P. S. Gennermann: Eine Geschichte mit Geschmack

Cover
Title
Eine Geschichte mit Geschmack. Die Natur synthetischer Aromastoffe im 20. Jahrhundert am Beispiel Vanillin


Author(s)
Gennermann, Paulina S.
Published
Extent
IX, 264 S., 8 SW-Abb., 7 farb. Abb., 3 SW-Tab.
Price
€ 79,95
Reviewed for H-Soz-Kult by
Christian Schnurr, Wissenschaftszentrum Umwelt, Universität Augsburg

Mit Geschick, Geschmack und einem guten Riecher für die größere Relevanz des Themas führt Paulina S. Gennermann in ihrer wissenschaftshistorischen Studie durch die Geschichte der synthetischen Aromastoffe im 20. Jahrhundert – mit Schwerpunkt Vanillin. Das Buch basiert auf Gennermanns an der Universität Bielefeld eingereichten Dissertation und wurde mit dem Bettina-Haupt-Förderpreis für Geschichte der Chemie ausgezeichnet. Ihr Fokus liegt auf der Debatte um die „Natürlichkeit“ solcher synthetischen Reproduktionen von Naturstoffen. Im mühelosen Streifzug zwischen Archivarbeit, Markt- und Marketingbetrachtungen schafft das Buch den Spagat zwischen historischer Detailarbeit und dem „big picture“. So kristallisiert sich Schritt für Schritt am unscheinbaren Stoff Vanillin die Politizität gesellschaftlicher Naturzuschreibungen heraus.

Warum Vanillin? Ist der Stoff nicht zu alltäglich, zu nebensächlich für die große Bühne des historischen Blicks? Weit gefehlt. Heute ist Vanillin mit einem jährlichen Produktionsvolumen von etwa 20.000 Tonnen der meistproduzierte Aromastoff weltweit. Es ist ein Stoff, dessen Natürlichkeit infrage steht. Weniger als ein Prozent des globalen Produktionsvolumens stammen aus Vanilleschoten; 85 Prozent werden petrochemisch hergestellt, 15 Prozent aus Holzbiomasse.1 Die Hintergründe dieser Entwicklung verfolgt Gennermann durch Gesellschaft, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik im Zeitraum 1910–1980 in Deutschland und der Schweiz. Das Buch ist in drei chronologische Teile gegliedert: die 1910er- bis 1920er-Jahre, die 1930er- bis 1940er-Jahre und die 1950er- bis 1980er-Jahre. Die meisten chemiehistorischen Studien für diesen Zeitraum befassen sich mit der Entwicklung der Farbstoff- und Pharmaindustrie. Im Bereich der Nahrungsmittelstoffe findet das Buch Vorläufer in den Stoffgeschichten von Beat Bächi (Vitamin C)2 und Christoph Maria Merki (Saccharin)3 sowie den allgemeinen Untersuchungen von Klaus Stanzl, Patrick van Zwanenberg und Erik Millstone zur Geschichte der Aromastoffindustrie.4 Dem Forschungsthema Vanillin verleiht Gennermann durch die breit angelegte Monografie als erste eine entsprechende Bedeutung. Kürzere Vorläuferarbeiten von Elisabeth Vaupel und Nadia Berenstein werden an den entsprechenden Stellen gewürdigt. Lediglich Georg Schwedts Firmengeschichte des Vanillin-Herstellers Haarmann & Reimer bleibt überraschenderweise unerwähnt.5 Wie synthetisches Vanillin in industriellem Maßstab hergestellt wurde und sich in der Gesellschaft verbreitete, welche Rolle es während des Ersten Weltkriegs spielte und wie sich damals der Streit um die (Un-)Natürlichkeit des synthetischen Stoffs abspielte, sind die großen Fragen des ersten Teils des Buches. Die Rohstoffknappheit während der Kriegsjahre förderte die Produktion von Ersatzgütern, was in vielen Fällen zu einer Qualitätsminderung führte und das negative Ansehen von Ersatzstoffen prägte. Dem gegenüber stand die vor allem durch die Lebensreformbewegung positiv assoziierte natürliche Ernährung (S. 25). Als typisches Beispiel für Ersatzstoffe beschreibt Gennermann „Kunstpfeffer“, bei dem das Hauptalkaloid des schwarzen Pfeffers, Piperin, synthetisch nachgeahmt und strukturähnliche Scharfstoffe beispielsweise Konservenprodukten zur Schärfung zugesetzt wurden. Während sich Kunstpfeffer nur zu Mangelzeiten während der Weltkriege etablieren konnte, hatte synthetisches Vanillin eine erfolgreichere Karriere; es war schon vor dem Ersten Weltkrieg in den Haushalten bekannt und bot aufgrund des hohen Preises von Vanilleschoten auch über die Kriegsjahre hinaus einen Preisvorteil (S. 99). Deswegen plädiert Gennermann dafür, Vanillin nicht als „Ersatzstoff“, sondern als „Konsumstoff“ zu bezeichnen.

Die Gegenüberstellung von synthetischem Vanillin und Kunstpfeffer ist treffend gewählt. Der Kontrast mit einem Produkt, das es nicht geschafft hat, sich langfristig auf dem Lebensmittelmarkt zu etablieren, führt vor Augen, wie prekär die gesellschaftliche Stellung synthetischer Aromastoffe zu ihren Anfangszeiten war, und macht den bemerkenswerten Siegeszug synthetischen Vanillins umso greifbarer. Lediglich genauere Einblicke in die ökonomischen Hintergründe wie beispielsweise die Preisentwicklung des Kunstpfeffers oder des synthetischen Kaffeearomas (Gennermanns zweites Beispiel für einen Ersatzstoff) hätten die Gegenüberstellung noch vertiefen können. Auch ein Wort zum chemischen Hintergrund dieser Ersatzstoffe (Ausgangsstoffe, Synthesewege) wäre interessant gewesen.

Beides behandelt Gennermann für Vanillin und zeigt, wie sich Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die industrielle Synthese aus Coniferin, dann aus Eugenol und schließlich aus Guajakol entwickelte. Dabei sind die chemischen Hintergründe leider etwas zu kurz gehalten. Die vier Strukturformeln, die abgebildet sind (Vanillin und die drei obigen Ausgangsstoffe), werden nur spärlich beschrieben und mehrere Formulierungen zeigen eine gewisse Fremdheit gegenüber den chemischen Details (S. 29–30). Dabei macht es doch die Qualität einer stoffgeschichtlichen Arbeit aus, dass die Chemie hier zu Wort kommen darf. Die chemischen Hintergründe „der Verständlichkeit halber […] vereinfacht und gekürzt“ (S. 29) wiederzugeben, scheint die falsche Herangehensweise. Dennoch wird die ökonomische Bedeutung der prozesstechnischen Fortschritte klar: Die Synthese aus zugänglicheren Ausgangsmaterialien reduzierte den anfänglichen Kilogrammpreis für synthetisches Vanillin von 6.000 auf 30 Mark (S. 32).

Gennermanns Hauptaugenmerk liegt auf dem gesellschaftspolitischen Prozess der „Naturalisierung“ synthetischer Aromastoffe. Es ist die Stärke der Arbeit, dass sich dieser explizit formulierte Schwerpunkt durch alle Kapitel zieht. Das Buch schweift nicht ab, verliert sich nicht in Nebensächlichkeiten. Gerade das fördert den angenehmen Leseeindruck und hilft als roter Faden durch den langen Untersuchungszeitraum.

Mit „Naturalisierung“ bezeichnet Gennermann den Umstand, dass sich synthetisches Vanillin erfolgreich in die alltägliche Ernährung integrierte, kulturell akzeptiert und als gleichwertig zu natürlichem Vanillearoma angesehen wurde. Vanillin ist als synthetischer Stoff derart gebräuchlich, gewöhnlich und vertraut geworden, dass sich der kulturelle Umgang mit ihm nicht wesentlich vom Umgang mit natürlichen Stoffen unterscheidet. Mit „Naturalisierung“ bezieht sich Gennermann also primär auf die kulturelle Akzeptanz und die sprachliche „Codierung“ des Stoffs (S. 2); die materielle Frage seiner (Un-/Nicht-/Quasi-)Natürlichkeit rückt in den Hintergrund. Damit spiegelt Gennermanns Begriff der „Naturalisierung“ (ungewollt?) die Strategien der Vanillewerbung.

Schließlich vollzog sich die „Naturalisierung“ des synthetischen Vanillins nicht von selbst, sondern wurde durch Werbemaßnahmen der Vanillin-Produzenten angeleitet. Um 1900 gab Haarmann & Reimer, der erste große Vanillin-Produzent, zusammen mit der Frauenrechtlerin und Sozialaktivistin Lina Morgenstern ein Kochbuch heraus, das Rezepte mit Vanillin breiteren Bevölkerungsschichten zugänglich machen sollte. Darin wurde die Gleichheit des synthetischen Stoffs mit dem Naturprodukt betont, zugleich aber die Vorzüge des günstigen und handlich abgepackten Pulvers in den Vordergrund gestellt. Vanillin wurde mit seiner Naturnähe beworben, im gleichen Atemzug aber das Naturprodukt Vanilleschote schlechtgeredet (S. 33–35). Solche Ambivalenzen der Vanillin-Werbung stellt Gennermann kritisch heraus und macht sie an gut gewählten Beispielen fest – neben dem angesprochenen Kochbuch auch an einem Rezeptbuch von Dr. Oetker (die seit 1894 Vanillinzucker vertreiben) und einer Werbebroschüre der chemisch-pharmazeutischen Firma Boehringer Mannheim (S. 48–52).

Anhand dieser Marketingbetrachtungen wird nachvollzogen, wie sich der gesellschaftliche und ökonomische Spielraum von Vanillin verbreiterte: Anfangs nur von einer auf die Vanillin-Herstellung spezialisierten Firma beworben, übernahmen bald größere Nahrungsmittelunternehmen die Werbung, die nicht den Stoff für sich allein, sondern Lebensmittelprodukte, die Vanillin enthielten (zum Beispiel Vanillinzucker), vermarkteten. Während das Zielpublikum der Vanillin-Werbung zu Beginn vor allem bürgerliche Hausfrauen waren, richtete sich die Broschüre von Boehringer an Industriepartner, die in das Vanillin-Geschäft einsteigen wollten. So veranschaulicht Gennermann, wie Vanillin auch für die chemische Industrie im Allgemeinen immer attraktiver wurde. In der Tat drängte in den 1920er-Jahren die I.G. Farben, später der größte Chemiekonzern der Welt, in den Vanillin-Markt, revolutionierte durch die Synthese aus Guajakol den Herstellungsweg (Vanillin wurde nun erstmals nicht mehr aus einem Naturstoff hergestellt) und konsolidierte seine Macht durch die „Vanillin-Konvention“, im Zuge derer sich die großen industriellen Vanillin-Produzenten zu einem Kartell zusammenschlossen (S. 55–66).

Die einhergehenden Machtkämpfe in der chemischen Industrielandschaft beschreibt Gennermann ausführlich und vermittelt dadurch erneut den Eindruck, wie erfolgreich sich der Stoff nicht nur in den Haushalten, sondern auch auf dem Chemikalienmarkt etablierte. Von 25 Kilogramm jährlichem Produktionsvolumen der ersten Vanillin-Hersteller wuchs der Vanillin-Verbrauch in Europa bis Mitte der 1920er-Jahre auf 70.000 Kilogramm pro Jahr (S. 57).

Die 1930er- und 1940er-Jahre waren wirtschaftlich von der Etablierung und Ausweitung der Kartellarbeit geprägt, welche Quoten, Preise und Lieferketten für Vanillin klar regelte (S. 62). Aufreger wie Preisspielchen im brasilianischen Markt (S. 81), Fälle von Vanillin-Schmuggel (S. 84) oder das Aufkommen von Ethylvanillin – einem verwandten Stoff mit stärkerem Aroma, der aufgrund geringerer Bedarfsmenge problematisch war (S. 86) – behandelt Gennermann detail- und aufschlussreich. Auch das Aufkommen eines neuen Synthesewegs aus Sulfitablaugen aus der Papierindustrie (heutzutage alleiniger Konkurrent zur petrochemischen Herstellung) stellt Gennermann mit großer Tiefe dar. Für die Kriegsjahre kann Gennermann nachweisen, dass Vanillin nicht an Bedeutung verlor, sondern bisweilen sogar als „kriegswichtiges Produkt“ (S. 123) diskutiert wurde, nicht zuletzt, weil an der Front gerne Vanillin-Pudding gelöffelt wurde (S. 114).

Den Anschluss an den gegenwärtigen Diskurs über natürliche und künstliche Stoffe schafft Gennermann im dritten Teil der Arbeit, der den etwas längeren Zeitraum der 1950er- bis 1980er-Jahre umspannt. Auch hier weiß Gennermann das Spezialthema Vanillin an den größeren Diskurs der zunehmenden Produktion chemisch-industrieller Stoffe anzuknüpfen. Nur im Zusammenhang mit der Regulierung von Pharmazeutika, Pestiziden und Farbstoffen sei auch die Aromagesetzgebung zu verstehen (S. 137). Im Rahmen von Arzneimittelskandalen und der Umweltbewegung wurde die „Sicherheit chemisch-industrieller Stoffe […] zu einem sozialen, kulturellen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Thema“ (S. 139). Politik, Industrie und Verbraucher:innen fingen an, um eine angemessene Regulierung von Aromastoffen zu ringen. Vor allem in Deutschland war das auch ein Streit um Begrifflichkeiten. Synthetische Aromastoffe wie Vanillin, die strukturgleich zum Naturstoff sind, standen dabei im Zentrum. Letztlich etablierte sich dafür in den 1970er-Jahren der Begriff des „naturidentischen Aromastoffs“, der ein Kompromiss zwischen den Interessen der Industrie (negative Begriffsassoziationen vermeiden), Wissenschaft (Strukturgleichheit betonen) und Verbrauchern (Transparenz schaffen) war (S. 198–206). Letztlich konnte sich der Begriff nicht halten, heutzutage gibt es nur Auslobungen als „natürliches Aroma“ oder die Generalbezeichnung „Aroma“, die sowohl künstliche als auch naturidentische Stoffe einschließt. Man merkt aber, wie viel Bewegung im Thema Aromastoffe steckt. Gerade dieses Fingerspitzengefühl für die größere Relevanz des unscheinbaren Stoffs Vanillin, seine Zwischenstellung im Kreuzfeuer von Risiko-, Ernährungs-, Natürlichkeits- und Industrialisierungsdiskursen – formuliert in einer klaren und einfachen Sprache – machen „Eine Geschichte mit Geschmack“ zu einer Bereicherung der stoffgeschichtlichen Literatur und darüber hinaus.

Anmerkungen:
1 Maxence Fache / Bernard Boutevin / Sylvain Caillol, Vanillin production from lignin and its use as a renewable chemical, in: ACS Sustainable Chemistry & Engineering 4 (2016) 1, S. 35–46.
2 Beat Bächi, Vitamin C für alle! Pharmazeutische Produktion, Vermarktung und Gesundheitspolitik (1933–1953), Zürich 2009.
3 Christoph Maria Merki, Zucker gegen Saccharin. Zur Geschichte der künstlichen Süßstoffe, Frankfurt am Main 1993.
4 Klaus Stanzl, Die Entstehung der Riechstoffindustrie im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2019; Patrick van Zwanenberg / Erik Millstone, Taste and Power. The Flavouring Industry and Flavour Additive Regulation, in: Science as Culture 24 (2015) 2, S. 129–156.
5 Georg Schwedt, Am Anfang war das Vanillin. Die Väter der Aromen-Industrie in Holzminden, Norderstedt 2017.

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