Die DDR-Aufarbeitung ist strukturell verzerrt. Auf diesen provokanten Satz ließe sich die Ausgangsthese des Buches von Christian Booß und Sebastian Richter zusammenfassen, denn in der Geschichte zur politischen Justiz als Kernbereich der DDR-Forschung wurde vor allem das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) als maßgebender Akteur herausgearbeitet.1 Interessanterweise machen die beiden Autoren und (ehemaligen) Mitarbeiter des Stasi-Unterlagen-Archivs, in dessen Reihe das Buch erschienen ist, ihre eigene Institution dafür verantwortlich: „Nicht zuletzt war es die Eigenforschung dieser Behörde selbst, die die Dominanz des MfS in wichtigen politischen Verfahren hervorhob.“ (S. 11) Booß und Richter treten dem entgegen und fokussieren sich auf die bislang eher unterbelichtete DDR-Staatsanwaltschaft. In welchem Verhältnis stand diese zum MfS? Wer bestimmte inwiefern das Ergebnis eines Ermittlungsverfahrens? Die Autoren fragen nach den vielfältigen Steuerungsmechanismen in der DDR-Justiz, wobei sie das komplexe und sich im Laufe der Zeit verändernde Justizsystem sehr differenziert analysieren und bewerten. Beide Autoren verbindet, dass sie als Historiker an juristischen Fakultäten promoviert wurden, was ungewöhnlich ist. Neben einer gemeinsamen Einleitung und dem Resümee verantworten die Autoren jeweils zwei Hauptkapitel. Die 2023 verteidigte Dissertation von Sebastian Richter bildet die Grundlage für das zweite und vierte Kapitel, während Christian Booß das dritte und fünfte Kapitel verfasst hat. Diese unkonventionelle Konzeptionierung führt bei der Umsetzung indes zu einigen Problemen.
Der methodische Clou besteht aus einer Stichprobe, bei der in Berlin bearbeitete MfS-Ermittlungsverfahren (zentrale Hauptabteilung sowie Berliner Bezirksverwaltung) der Archivierungsjahre 1958, 1963, 1969, 1972, 1979, 1984 und 1988/89 in Hinblick auf „Propaganda“-Delikte (Paragraf 19, 20 Strafrechtsergänzungsgesetz, 106, 220 StGB) analysiert werden. Auf diese Weise gelangen 80 Ermittlungsverfahren gegen 110 Personen in die Auswertung, für die eine spezielle und abgeschottete „IA-Abteilung“ der Generalstaatsanwaltschaft der DDR beziehungsweise von Ost-Berlin zuständig war. Das Fokussieren auf einen konkreten Tatvorwurf im Abstand von einigen Jahren ermöglicht es, Veränderungen der strafrechtlichen Praktiken im zeitlichen Verlauf herauszuarbeiten. Die Autoren reflektieren dabei aber zu wenig etwaige Hauptstadt-Sondereffekte für den DDR-Bezirk Berlin. So war das gemeinsame Mittagessen mit einem übergeordneten Vertreter einer Zentralinstitution hier rein logistisch viel leichter umzusetzen als in der Provinz. In Hinblick auf Berliner Besonderheiten gibt es allerdings einen interessanten Exkurs zu der vor allem vor dem Mauerbau praktizierten Herrschaftstechnik, bestimmte Verfahren in die DDR-Peripherie zu delegieren (S. 290–294).
Die vier Hauptkapitel sind nicht chronologisch, sondern nach thematischen Schwerpunkten aufgebaut, wobei es inhaltliche Überschneidungen und mitunter Redundanzen gibt. Das Buch zeichnet ein Gesamtbild, wonach es in der DDR in den 1950er-Jahren eine stalinistisch geprägte Anfangsphase mit „wilder“ Rechtsanwendung von juristisch gering qualifizierten, aber politisch loyalen Ermittlungsorganen gab, die von einer Übergangsphase in den 1960er-Jahren abgelöst wurde, in der die verschiedenen Rechtsinstitutionen Konflikte austrugen, ihre Rollen zueinanderfanden und sich akademisierten. Bis 1989 gab es einen Prozess der „Verregelung“, bei dem gemeinsame Normen (allen voran das Strafprozessrecht) dabei halfen, dass zigtausende politische Strafverfahren relativ geräuschlos und nach außen hin rechtskonform durchgeführt werden konnten. Das Primat der Politik wurde demnach weniger durch direkte Anweisungen aus dem Zentralkomitee der SED realisiert, sondern basierte vielmehr auf einem gemeinsamen Mindset. Neben der allgemeinen politischen Einbindung der jeweiligen Institutionen waren die einzelnen Justizfunktionäre als „Nomenklaturkader“ in die SED integriert, sodass die Einheitspartei vielfältige Steuerungsmöglichkeiten besaß. Eine von vielen inhaltlichen Stärken des Buches ist es, prominent auf die bislang eher wenig beachteten, regelmäßigen Leiter- und Stellvertreterberatungen zu verweisen, bei denen sich die an den Strafverfahren beteiligten Akteure zu Rechtsfragen austauschen und abstimmen konnten. Nachdem sie sich auf dieser Ebene geeinigt hatten, konnten sie die Ergebnisse innerhalb ihrer Institutionen vertikal nach unten weiterleiten.
Das Buch zeigt auf, dass formal jedes von der Linie IX des MfS geführte Ermittlungsverfahren der staatsanwaltlichen Aufsicht unterlag. In der Praxis gab es jedoch Mittel und Wege für die Geheimpolizei, den äußeren Kontrolldruck durch die Staatsanwaltschaft zu begrenzen. So pflegte das MfS einen kollegial-kameradschaftlichen Umgang mit den handverlesenen Haftstaatsanwälten, die tatsächlich auch physisch in den MfS-Gefängnissen präsent sein durften und übergab ihnen Dienstwagen, Geschenke und Geldprämien. Zudem arbeiteten die MfS-Vernehmer mit einer Art doppelten Buchführung: Es gab eine offizielle Gerichtsakte, die für die Augen der Staatsanwaltschaft bestimmt war und in der eine korrekte Rechtsfassade nach den Regeln der Strafprozessordnung (StPO) aufgebaut wurde, und eine MfS-Handakte mit illegal-geheimpolizeilichen Dokumenten wie etwa Berichten von Inoffiziellen Mitarbeitern. Die Linie IX des MfS agierte als Mittlerin zwischen den Welten und überführte die konspirativ erworbenen Erkenntnisse der operativen Diensteinheiten in die offizielle Rechtssphäre, wo sie nach den Regeln der StPO gerichtstaugliche Beweise erarbeitete. Eine plausible und gut belegte These des Buchs lautet, dass das MfS die staatsanwaltliche Prüfung seiner Ermittlungsverfahren antizipierte und sich vorab einer Selbstkontrolle unterwarf.
Der Kern des Buches besteht aus den Fallanalysen im vierten Kapitel, bei der Sebastian Richter analytisch in die Tiefe geht und einzelne strafprozessuale Verfahrensschritte unter die Lupe nimmt. Um ein Ermittlungsverfahren „sauber“ einleiten zu können und die inoffiziellen Informationen in offizielle zu überführen, gab es für das MfS etwa die Möglichkeit des Prüfungsstadiums, um Verdächtige in der Hoffnung auf belastende Aussagen zunächst noch als Zeugen zu vernehmen. Auf welchem wackligen Fundament die äußerliche Rechtsfassade stand, zeigt Richter anhand der Verhaftungspraxis, bei der die Ausnahmeregelung der vorläufigen Festnahme zum Regelfall erhoben wurde, was er als illegal bewertet (S. 216). Ein Vergleich der MfS-Handakten mit den Gerichtsakten zeigt, dass aus Opportunitätsgründen viele Vernehmungsprotokolle im Geheimen verblieben und nicht in die offizielle strafrechtliche Bewertung eingingen, um beispielsweise nachrangige Delikte der allgemeinen Kriminalität unter den Tisch fallen zu lassen (S. 237). Das Rechtsverständnis der Geheimpolizei zeigt sich im Übrigen gerade auch bei Verfahren, die aus mutmaßlich politischen Gründen eingestellt wurden, beispielsweise beim Sohn von Erich Mielke, der 1970 einen Verkehrsunfall verursachte, bei dem zwei Menschen starben (S. 286–290). Doch die Staatsanwaltschaft war kein Zaungast: Es kam vor, dass sie das MfS-Ermittlungsergebnis strafrechtlich verschärfte und je nach zeitlichem Kontext in ihrer Anklageschrift in politische Propagandaplattitüden überführte. Beide Institutionen erfüllten im Justizsystem spezifische Funktionen: „Während das MfS die strafrechtlich verfolgten Taten auch mittels geheimpolizeilicher Methoden in ein Korsett aus materiell- und formalrechtlichen Vorschriften presste, war es Aufgabe der IA-Staatsanwälte, die vom MfS vorgenommene juristische Einordnung einer Straftat abzusichern und sie aktenkundig an die aktuelle strafpolitische Strategie der SED-Führung zurückzubinden.“ (S. 366)
Die Gliederung des Buches, die wenig Lust zum Lesen weckt, ist unübersichtlich und an einigen Stellen unlogisch aufgebaut. Ein Beispiel: Das übergeordnete Kapitel 3.2 „Die Informanten des MfS bei der Generalstaatsanwaltschaft um 1960“ beginnt mit den Unterkapiteln „3.2.1 Inoffizielle Mitarbeiter“ und „3.2.2 IM der Linie XX/1 in der Generalstaatsanwaltschaft der DDR von 1955–1985“. Hier stimmt allein von den Überschriften her die inhaltliche und zeitliche Zuordnung nicht. Während bei Christian Booß die unterste Kapitelebene mitunter nur wenige Zeilen umfasst (zum Beispiel 3.2.7), überrascht Sebastian Richter seine Leserschaft, indem er ab Kapitel 4.1.2.1 eine vierte Kapitelebene einzieht, die sich jedoch nicht im Inhaltsverzeichnis widerspiegelt. Booß wiederum lässt dem Kapitel 5.2 ein Unterkapitel 5.2.1, aber kein 5.2.2 folgen. Das hätte spätestens beim Lektorat auffallen müssen. Offensichtlich ist es beiden Autoren nicht gelungen, ihre wichtigen Inhalte auf eine gemeinsame funktionale Struktur zu übertragen. Der Lesefluss wird zudem durch eine eher lexikalische Narration erschwert, die abseits der Fallanalysen kaum anschauliche Beispiele enthält. Statt die abstrakte Justizstruktur in lebendigen Quellenminiaturen zu beschreiben, beschränken sich die Autoren erzählerisch auf den immer wieder vorgetragenen Hinweis, den bestehenden Forschungsstand zu ergänzen oder zu korrigieren. Umso bemerkenswerter ist der Umstand, dass nur wenig Literatur zitiert wird: Das Literaturverzeichnis inklusive gedruckter Quellen umfasst nur sieben Seiten.
Um nicht missverstanden zu werden: Das in mühevoller Kärrnerarbeit entstandene Buch enthält einen ganzen Sack voll bedenkenswerter Thesen, erhellender Informationen sowie intelligenter Schlussfolgerungen und wird für das Fachpublikum zum neuen Standardwerk werden. Den Autoren ist es aber zu wenig gelungen, den komplexen Untersuchungsgegenstand für eine breitere Zielgruppe aufzubereiten, sodass hier Potential verschenkt wurde. Wer sich aber professionell mit der DDR-Justiz beschäftigt, dem sei dieses Buch beziehungsweise sein ausführliches fünfzigseitiges Resümee dringend zur Lektüre empfohlen.
Anmerkung:
1 Vgl. Roger Engelmann / Clemens Vollnhals (Hrsg.), Justiz im Dienste der Parteiherrschaft. Rechtspraxis und Staatssicherheit in der DDR, Berlin 1999; Katrin Passens, MfS-Untersuchungshaft. Funktion und Entwicklung von 1971 bis 1989, Berlin 2012; Roger Engelmann / Frank Joestel, Die Hauptabteilung IX. Untersuchung (MfS-Handbuch), Berlin 2016.