K. Vogel: Pädagogische Wissensräume 1750–1850

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Titel
Pädagogische Wissensräume 1750–1850. Empirische Studien zum Referenzraum wissenschaftlich-pädagogischer Lehrbücher, Vorlesungssammlungen und Einführungsschriften


Autor(en)
Vogel, Katharina
Reihe
Erziehungswissenschaftliche Studien
Erschienen
Anzahl Seiten
333 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Patrick Bühler, Pädagogische Hochschule, Fachhochschule Nordwestschweiz

Im berühmten „Devil’s Dictionary“ heisst es unter „History“, es handle sich um „an account mostly false, of events mostly unimportant, which are brought about by rulers mostly knaves, and soldiers mostly fools“.1 Mit seiner diabolischen Definition war Ambrose Bierce 1911 einer der frühen Kritiker einer simplen Geschichtsschreibung, die großen Männern, großen Taten und großen Ideen huldigte. Während dieses methodische Misstrauen in der Geschichtswissenschaft in den 1970er-Jahren zu einer Binsenwahrheit gerann, scheint man in der Pädagogik viel länger solche heroischen Epen gepflegt zu haben, wie Katharina Vogels überzeugende Studie vor Augen führt. Denn die überarbeitete Fassung ihrer Habilitationsschrift, die in Göttingen als Teil einer umfassenden Auslotung des pädagogischen „Grundwissens“ zwischen dem Ende des 18. und dem Ende des 20. Jahrhunderts entstand (S. 9–10), bietet als Ouvertüre eine Abrechnung mit einer schlechten Mischung von pädagogischer Ideen- und Personengeschichte, die sogar eine eigene didaktische Gattung hervorgebracht hat, nämlich „Die Klassiker der Pädagogik“. Statt zu wiederholen, dass Rousseau, Herbart, Pestalozzi etc. im 18. und 19. Jahrhundert wichtig gewesen seien und einen Überblick über ihr Leben und Werk zu geben, versucht Vogel „empirisch einen Fuß in die Tür zu bekommen“ und mit Hilfe von „Längsschnittanalysen“ (S. 13, 18) herauszufinden, welche Autoren in pädagogischen Lehrbüchern und Überblicksdarstellungen zwischen 1750 und 1850 tatsächlich zitiert wurden. Die Studie fragt also schlicht, wer bedeutsam war und nicht, wer nachträglich dafür gehalten wurde. Dabei handelt es sich um nichts weniger als Grundlagenforschung, denn die moderne Pädagogik kam ja überhaupt in der hier behandelten „Sattelzeit“ auf und damals entstanden die Einführungen, Lehrbücher und Lexika, in denen die neuen pädagogischen „Wissensbestände aggregiert und sedimentiert“ wurden (S. 20).

Das Korpus dieser reizvollen „quantitativen Referenzanalysen“ (S. 30) bilden dreißig pädagogische Überblicksdarstellungen. Darunter finden sich Werke heute noch bekannter Autoren wie z. B. die Benekes, Bocks, Herbarts, Kants, Millers, Mildes oder Trapps, aber auch viele, die in der Zwischenzeit in Vergessenheit geraten sind. Gerade weil es erwiesenermaßen immer sehr gute Gründe gibt, gewisse Autoren und „Genres“ auszuschließen, lässt sich auch immer trefflich über die Zusammenstellung eines Korpus streiten. So fällt etwa auf, dass die einflussreiche, von Campe herausgegebene Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens fehlt. Dass die 16 Bände dieses „Lehrbuchs“ nicht auch noch aufgenommen wurden, ist nur verständlich.2 Zudem suchte Vogel gerade nach Werken, die „über eine bloße Verbesserung der praktischen Erziehung oder des Unterrichts“ hinausgegangen waren und „mit ,Pädagogik‘ ein eigenständiges, von anderen abgrenzbares, systematisch und wissenschaftlich zu bearbeitendes Themenfeld“ gemeint hatten (S. 35–36). Aus diesem Grund fehlen im Korpus wohl z. B. auch Sulzers Versuch von der Erziehung und Unterweisung der Kinder (1748) oder Iselins Grundriss der nöthigsten pädagogischen Kenntnisse für Väter, Lehrer und Hofmeister (1780) und wurden ebenfalls verschiedene Werke der entstehenden Lehrerbildung wie z. B. Denzels Einleitung in die Erziehungs- und Unterrichts-Lehre für Volksschullehrer (1814) oder Demeters Vollständiges Handbuch zur Bildung angehender Schullehrer (1821) übergangen.3 Man könnte sich nun natürlich fragen, ob damit nicht ein späteres Verständnis einer systematischen wissenschaftlichen Pädagogik auf eine Zeit projiziert wurde, welche diese Unterscheidung so noch nicht kannte. Der Einwand scheint jedoch müßig zu sein, da das Korpus äußerst ansehnlich und ausgedehnt ist und selbst wenn es eine gewisse anachronistische systematische Schlagseite hätte, wäre sie nicht allzu gravierend, da sich darin trotz allem viele wichtige praktische Werke wie z. B. die Niemeyers, Vierthalers oder Schwarz’ finden.

Ihren „Referenzraum“ vermisst Vogel in zwei Schritten. In einem ersten werden die Werke des Korpus ausgewertet und zwar nach Autoren, die im jeweiligen Werk zitiert werden, und nach Autoren des Korpus, die auf das jeweilige Werk verweisen. Außerdem wird erhoben, welche Berufe die zitierten Autoren haben.4 Wie Vogel selbst weiß, ist Beruf für das 18. Jahrhundert kaum eine überzeugende Kategorie und zudem hatten viele Gelehrte nicht nur gleichzeitig mehrere „Berufe“, sondern auch ganz unterschiedliche im Verlauf ihrer Karriere. Trotzdem geben die Auswertungen aufschlussreiche Fingerzeige zu den „unterschiedlichen Berufs- und Positionsgruppen“, die in den jeweiligen Werken angeführt werden (S. 51). In einem zweiten Schritt jongliert Vogel dann gekonnt mit ihrem umfangreichen Datensatz und präsentiert ihre Befunde auch mit Hilfe informativer Graphiken. In akribischer Kleinarbeit weist sie rund 1.000 zitierte Autoren nach, die insgesamt ungefähr 6.000 Mal angeführt werden (S. 167). In ihrem „Zitierverhalten“ unterscheiden sich die Werke des Korpus deutlich (S. 168). Dass fast ausschließlich Männer angeführt werden, vermag nicht zu erstaunen (S. 174), dass antike Autoren nach wie vor ein gewisses Gewicht zukommt, ist ebenfalls nicht weiter verwunderlich. Wie konstant jedoch etwa der Anteil „praktischer Pädagogen“ (S. 176) ist, wie verhältnismäßig häufig Ärzte zitiert werden (S. 177–181) oder auf Zeitgenossen verwiesen wird, überrascht dann doch (S. 182). Wie Vogel an ihrem Datensatz im Vergleich zu späteren Nachschlagewerke ebenfalls schön aufzeigen kann, verschieben sich die Gewichte allmählich, so dass sich z. B. „eine selektive Rezeption der Aufklärungspädagogik“ konstatieren lässt (S. 190). Insgesamt führt die Studie eindrücklich vor Augen, wie „heterogen“ die Referenzen sind: Drei Fünftel der angeführten Autoren werden nur ein einziges Mal zitiert (S. 206). Vogels Arbeit liefert also nicht nur das Adressbuch der Referenzen in pädagogischen Einführungen, sondern erlaubt auch faszinierende Einblicke in den damit einhergehenden Zitat-Postverkehr. Wie bei jeder gelungenen Studie hätte man durchaus gerne auch noch mehr Details erfahren, etwa woher die zitierten Autoren genau stammten – eine Art „Kosmopolitismus-Index“ – oder welche Konfession sie hatten.

Nach hundert Jahren Gesamtbildern und -schauen präsentiert die Untersuchung unstrittig eine gekonnte und längst überfällige Untersuchung des Schwirrens von Referenzen und Eintagszitationsfliegen. Vogels Beitrag zu einer Wissens- und Wissenschaftsgeschichte der Pädagogik besticht zudem dadurch, dass er klar und elegant geschrieben ist und dass dabei auch immer wieder hervorgehoben wird, was der Ansatz zu leisten vermag und worin seine Tücken bestehen. Wie Vogel etwa hervorhebt, kann nämlich ein Vorgehen, das methodisch „betont distanziert“ und „in hohem Maße abstrahierend“ „im Wesentlichen auf tabellarischen Referenzanalysen beruht“, weder mit „dramaturgisch-argumentativen Höhepunkten“ brillieren, die gerade die Pädagogik zu lieben scheint (S. 205), noch lässt sich damit direkt viel über die „Sorte“ von Veränderungen aussagen, für die man sich in der Geschichtswissenschaft sonst häufig begeistert. Zweifelsohne ist es jedoch ein erstes großes Verdienst der Arbeit, den pädagogischen „Wissensraum“ überhaupt genau vermessen zu haben. Eine weitere Leistung der Studie besteht darin, eine pointierte Kritik der Gattung „Klassiker der Pädagogik“ vorzubringen und zu zeigen, dass es beim untersuchten „Wissensraum“ eher um mehr oder weniger ausgetretene und löchrige Referenzflickenteppiche handelt. Ein offensichtlicher Nutzen der Arbeit ist schließlich, dass sie eine solide Grundlage für weitere Untersuchungen bietet. Denn Vogel liefert zwar eine exakte Analyse, wer zitiert wurde, aber was von wem wie und warum angeführt wurde, bleibt nach wie vor zu entdecken. Ganz klassisch könnte man sich nun also mit den Erfahrungsräumen und Erwartungshorizonten beschäftigen, die mit den Referenzläufern verbunden waren. Vogels Arbeit kommt somit das doppelte Verdienst zu, nicht nur die zitierfähigen Autoren zwischen 1750 und 1850 untersucht zu haben, sondern ihre Leserschaft auch davor zu bewahren, eine allzu schlichte Vorstellung des Wirrwarrs zu haben, auf das man dabei stößt.

Anmerkungen:
1 Ambrose Bierce, The Devil’s Dictionary, New York 1966, S. 138 (= The collected Works, 7. Band).
2 Siehe z. B. Simone Austermann, Die „allgemeine Revision“. Pädagogische Theorieentwicklung im 18. Jahrhundert, Bad Heilbrunn 2010 und dieselbe, Die „Allgemeine Revision“. Das erste Lehrbuch der Erziehungswissenschaft?!, in: Peter Kauder / Peter Vogel (Hrsg.), Lehrbücher der Erziehungswissenschaft – ein Spiegel der Disziplin?, Bad Heilbrunn 2015, S. 33–42.
3 Für die Digitalisate der genannten Werke siehe http://resolver.sub.uni-goettingen.de/purl?PPN658120107 (05.09.2024), https://digital.onb.ac.at/OnbViewer/viewer.faces?doc=ABO_%2BZ184511904, https://onb.digital/result/10B69754 (05.09.2024) und https://www.digitale-sammlungen.de/view/bsb10762562?page=%2C1 (05.09.2024).
4 Um die „Berufe“ festzulegen, wurde auf die GND, die Gemeinsamen Normdatei, zurückgegriffen, siehe https://www.dnb.de/DE/Professionell/Standardisierung/GND/gnd_node.html (05.09.2024).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/