apells“ zum Durchhalten (S. 53), sowie die Eigendynamik des industrialisierten Krieges und die Massenkriegführung als zentrale Elemente für das Durchhaltevermögen der französischen Gesellschaft im Krieg. Offenstadt, Mitglied des CRID 14-18, stellt die These der weit verbreiteten Zustimmung der Soldaten zum Krieg in Frage und warnt davor, von der „Analyse sichtbarer Verhaltensweisen direkt auf fest verwurzelte Überzeugungen bei den Akteuren“ zu schließen (S. 68). Stattdessen plädiert er für einen differenzierten, stärker auf die empirische Untersuchung von Egodokumenten der Soldaten und Zeitzeugenaussagen gerichteten Blick. Die Forscher des CRID 14-18 sehen in diesen Quellen mannigfache Hinweise auf Widerstandseinstellungen und -handlungen unterschiedlichster Intensität und damit eine Bestätigung ihrer Thesen.
Es folgt der zweite Abschnitt mit drei Beiträgen, die sich mit der Westfront auseinandersetzen. In ihm ist besonders der Beitrag von Bruno Benvindo und Benoît Majerus hervorzuheben, der die Kriegführung und Besatzung in Belgien untersucht und die Charakteristika eines „totalen Krieges“ für das kleine Land konsequent nachzeichnet. Die Autoren sehen vor allem in der dreifachen Erfahrung der belgischen Bevölkerung – Front, besetztes Gebiet und Exil – das zentrale Motiv für das Weiterkämpfen der Belgier.
Der vorletzte Abschnitt des Buches behandelt Ost- und Südosteuropa. Dietrich Beyrau und Pavel P. Shcherbinins Abhandlung identifiziert den Ersten Weltkrieg als „vergessenen Krieg“ (S. 151) im kollektiven Gedächtnis der Sowjetunion und nennt Organisationsprobleme, die politische Legitimationskrise und eine fehlende klare Feindvorstellung als Gründe für das militärische Scheitern und das mangelnde Durchhaltevermögen des zaristischen Russlands. Ein Beitrag von Jürgen Angelow, kann aufgrund des allgemein weit zurückhinkenden Forschungsstandes zum Ersten Weltkrieg auf dem Balkan nur Andeutungen zur Beantwortung der Kernfragen für dieses Gebiet geben.
Im letzten Teil des Bandes sind drei Aufsätze zu außereuropäischen Territorien vereint. Stefanie Michels beschreibt beispielsweise ein wenig bekanntes und bislang unzureichend erforschtes Kapitel der Geschichte des Ersten Weltkrieges, die totale Mobilmachung in Afrika. Allerdings müssen auch ihre Antworten zu den Zusammenhängen zwischen kolonialer Gewalt und militärischer Niederlage auf Grund des wenig entwickelten Forschungsstandes als Arbeitsthesen verstanden werden. Oliver Schulz sieht für das Osmanische Reich eine deutliche Forschungslücke im Bereich der Kernfragestellungen, so dass auch er nur Fragen zum Verhältnis „einer ,Kriegskultur` der Osmanen“, dem Patriotismus im Lande und den gegen den Einzelnen gerichteten Zwängen stellen kann.
Besonders die letztgenannten Beiträge machen deutlich, dass eine schärfere Analyse im Hinblick auf die dezidierten Leitfragen des Bandes, den Motivationssträngen zum „Durchhalten“, nur einige Beiträge bieten (können). So hat man als Leser das Gefühl, einem editorischen Ansatz „des bunten Durcheinanders“ ausgeliefert zu sein. Es verwundert folglich nicht, dass ein zusammenfassendes Fazit nicht geboten wird. Befremdlich ist zudem das Fehlen von Beiträgen, die sich mit dem Deutschen Reich als Ganzes oder mit Österreich-Ungarn beschäftigenden, zumal die Folgen des Ersten Weltkrieges für diese beiden Staaten extrem weitreichend waren. Diese Mankopunkte schmälern jedoch nicht die Qualität der Einzelbeiträge. Historikern, die sich über den einen oder anderen Spezialaspekt des Ersten Weltkrieges informieren möchten, mag der Band also in Zukunft weiterhelfen. Zum Einlesen über die Zusammenhänge des Ersten Weltkriegs eignet er sich jedoch leider ebenso wenig, wie zur erschöpfenden Beantwortung der Frage nach dem „Durchhalten“ an den Fronten 1914 bis 1918.
Anmerkungen:
1 Gerhard Hirschfeld u.a. (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, 2. durchges. Aufl. Paderborn 2004, S. 9.
2 Vgl. zum Historial in Péronne <http://www.historial.org> (02.11.2010). Eine Einordnung dieses Museum in den Kontext der europäischen Museumslandschaft zum Ersten und Zweiten Weltkrieg nimmt Thomas Thiemayer, Forsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Die beiden Weltkriege im Museum, Paderborn 2010, vor.
3 Vgl. als Überblick über diese Kontroverse Benoît Majerus, Kriegserfahrung als Gewalterfahrung. Perspektiven der neuesten internationalen Forschung zum Ersten Weltkrieg, in: Christian Jansen (Hrsg.), Der Bürger als Soldat. Die Militarisierung europäischer Gesellschaften im langen 19. Jahrhundert, Essen 2003, S. 271-297.