Zu den verschiedenen Ansätzen der Neuen Diplomatiegeschichte der letzten Jahrzehnte gehören die akteurszentrierte Perspektive sowie die Fokussierung auf mikropolitische Verflechtungen von Außenbeziehungen der Vormoderne. Sie haben diplomatische Aktivitäten von Personen jenseits der offiziellen Gesandtenränge – wie Militärs, höfischen Beamten und Künstlern – erschlossen und Beziehungen zwischen Akteur:innen in den Fokus gerückt, zwischen denen erhebliche Machtgefälle vorherrschten. Die 2022 publizierte Bonner Dissertation von Florian Gerald Obrecht schließt an diese Ansätze an.
Obrecht untersucht auf über 500 Textseiten die asymmetrischen diplomatischen Beziehungen zwischen der Reichsstadt Aachen und Frankreich während des Holländischen Kriegs (1672–1679). Den Untersuchungszeitraum der Studie begründet Obrecht mit der äußerst günstigen Überlieferungslage der Quellen für die 1670er-Jahre, während die Aachener Außenbeziehungen gerade der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bislang wissenschaftlich unterbelichtet sind. Hinzu kommt der expansiv-offensive Charakter französischer Politik in diesem Zeitraum, der die Kontakte der mindermächtigen Stadt zum Königreich besonders intensiv gestaltete. So war Aachen mittelbar und unmittelbar von französischen militärischen Aktivitäten betroffen und wurde zeitweilig gar von Truppen Ludwigs XIV. besetzt. Gerade deshalb bietet sich der Holländische Krieg als besonders lohnenswerter Zeitraum für die Untersuchung der Beziehungen zwischen Aachen und Frankreich an.
Obrecht geht Fragen nach den konkreten diplomatisch handelnden Akteuren, den Verhandlungsobjekten und -dispositionen, den Strategien, Zielen und Einflussfaktoren nach. Vor allem geht es ihm darum, mikropolitische Beziehungen und Verflechtungen aufzudecken und zu analysieren. So sieht der Autor seine Arbeit „an der Schnittstelle zwischen Neuer Diplomatiegeschichte und Stadtgeschichte“ (S. 8). Damit knüpft er an eine Forschungstendenz der letzten zwei Jahrzehnte an. In diesem Zuge sind vormoderne Städte als eigenständig handelnde Akteurinnen innerhalb von – auch europäischen – Außenbeziehungen betrachtet sowie kulturalistische und andere innovative methodische Ansätze, wie die Analyse symbolischer Kommunikation oder sozialer Verflechtungen, angewandt worden.1 Der Autor fokussiert bei seiner Untersuchung auf die Aachener Seite, geht aber auch immer wieder auf die französische Perspektive ein. Das zentrale Quellenkorpus seiner Studie speist sich aus Aachener Ratsprotokollen und Briefen, die im Aachener Stadtarchiv verwahrt werden. Letztere umfassen die Korrespondenzen des Stadtrats mit französischen Beamten und Akteuren, die die Stadt als Deputierte und Agenten am französischen Hof, auf dem Friedenskongress von Nimwegen (1676–1679) und gegenüber französischen Entscheidungsträgern in Aachens Nachbarschaft vertraten. Zur Aachener Perspektive ergänzend werden außerdem – in geringerem Umfang – Akten aus den Archiven des französischen Außen- und Verteidigungsministeriums zu Rate gezogen, was eine Überprüfung der Gegenposition zulässt.
Im Hauptteil beschäftigt sich Obrecht zunächst mit den Rahmenbedingungen der Beziehungen zwischen Aachen und Frankreich: die Verfasstheit und die Strukturen Aachens und in knapperer Form Frankreichs, das Verhältnis beider bis zum untersuchten Zeitraum sowie Charakteristika reichsstädtischer Diplomatie. Hier wirft der Autor auch schon einen ersten Blick auf die französischen Adressaten der Aachener Kommunikation, die vor allem aus französischen Gouverneuren und Intendanten in den französisch besetzten Städten der Umgebung, der französischen Gesandtschaft auf dem Nimwegener Friedenskongress und Kriegsminister François Michel Le Tellier de Louvois am königlichen Hof bestanden. Anhand des Aachener Agenten Adriën Correur in Paris zeigt Obrecht die Kommunikationsmodi eines Vertreters der Reichsstadt am französischen Hof auf, die das mündliche Vorbringen von Anliegen in Audienzen Louvois’ und die Übergabe von Memoranden umfassten.
Im darauffolgenden Kapitel stellt Obrecht die Akteure der mikropolitischen Verflechtungen zwischen Frankreich und Aachen vor: Auf der Seite der Reichsstadt spielten im Zuge solenner Missionen Bürgermeister häufig eine wichtige Rolle. Protagonisten substantieller Verhandlungen waren aber meistens die Syndici der Stadt. Hervorzuheben ist hier der Syndikus Johann Albert Braumann, der wesentliche diplomatische Missionen in der Region leitete und als einziges Mitglied des Aachener Regierungsapparats im Untersuchungszeitraum nach Paris entsandt wurde. Dabei bildete Braumann in gewisser Weise das Pendant zu Karl von Berg, der vornehmlich die Kommunikation mit Wien übernahm. Gerade im Zuge des Aufenthalts Braumanns in Paris geht Obrecht auf wichtige Ansprechpartner ein. So versuchte Braumann den Straßburger Fürstbischof Franz Egon von Fürstenberg und den Marschall Friedrich Graf von Schomberg für die Anliegen Aachens zu gewinnen. Diese Kontakte und solche zu Bediensteten nutzte der Syndikus zudem zur Informationsakquise. Unter weiteren vorgestellten Akteuren ist neben dem bereits genannten Correur der Dominikaner Leonard de la Florence hervorzuheben, der die Anliegen Aachens auf dem Friedenskongress von Nimwegen vertrat. Beide wussten sich geschickt am Hof und auf dem Kongress zu verhalten und schufen ein umfassendes Netzwerk vor Ort. Außerdem stellt Obrecht Personen vor, die fernab einer offiziellen Position an den Beziehungen zwischen Frankreich und Aachen partizipierten, indem sie etwa Geldzahlungen übermittelten.
Das vierte Kapitel handelt ereignisgeschichtlich die Beziehungsentwicklung zwischen Frankreich und Aachen vom Beginn des Kriegs bis zum Auszug der französischen Garnison aus Aachen Ende 1679 ab. Dabei werden die wesentlichen Verhandlungsthemen Aachens gegenüber Frankreich deutlich, die die Kontributionslast der Stadt, ihre zeitweise aussichtsreiche Bewerbung als Kongressort, ebenso wie ihre Inklusionsbemühungen in die Nimwegener Friedensverträge umfassten. Gerade im Zuge der Aachener Kongressbewerbung leistet Obrecht wichtige Arbeit, indem er detailliert auf Ziele und Strategien städtischer Akteure eingeht, die in der frühneuzeitlichen Friedensforschung nicht immer eine derart hohe und angemessene Aufmerksamkeit erhalten. Zudem behandelt die Monographie differenziert neben dem völkerrechtlichen auch das praktische Verständnis von Neutralität. Hier bestätigt Obrecht zunächst den Forschungsstand, nach dem Neutralität kein verbindlich-definiertes Rechtskonzept, sondern ein aus pragmatischen Gründen angestrebter, flexibler, stetig neu auszuhandelnder und angreifbarer Zustand war. Interessanterweise stellt der Autor allerdings fest, dass Aachens Neutralität von außen nicht negativ konnotiert wurde, wie es sonst häufig der Fall war. Angesichts der äußerst prekären Lage Aachens gegenüber französischen Entscheidungsträgern stellten letztere zwar äußerst rigide Kontributionsforderungen, waren aber deutlich gewogener, wenn es zu Aachener Beschwerden über Bedrängungen im Aachener Land durch französische Truppen kam. Beachtlich sind Bereitschaft und Angebot des französischen Gouverneurs in Maastricht, der Reichsstadt mit eigenen Truppen im November 1677 zu Hilfe zu kommen, als eine Belagerung durch Münsterische Truppen drohte. Im Zuge des Nimwegener Friedenskongresses offenbart Obrecht das weitreichende Netzwerk des Aachener Vertreters de la Florence und nennt hier auch als wichtige Kontaktperson den Auditor des päpstlichen Nuntius, den er aber nicht als Agostino Pinchiari identifiziert, sondern mit dem Nuntiatursekretär Lorenzo Casoni vertauscht – eine singuläre Verwechslung in dieser Arbeit (u.a. S. 147f., 351, 460).2
Das fünfte Kapitel liefert einen Exkurs über die Lebenswelten der Einwohner:innen Aachens während der Kriegsjahre. Dabei geht Obrecht verstärkt auf Interaktionen zwischen Personen von Stadt und Umland sowie französischen Militärs mit ihren Auswirkungen auf das Alltagsleben ein.
Im letzten Kapitel des Hauptteils, in dem sich Obrecht mit Verhandlungsstrategien beschäftigt, sind vor allem die argumentativen Instrumente der Aachener Akteure von großem Belang. Sie erinnerten an französische Bekundungen des Wohlwollens, verwiesen auf frühere Verträge und appellierten an das Mitleid. Ein Alleinstellungsmerkmal Aachener Diplomatie gegenüber Frankreich stellt die Berufung auf Karl den Großen als Protagonisten einer gemeinsamen Vergangenheit dar. So wurden traditionelle Verbindungen betont und an die protegierende Verantwortung Ludwigs XIV. in der Nachfolge Karls appelliert. Die Perzeption auf französischer Seite ist zugleich auch ein wesentlicher Bestandteil von Obrechts Fazit: Für die französischen Entscheidungsträger hatten diese Argumente geringen Wert. Die Beziehungen zu Aachen waren von einer enormen Asymmetrie der Macht geprägt, sodass die Reichsstadt stets als Bittstellerin auftrat und die französischen Entscheidungen höchstens marginal beeinflussen konnte. Der Autor spricht selbst von Aachen als einer „quantité négligeable“ (S. 468).
Mit seiner Dissertation beleuchtet Obrecht wichtige Aspekte reichsstädtischer Diplomatie im 17. Jahrhundert, etwa die durchaus tiefgreifenden Netzwerke und die in ihrem Potential limitierten diplomatischen Strategien. Die Untersuchungsergebnisse knüpfen gewinnbringend an richtungsweisende Arbeiten über Außenbeziehungen frühneuzeitlicher Städte an. Eine häufigere und explizitere Kontextualisierung der Ergebnisse in den Forschungsstand der frühneuzeitlichen Diplomatie von Städten wäre wünschenswert gewesen. Die Lesbarkeit der Monographie wird durch ihre wenig trennscharfe Gliederung gedämpft. Durch dieses strukturelle Defizit kommt es zu einigen thematischen Dopplungen. Weitergehende konzeptionelle Überlegungen der Neuen Diplomatiegeschichte, wie jene zur „double négociation“ (S. 19) werden zwar angesprochen, eine ausgiebige Auseinandersetzung mit ihnen findet aber nicht immer statt. Den wichtigen Leistungen der Monographie – eine detaillierte Rekonstruktion der Beziehungen Aachens mit Frankreich sowie das Aufdecken von Strategien der Kommunikation und Vernetzung durch eine Reichsstadt – tut dies keinen Abbruch.
Anmerkungen:
1 Vgl. hier v. a. Indravati Félicité, Négocier pour exister. Les villes et duchés du nord de l’Empire face à la France, 1650–1730, Berlin 2016; André Krischer, Reichsstädte in der Fürstengesellschaft. Politischer Zeichengebrauch in der Frühen Neuzeit, Darmstadt 2006. Vgl. außerdem mit einer eidgenossenschaftlichen Perspektive Sarah Rindlisbacher Thomi, Botschafter des Protestantismus. Außenpolitisches Handeln von Zürcher Stadtgeistlichen im 17. Jahrhundert, Göttingen 2022.
2 Vgl. hierzu exemplarisch Peter Rietbergen, Papal Diplomacy and Mediation at the Peace of Nijmegen, in: Johannes Alphonsus Henricus Bots (Hrsg.), The Peace of Nijmegen 1676–1678/79. International Congress of the tricentennial Nijmegen 14–16 September 1978, Amsterdam 1980, S. 29–96, hier S. 46f.