Der vorliegende Sammelband ist der erste einer ambitionierten neuen Reihe, mit der sich De Gruyter zunehmend auch im englischsprachigen Bereich als wichtiger Verlagsakteur auf dem breiter werdenden Feld der Public History etabliert. „Museums and Narrative“ soll Raum für die Analyse theoretischer Konzepte wie für Fallstudien von Museen und Ausstellungen mit historischem Bezug, von Gedenkstätten und heritage sites bieten. Dabei interessieren besonders „the cognitive, emotional, ethical, aesthetic, experiential, and political questions that surround museum narratives pertaining to the organization of exhibitions and the representation of temporality for different visitor groups“.1
Während das Advisory Board eine deutliche angloamerikanisch-deutsche Schlagseite hat, offeriert der von den beiden in Nordamerika lehrenden Series Editors Kerstin Barndt und Stephan Jaeger herausgegebene Band mit seinen 18 Einzelbeiträgen plus programmatischer Einleitung einen umfassenderen internationalen Blick auf „critical storytelling“. Zentrale Fragen für die Autor:innen waren dabei, „how museums and exhibitions rewrite, question, and deconstruct established narratives and how they craft new ones“. Wichtig war zudem: „Whose voices are heard, amplified, or muted? How do visitors find themselves addressed and implicated in the displayed histories? What are the emotional and cognitive dimensions of museum narration?“ (S. 4) All das umfasst nicht nur neue Formen multimedialer Inszenierungen, sondern auch Fragen von Dekolonisierung, die Herausforderung der Multiperspektivität und Mitkuratierung durch unterschiedlichste Gruppen.
Dem Anspruch der neuen Reihe gemäß haben fast alle Texte mehr oder weniger ambitionierte Theorieteile. All das ist eine Stärke des Bandes, aber gleichzeitig auch eine Schwäche, denn mit praktisch jedem Aufsatz muss man sich nicht nur auf ein anderes Land, einen anderen historischen Kontext sowie andere Themen einlassen, sondern auch auf neue Begrifflichkeiten und theoretische Konzepte. Das alles wird jeweils in bis zu 20 Seiten langen Texten untergebracht (einschließlich Bibliografie und Abbildungen), in denen nicht nur nationale Debatten und Entwicklungen geschildert werden sollen, sondern die Leser:innen auch eine gute Vorstellung von Ausstellungskonzepten, Narrativen, Inszenierungen, architektonischen Besonderheiten, der Verwendung von Audionarratologie und anderem bekommen sollen. Die Abbildungen sind hilfreich und notwendig, aber zwei reichen als Illustration in der Regel nicht aus.
Die Rezension eines solchen Sammelbandes kann den vielen einzelnen Beiträgen, die geographisch und inhaltlich, aber auch von der Autor:innenschaft enorm vielfältig sind, nicht annähernd gerecht werden. Es werden neue Museen, Dauerausstellungen und schon nicht mehr zu sehende größere oder kleinere Sonderausstellungen beschrieben und analysiert, zum Teil von beteiligten Kurator:innen. Dazu zählen das National Museum of African American History and Culture in Washington und das Legacy Museum in Montgomery, Alabama, Holocaustausstellungen in zwei jüdischen Museen in Norwegen, das Museum of Conflict in Ahmedabad, Indien, zwei finnische Krimigeschichten-Sonderausstellungen und die Ausstellung „Glasshouses: Human Diversity and Paul Rivet“ im National Museum of Colombia. Maria Kobielska hat im Detail die durch eine neue konservative polnische Regierung erzwungenen Änderungen in der Ausstellung des Museums des Zweiten Weltkrieges untersucht und zeigt, wie das ursprüngliche Ausstellungsdesign resistent gegen Eingriffe war. Marija Đorđević und Stefan Krankenhagen diskutieren in ihrem Beitrag die zum Teil riesigen Spomeniks-Monumente – brutalistische Denkmäler im ehemaligen Jugoslawien, die sie als Museen und zugleich als Bühnen sehen, als „performing heritage“. Kolonialkonflikte und museale Dekolonisierungsbemühungen sind Thema mehrerer Beiträge, darunter zum Auckland War Memorial Museum und dem Sámi Museum in Karasjok, Norwegen. Mit ihrem „Beyond the De-Colonial: Rethinking the Future of Museums in Africa“ betitelten Aufsatz fallen Farai Mudododzi Chabata und Jesmael Mataga aus dem Rahmen, denn sie behandeln nicht ein oder mehrere Beispiele innerhalb eines Landes, sondern erweitern den Blick auf große Teile des afrikanischen Kontinents. Sie warnen davor, „Dekolonisierung“ als Endziel für Museen in Afrika zu definieren; das führe zu Stagnation. In ihrem anregenden Text plädieren sie stattdessen dafür, Dekolonisierung als Prozess auf der Suche nach „alternative forms of museum“ (S. 162) zu sehen. Das Ideal bleibt jedoch ebenso unscharf wie ambitioniert: „inclusive, living spaces of lived pasts, a relevant present, and an imagined future“ (S. 163), zugleich offen für die Bedürfnisse und Erwartungen der Gesellschaft.2
Nicht nur als deutscher Leser vermisst man einen Beitrag zum Humboldt Forum, das sich selbst als „Forum der Vielstimmigkeit, als Ort der Berliner Stadtgesellschaft wie auch als Ort für Besucher⁎innen und Mitwirkende aus der ganzen Welt“ definiert.3 Auch mit seiner problematischen Geschichte sowie Architektur und den nicht immer gelungenen, aber durchaus ambitionierten Ausstellungskonzepten hätte es viele Anknüpfungspunkte an zahlreiche Beiträge gegeben. Den haben offensichtlich auch die Herausgeber:innen gesehen, denn ihre programmatische Einleitung beginnt mit der Diskussion einer Sonderausstellung im Humboldt Forum. Die kürzere und durchaus interessante Reflexion zur Berlin-Global-Ausstellung des Stadtmuseums Berlin im Berliner Humboldt Forum von Daniel Morat, welcher an der Ausstellung mitgewirkt hat, kann das nicht aufwiegen.
Auch sonst hätte man sich mehr Bezüge aufeinander gewünscht, auch bei den vielen Begrifflichkeiten und theoretischen Konzepten, die sich, wenn überhaupt, nur in wenigen anderen Texten des Bandes finden. Der vorliegende erste Sammelband der neuen Reihe bietet aber zugleich einen beeindruckenden Einblick in die vielen aktuellen Herausforderungen für Museen, Gedenkstätten sowie heritage sites und präsentiert sowohl spannende als auch innovative Konzepte. Mit „Museums, Narratives, and Critical Histories“ geben Kerstin Barndt und Stephan Jaeger einen bunt schillernden Vorgeschmack auf die methodische, theoretische, inhaltliche und globale Vielfalt dessen, was man in weiteren Bänden erwarten kann.
Anmerkungen:
1 Vgl. Übersicht zur Reihe „Museums and Narrative“, https://www.degruyter.com/serial/mun-b/html (03.09.2024).
2 Für Abstracts aller Aufsätze siehe die downloadbare PDF-Datei unter der DOI-Nummer des Buches: https://doi.org/10.1515/9783110787443 (02.09.2024).
3 Erklärung über das gemeinsame Verständnis und die Ziele des Humboldt Forums, in: Humboldt Forum. Gemeinsames Verständnis und Ziele, Juni 2021, https://www.humboldtforum.org/de/ueber-uns/gemeinsames-verstaendnis-und-ziele/ (02.09.2024).