Lange Zeit wurde der Zweite Weltkrieg aus nationaler Perspektive gedeutet – in der britischen militärgeschichtlichen Tradition als ideologischer Kampf zwischen westlichen Demokratien und Nationalsozialismus (NS), in der deutschen Forschung als rassistischer Vernichtungskrieg im Osten. Inzwischen wird diese eurozentristische Sichtweise durch eine globale Perspektive bereichert.1 Richard Overy, einer der ausgewiesensten Kenner des Zweiten Weltkriegs, erweitert den Blick unter starker Berücksichtigung des postkolonialen und des Rassismusdiskurses gleich dreifach: räumlich-global einschließlich des pazifischen Schauplatzes, zeitlich und in Bezug auf die Art sowie Definition der Einzelkonflikte. Der Zweite Weltkrieg – so seine Hauptthese – besiegelte den Untergang der großen europäischen Kolonialmächte und begann 1931 mit deren Herausforderung durch die Japaner als Folge und Höhepunkt des Spätimperialismus. Damit lenkt er den Blick auf die langfristigen Ursachen dieses größten und „letzten“ imperialen Krieges, der ein Geflecht von mehreren, oft rassistisch und grausam geführten Konflikten war, die Overy meisterhaft in allen seinen Facetten aufgliedert.
Seine große Überblicksdarstellung besteht aus vier chronologisch-narrativen und sieben analytischen Kapiteln. Als Beleg für die These von der imperialen Natur des Krieges beschreibt er im Prolog die Entwicklung des Spätimperialismus der modernen Welt von der Entstehung über den Ersten Weltkrieg und die die Kolonialmächte stützende Mandatspolitik bis zu den ersten Aktionen der „verspäteten Nationen“ auf dem Weg zu eigenen Imperien: Japan in der Mandschurei und China, Italien in Ostafrika, Libyen und Albanien, Deutschland in Österreich und der Tschechoslowakei. In dieser gesamten Epoche sieht er die wahren Ursachen des Zweiten Weltkrieges, den er folgerichtig mit dem Ersten zu einem neuen „Dreißigjährigen Krieg“ verbindet. „Die konventionelle Darstellung des Krieges [sieht] in Hitler, Mussolini und den japanischen Militärs eher die Ursachen der großen Krise statt deren Resultat, die sie in Wirklichkeit waren.“ (S. 13) Einen weiteren Beleg sieht Overy in der rassistischen Herrschafts- und Verwaltungspraxis der eroberten Gebiete, die wie in den klassischen Kolonien zwischen Staatsbürgern unterschied und Untertanen, deren Arbeitskraft unter grausamen Bestrafungen maximal ausgebeutet wurde, und zu insgesamt 35 Millionen Todesopfern in den drei neuen Imperien führte (S. 297). Im zweiten Kapitel beschreibt er den Aufstieg der Achsenmächte bis zu den Wendepunkten in El Alamein, Guadalcanal und vor allem Stalingrad, im dritten dann deren Niedergang bis zur jeweiligen Kapitulation sowie im Epilog die Dekolonialisierung mit dem Übergang zur Welt der Nationalstaaten und dem Kalten Krieg.
Eingebettet darin sind die Kapitel 4–10, die zum Teil auf Analysen seines Meisterwerks „Die Wurzeln des Sieges“2 basieren und das Herzstück des Buches bilden. Sie zeigen, wie die Staaten die ungeheuren menschlichen und materiellen Ressourcen für die totale Kriegführung mobilisierten (Kapitel 4), die Arten und Strategien der Kriegführung (Kapitel 5, das man eher als 4 erwartet hätte), die Rolle der Kriegswirtschaft (Kapitel 6), die Frage der Moral und Rechtfertigung des Krieges (Kapitel 7) sowie der Rolle der letzten Endes auch militarisierten Zivilisten (Kapitel 8), der emotionalen Kriegsfolgen (Kapitel 9) und im zentralen Kapitel 10 die ungezügelte und omnipräsente, häufig rassistisch oder sexuell motivierte Gewalt in den unterschiedlichsten Formen.
Im Unterschied zu den hervorragenden analytischen Kapiteln sind die ersten drei chronologischen Kapitel mit 600 Seiten für den Fachmann viel zu lang. Sie sind zwar ebenfalls brillant geschrieben und sezieren die Ereignisse unter dem Mikroskop der Imperialpolitik, scheinen jedoch – vielleicht aus Verlagsinteressen – eher für den populärwissenschaftlichen Massenmarkt verfasst zu sein.
Overy beschreibt neben bekannten Fakten viele neue Erkenntnisse, von denen hier nur die wichtigsten genannt werden können, und scheut sich nicht, lieb gewonnenen Mythen zu widersprechen und alternative Strategien zu benennen. Er kritisiert häufig Churchill und versteht Chamberlains oft gescholtene „Appeasement“-Politik als Vorläufer des amerikanischen „Containment“ im Kalten Krieg. Laut Overy machte nicht Hitlers Attacke auf Polen den Krieg zum Weltkrieg, sondern erst die Reaktion der Großmächte England und Frankreich. Denn diese hatten mit ihrem riesigen Kolonialreich viel mehr zu verlieren als die Achsenmächte zu gewinnen.
Doch auch diese verfolgten trotz des 1940 abgeschlossenen „Stahlpaktes“ jeweils ihre eigenen Ziele ohne gemeinsame Koordination oder rechtzeitige Information. Nach der deutschen Besetzung Nord- und Westeuropas schwankte Hitler zwischen mehreren „komplementären“ Optionen „imperialer Phantasien“: gegen Großbritannien und das Empire oder Aufbau eines Kontinentalimperiums in der Sowjetunion. Overy ist interessanterweise überzeugt, dass Hitler 1941 mit etwas Geduld „einen Weg gefunden hätte, den Krieg im Westen zu einem Ende zu bringen“, wenn er nicht im Osten angegriffen hätte, erklärt aber nicht wie (S. 199). Alternativ wären ein japanischer Angriff auf Sibirien, ein deutsch-sowjetischer Angriff auf Großbritannien oder eine stärkere Südorientierung des deutschen Ostfeldzugs bei gleichzeitiger Eroberung Ägyptens und des Nahen Ostens möglich gewesen. Dagegen bewertet er Rommels tatsächlichen Afrikafeldzug als eine sinnlose Vergeudung von Menschen und Material, da allein der logistische Transport des benötigten Treibstoffs bis zu 80 Prozent der transportierten Menge kostete. Auch zwischen den Alliierten gab es Unstimmigkeiten und die Landung in Italien – statt direkt in Frankreich – hält Overy für einen weiteren auf Churchill zurückgehenden Fehler, der den Krieg unnötig verlängerte (S. 435). Aber all diese hypothetischen “what if“-Konstrukte übersehen, dass nach dem Sieg einer beliebigen Konstellation der Konflikt zwischen den Siegermächten wieder hochkochen würde, wie später dann im „Kalten Krieg“. Anders ausgedrückt: Ziehe ich die Bettdecke nach links, fehlt sie rechts.
Deutschland und Japan waren anfangs militärisch sehr erfolgreich, bis die Weite des Raumes und die wirtschaftlich-demographische Überlegenheit der Gegner zur „imperialen Realität“ wurden. Overy betont auch die im Gegensatz zu den Achsenmächten positiven Lerneffekte der Alliierten aus ihren Niederlagen: im Bereich der Panzer, der Luftwaffe, der amphibischen Operationen sowie der Unabhängigkeit der militärischen Führung. Während die Alliierten Kriegsmaterial in riesigen Massen produzierten, blieb die wirtschaftliche Ausbeutung der neu eroberten Imperien für die Achsenmächte illusorisch. Die Kosten der im Osten eroberten Gebiete betrugen das zwanzigfache des Wertes der Beschlagnahmungen und trotz Backes' menschenverachtendem „Hungerplan“ konnte die Armee nur schwer aus der Ukraine ernährt werden (S. 237). Ähnlich erging es den Japanern.
Im zweiten Teil untersucht Overy die Frage, wie es den Staaten gelang, ihre Ressourcen maximal als Soldaten, Arbeitskräfte, Geldgeber und Unterstützer zu mobilisieren. Nur moderne Staaten mit substanziellen industriellen und kommerziellen Grundlagen, einer Industriearbeiterschaft und gut organisierter Bürokratie schafften es – im Gegensatz zum ländlichen China –, alle Mitglieder zu erfassen und zuzuordnen (S. 594f.). Mit dem Einzug von immer mehr Männern in die Armee, von denen jedoch nur 20 Prozent direkt an der Front standen, wurden diese durch Wehruntüchtige, Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter substituiert. Frauen übernahmen wichtige Verwaltungstätigkeiten in der Landwirtschaft, der Rüstungsproduktion und der Armee. In der Sowjetunion wurden sogar über 200.000 weibliche Kampftruppen, Jagdpilotinnen und Scharfschützinnen eingesetzt. Großbritannien mobilisierte Millionen an Truppen aus dem Empire, während in der US-Armee die in den Südstaaten praktizierte Rassentrennung mit erheblichen Problemen generell galt und farbige Soldaten fast ausschließlich in Hilfspositionen wie beispielsweise in der Küche eingesetzt wurden.
Overys differenzierte Sichtweise offenbart die unter den großen Erzählungen liegenden Widersprüche, die nach Kriegsende offen ausbrachen. Hierzu gehören die Gegensätze der Kriegsallianz zwischen den westlichen Demokratien und der kommunistischen Sowjetunion ebenso wie die zwischen den Westalliierten sowie zwischen diesen und den Widerstandsbewegungen in Frankreich und Italien. Grausam geführte Bürgerkriege in China, Jugoslawien und Griechenland verstärkten die Konflikte. Besonders stark war der Gegensatz zwischen den Partisanen und den „Befreiern“ der Roten Armee, welche die nationalistischen Befreiungsbewegungen in Polen und der Ukraine genauso wie die Wehrmacht bekämpfte. Die in der Folge von Hitler angeordnete Zerstörung von Warschau war „die größte militärische Gräueltat des gesamten Krieges“ mit 150.000 Todesopfern (S. 1.085).
Der extremen Verrohung und absoluten Brutalisierung gegenüber Kombattanten und Zivilisten nicht nur in den emotional aufgeladenen Bürger- und Befreiungskriegen widmet Overy das vorletzte Kapitel. Diesen „Kernbereich extremer Gewalt“ führt er auf den in einer von weißen Europäern beherrschten imperialen Welt fest verankerten Rassismus zurück (S. 1.228). Neben dem ausführlich beschriebenen Vernichtungskrieg des NS beruhten auch die neoimperialen Eroberungskriege der Italiener in Afrika und der Japaner in China und Südostasien auf rassistisch fundierten Konstrukten (S. 1.230). Gegenseitige rassistische Verachtung prägte auch deren brutale Kriegführung gegenüber den westlichen Staaten. Schwere Menschenrechtsverletzungen der Japaner reaktivierten bei Amerikanern und Australiern imperiale Reflexe aus dem genozidalen Kampf gegen die eigene indigene Bevölkerung bis hin zum offenen Rassismus in der Presse und in der weißen Mehrheitsbevölkerung.
Zu den schlimmsten Kriegsgräueln gehörte auch die massenhaft ausgeübte sexuelle Gewalt gegenüber den „Trostfrauen“ im japanisch besetzten Asien sowie die millionenfachen Vergewaltigungen durch die Rote Armee im letzten Kriegsjahr. Overy benennt aber auch Vergewaltigungen durch Deutsche an der Ostfront und durch Amerikaner an der Westfront, wobei es fast nur bei farbigen Tätern zu Verurteilungen kam. Insgesamt häuften sich rassistisch und sexuell motivierte Kriegsverbrechen in Gebieten mit schwach ausgeprägten staatlichen Strukturen, Umsiedlungen und aktiven Anweisungen oder Duldung durch die militärische und politische Führung (S. 1.268).
Zu diesem Gewaltkosmos zählt Overy explizit auch den britischen Bombenkrieg gegen deutsche Wohngebiete und den amerikanischen des letzten Kriegsjahres gegen japanische. Auch wenn nur die wenigsten der genannten Verbrechen juristisch geahndet wurden, so wurden doch mit dem Nürnberger Hauptkriegsverbrechertribunal Präzedenzfälle geschaffen und 1993 eine UN-Resolution „über die Beseitigung der Gewalt gegen Frauen“ verabschiedet.
Insgesamt liefert Overy auf beeindruckenden 1.500 Seiten ein wahres Füllhorn an Informationen über Strategie und Ablauf dieses verheerenden Krieges – mit klarem Blick für dessen Rahmenbedingungen, das den Kreis der Schauplätze, Akteure und ihrer unzähligen Opfer stark erweitert und zu einer Gesamtschau verdichtet. Es ist jedem Interessenten zu empfehlen und bietet in ausgewählten Kapiteln selbst dem Fachmann neue Einsichten.
Das für Overy entscheidende Merkmal der Nachkriegswelt war das Ersetzen der alten Imperien durch die USA und die Sowjetunion. Vielleicht zeigte sich aber die zukünftige Weltmacht bereits in dem Land, wo für Overy 1931 der imperiale Krieg begann – dem von Japanern zeitweise kolonialisierten China, das nach millionenfachen Todes- und Hungeropfern sowie einem blutigen Bürgerkrieg zur Supermacht wurde und sich mit seiner „neuen Seidenstraße“ anschickt, selbst neoimperiale Herrschaft auszuüben.
Anmerkungen:
1 Vgl. klassisch Gerhard L. Weinberg, A World at Arms. A Global History of World War II, Cambridge 1994; Andrew Buchanan, World War II in Global Perspective. A Short History, Hoboken 2019; Victor Davis Hanson, The Second World Wars. How the First Great Global Conflict was Fought and Won, New York 2019.
2 Richard Overy, Die Wurzeln des Sieges. Warum die Alliierten den Zweiten Weltkrieg gewannen, Stuttgart 2000.