„The End of Empires and a World Remade“ ist ein Buch, wie man es von Martin Thomas nicht erwartet hätte. Umso aufmerksamer wird man, wenn ein erfahrener Historiker neue Wege beschreitet. Wer mit Kolonialismus und Imperialismus zu tun hat, kennt Thomas als einen ungewöhnlich produktiven, stets aus der Fülle der Archive schöpfenden Experten für das französische Imperium im 20. Jahrhundert. Mit Büchern über Sicherheitsdienste und Polizei in mehreren Imperien und vor allem als Mitherausgeber des „Oxford Handbook of the Ends of Empire“ hat er inzwischen den französischen Forschungskontext überschritten und sich auch an die Spitze der vergleichenden und weltweit ausgreifenden zeithistorischen Imperienforschung gesetzt.1
Ist seine „global history of decolonization” nun das ultimative, allumfassende Standardwerk? Das Versprechen einer „global history“ weckt aus zwei Gründen nicht nur enthusiastische Erwartungen. Zum einen verbirgt sich hinter einem solchen Buchtitel allzu oft entweder ein strukturloses Potpourri von Lesefrüchten aus aller Welt oder eine nur sporadisch „erweiterte“ europäisch-atlantische Geschichte. Zum anderen ist gerade die Geschichte der Dekolonisation bereits in der Vergangenheit geographisch breit angelegt worden, vor allem auch bei deutschen Historikern wie Franz Ansprenger, Dietmar Rothermund oder Wolfgang Reinhard2, die nationalhistorisch nicht auf ein bestimmtes Imperium festgelegt waren. „Globaler“ als bei diesen Autoren geht es auch bei Martin Thomas nicht zu. Im Gegenteil: Die Karibik und der Pazifik kommen bei ihm nur am Rande vor, und die Emanzipation der britischen Dominions interessiert ihn nicht.
Die Überraschung besteht darin, dass es sich bei „The End of Empire and a World Remade“ nicht um narrative Geschichtsschreibung handelt, sondern erstmals im Œuvre von Martin Thomas um ein im Kern theoretisches Werk. Anfängern ist seine Lektüre nicht zu empfehlen. Die ungefähre Kenntnis von Chronologie, Geographie, Verlauf und Hauptakteuren der einzelnen regionalen und nationalen Dekolonisationsprozesse wird stillschweigend vorausgesetzt. Wenn Thomas beispielsweise kurz die Suez-Krise von 1956 streift, erfährt man nicht, worum es damals ging. Gewalt während der Teilung Indiens wird ausführlich diskutiert, doch man sollte bereits wissen, wie es überhaupt zur partition gekommen war. Persönlichkeiten wie Sukarno, Nehru oder Kaunda tauchen plötzlich auf und werden nicht eingeführt oder charakterisiert. Das reichlich ausgebreitete historische Material dient weniger als Erzählstoff denn als Illustration interpretatorischer Argumente. All dies ist völlig legitim. Der Theoretiker ist nicht zu Vollständigkeit und pädagogischer Geduld verpflichtet. Wer sich zum Beispiel mit Rothermunds „Routledge Companion to Decolonization“ und Odd Arne Westads „The Cold War: A Global History“ vorbereitet hat, dürfte Thomas leicht folgen können.3
Das Buch hätte genauso gut „Rethinking Decolonisation“ heißen können. Es enthält eine nützliche Bibliographie von etwa 2.300 englischsprachigen Titeln, die meisten davon nach 2000 erschienen. Sein umfangreicher Anmerkungsapparat verweist zusätzlich auf französische Literatur und auf Archivalien in fünf Ländern. Bleiben 350 Seiten für den Haupttext, der in fünfzehn Kapitel gegliedert ist. Die ersten drei Kapitel bilden den eigentlich theoretischen Teil, die übrigen zwölf behandeln in nur loser chronologischer Folge „factors which […] were crucial in triggering European colonial collapse“ (S. 5). Dass Thomas innerhalb der Kapitel manchmal große Zeitsprünge macht, verlangt hohe Lesekonzentration. Er will keine kontinuierliche und stetige Entwicklungsgeschichte erzählen, sondern der Frage auf den Grund gehen, welchen historischen Stellenwert die Dekolonisation angesichts fortdauernder Ungleichheit und Ungerechtigkeit in der Welt besitzt.
Der theoretische Ertrag der drei Eingangskapitel ist nicht leicht zu fassen, weil Thomas gerne gegensätzliche Standpunkte aus der Literatur referiert, ohne entschlossen seine eigene Lösung anzubieten. So redlich das ist, so dankbar wäre man für präzisere Antwortversuche auf die schwierigen Fragen gewesen, die Thomas selbst stellt. Ein staatsrechtlicher Begriff von „Unabhängigkeit“ ist zu eng, aber soll dann „Dekolonisation“ die Beseitigung von internationalen Hierarchien jeglicher Art bedeuten? Irgendwie muss auch ein weiter Begriff definitorisch eingefangen werden. Kann es als Norm historischen Urteilens so etwas wie „authentic decolonization“ (S. 22) geben? Weil koloniale Folgelasten auf vielen Gebieten bis heute andauern: Woran würde man den Erfolg genuiner Dekolonisation erkennen? Wenn das Ende „formaler“ Imperien und eine beschleunigte globale Integration „the most globally transformative processes of the past century“ waren (S. 27), wie hängen sie kausal zusammen? Reicht es (das ist Thomas‘ zurückhaltende Antwort), sie als „codependent“ zu betrachten (S. 45)? Falls Prozesse der Dekolonisation transregional oder gar global betrachtet werden sollen, mit welchen Einschränkungen kann man dann überhaupt noch Länderstudien betreiben? War die Spannung zwischen individuellen Menschenrechten und kollektiven sozio-ökonomischen Rechten sowie dem nationalen Recht auf „Souveränität“ ein produktiver Motor der Geschichte oder Ausdruck einer unauflöslichen und geradezu tragischen Aporie?
Das Interesse an Recht und Rechten durchzieht auch viele der zwölf spezifischeren Kapitel. Die Dekolonisation nach 1945 vollzog sich im Lichte einer menschenrechtlich sensibilisierten Weltöffentlichkeit, an die sich die einzelnen Befreiungsbewegungen mit unterschiedlichem Geschick und Erfolg wandten. Obwohl dieser zweite Teil des Buches „paths of empire destruction“ (S. 63) nachzeichnen soll, geschah der Zerfall der Imperien tatsächlich oft ohne dramatische Zerstörung. Aus den verschiedensten Gründen verloren Imperien nicht nur ihre Legitimität (das allein führte selten zum Untergang), sondern ihre schiere Funktionalität. Sie generierten weder ökonomische Profite und Prestigerenditen für die Metropolen noch die Wohlstandssteigerungen in den Kolonien, die der koloniale Staat in seiner Spätphase den Untertanen versprach. Martin Thomas zeigt das an zahlreichen Beispielen, ohne diesen wichtigen Punkt hinreichend in sein Theoriekonzept einzubauen. Er relativiert „the analytical premise […] that empires were brought down by their opponents” (S. 263), aus der heute leider ein Verzicht auf eine politökonomische Perspektive hergeleitet werde. Zwei seiner stärksten Kapitel sind deshalb den inneren Widersprüchen wirtschaftlicher Entwicklungsprogramme gewidmet, die vielfach aus der Kolonialzeit in die neue Epoche der staatsrechtlichen Unabhängigkeit hinein verlängert wurden, nunmehr häufig unter sozialistischen Vorzeichen mit Landenteignungen, Genossenschaften und Staatsmonopolen. Die neuen politischen Eliten knüpften an das spätkoloniale Wohlstandsversprechen an (wohl eher in Afrika als in Asien) und nahmen es zum Anlass oder Vorwand, um demokratische Ansätze der unmittelbaren Umbruchszeit autoritär abzubrechen. „Development after independence became identifiable with the authoritarianism of ascendant regimes.” (S. 248)
Thomas vertritt mit Nachdruck die These, der Zweite Weltkrieg sei keineswegs ein Katalysator imperialer Desintegration gewesen (S. 124), schon deshalb nicht, weil er in Asien bruchlos in neue antiimperiale Widerstandskriege – man müsste ergänzen: und Bürgerkriege – überging (S. 132), kurz: in „a violent peacetime“ (S. 163). Grundsätzlich interessant ist sein Vergleich der „partitions“ in Südasien und Palästina (leider nicht auch in Korea); das Verhältnis zwischen Strategie „von oben“ und spontaner Gewalt „von unten“ lässt er allerdings weithin ungeklärt. Gewalt ist bei ihm über mehrere Kapitel hinweg ein großes Thema, ohne dass er Kolonialismus eindimensional als eine Art von Dauergenozid beschreiben würde. Ein separates Kapitel über „the civilianization of violence“, das heißt die zunehmende Betroffenheit einer wehrlosen Zivilbevölkerung, gehört deswegen zu den besten des Bandes, weil die dominierende Rolle der kolonialen Autoritäten als Täter innerhalb eines komplexeren gesellschaftlichen Feldes gesehen wird. Wie David van Reybrouck für Indonesien gezeigt hat, kamen in einer chaotischen Situation des imperialen Endspiels mehrere unterschiedliche Gewaltdynamiken zusammen.4
Der in Exeter tätige Historiker teilt mit dem Postkolonialismus die Einschätzung, dass die Dekolonisation in mancher Hinsicht noch nicht abgeschlossen ist („the messy incompleteness of decolonization““, S. 349). Er führt dies aber weniger auf stabile rassistische Mentalitätslagen zurück als auf die polarisierende Logik eines übermächtigen „racial capitalism“ (S. 336) und auf das politische Scheitern eines keineswegs einigen und einheitlichen Globalen Südens beim Versuch, eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung durchzusetzen.
Martin Thomas‘ Buch erreicht nicht immer die analytische Eleganz der besten Schriften eines anderen konzeptionellen Kopfes unter den Imperialhistorikern, Frederick Cooper. Es ist jedoch ein gut begründeter Aufruf, Forschungsroutinen und Debattenrituale reflexiv zu unterbrechen und sich den Paradoxien – ein Schlüsselwort bei Thomas – der jüngeren Weltentwicklung zu stellen. Auch deshalb verdient es weite Verbreitung und intensive Diskussion.
Anmerkungen:
1 Martin Thomas, Empires of Intelligence. Security Services and Colonial Disorder after 1914, Berkeley 2008; ders., Violence and Colonial Order. Police, Workers and Protest in the European Colonial Empires, 1918–1940, Cambridge 2012; ders. / Andrew Thompson (Hrsg.), The Oxford Handbook of the Ends of Empire, Oxford 2018.
2 Franz Ansprenger, Auflösung der Kolonialreiche, 4. durchges. u. erw. Aufl., München 1981 (1. Aufl. 1966); Dietmar Rothermund, The Routledge Companion to Decolonization, London 2006; Wolfgang Reinhard, Die Unterwerfung der Welt. Globalgeschichte der europäischen Expansion 1415–2015, München 2016.
3 Odd Arne Westad, The Cold War. A Global History, New York 2017.
4 David van Reybrouck, Revolusi. Indonesien und die Entstehung der modernen Welt. A. d. Niederl. von Andreas Ecke, Berlin 2022. Die englische Übersetzung dieses Buches erschien erst im Februar 2024, zu spät für Martin Thomas.