Interdisziplinäre Forschung zur Geschichte der Konzentrationslager

: From Centre to Periphery and Beyond. The History and Memory of National Socialist Camps and Killing Sites. Berlin 2024 : Metropol Verlag, ISBN 9783863317089 288 S. € 24,00

Becker, Michael; Bock, Dennis; Mailänder, Elissa (Hrsg.): Konzentrationslager als Gesellschaften. Interdisziplinäre Perspektiven. Göttingen 2023 : Wallstein Verlag, ISBN 978-3-8353-5497-5 218 S. € 24,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maëlle Lepitre, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Die KZ-Forschung ist in den letzten 25 Jahren zunehmend von Interdisziplinarität geprägt worden. Waren es bis Ende der 1990er-Jahre fast ausschließlich Historiker:innen, die Studien zu diesem Thema verfassten, so sind seither auch interessante Beiträge von Forscher:innen anderer Disziplinen zu verzeichnen, was dann wiederum dazu führte, dass Historiker:innen auch auf soziologische Ansätze zu rekurrieren begannen.1 Zu diesem interdisziplinären Dialog trug der 1994 in Hamburg gegründete „Workshop zur Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager“ (heute „Workshop on the History and Memory of National Socialist Camps and Killing Sites“) bei. Ursprünglich für junge deutsche Nachwuchswissenschaftler:innen konzipiert, profilierte sich dieser Workshop im Laufe der 2000er-Jahre als internationales und interdisziplinäres Austauschforum.

Davon zeugt der Konferenzband der 24. Ausgabe des Workshops (im Oktober 2020 in Salzburg organisiert), der seit Kurzem vorliegt: Den theoretischen Kern des Bandes bildet das Begriffspaar Zentrum und Peripherie. In den Augen der Herausgeber:innen hilft ein „fluid, non-static, non-dichotomous“ (S. 12) Verständnis dieses Begriffspaares, die sich verändernden Machtverhältnisse im Kosmos der Konzentrationslager auf verschiedenen Ebenen zu verstehen. Nicht nur das Verhältnis zwischen der Inspektion der Konzentrationslager und den jeweiligen Lagerkommandanten, sondern auch die Beziehungen zwischen einem Stammlager und seinen Außenlagern oder die räumliche Ordnung eines bestimmten Lagers können so in den Blick genommen werden. Beide Konzepte lassen sich, so die Herausgeber:innen, auch für die Memory Studies nutzen, etwa um die seit den 1980er-/1990er-Jahren zunehmende gesellschaftliche Bedeutung von KZ-Gedenkstätten zu analysieren. Diese unterschiedlichen Dimensionen der Begriffe Zentrum und Peripherie spiegeln sich in der Gliederung des Tagungsbandes wider: Auf die Einleitung der Herausgeber:innen und den Gastbeitrag von Bertrand Perz, einem Spezialisten für die Geschichte des KZ Mauthausen, folgen die Beiträge von neun Teilnehmer:innen des Workshops, die den Kategorien „Sources und Methodologie“, „Perpetrators“ und „Memorialisation“ zugeordnet sind.

Eine zweite 2023 erschienene Publikation verdeutlicht die zunehmende Interdisziplinarität der KZ-Forschung. Es handelt sich dabei um den neuen Band aus der Reihe „Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus“, der von Michael Becker, Dennis Bock und Elissa Mailänder zum Thema „Konzentrationslager als Gesellschaften“ herausgegeben wurde. Dem Buch liegt die These zugrunde, dass sich in den nationalsozialistischen Lagern „soziale Ordnungen und Strukturen herausbildeten, die auf zivile Gesellschaften zurückgingen“ (S. 7). Wie die Verwendung des Plurals im Titel des Bandes es andeutet, bildeten diese Ordnungen und Strukturen keine monolithische Einheit, sondern veränderten sich permanent bzw. konnten sich in einer von der SS bestimmten Welt jederzeit verändern. Ziel der Herausgeber:innen ist es daher, „das Verhältnis von Lagerstrukturen, Alltagspraktiken und sozialer Ordnung in ihrer synchronen und diachronen Vielfalt empirisch und theoretisch angemessen zu erfassen“ (S. 23).

Um dieser Frage nachzugehen, behandeln die acht Beiträge von Historiker:innen, Kunst-, Literatur-, Politik- und Erziehungswissenschaftler:innen eine Reihe von Themen, die vom Zusammenhang von Raum und sozialer Ordnung über die Frage nach den Beziehungen zwischen Lagern und der Außenwelt bis hin zu gesellschaftlichen Deutungen der Lagerstrukturen nach dem Krieg reicht. Die zwei hier besprochenen Bände scheinen auf den ersten Blick sehr unterschiedliche Perspektiven zu beleuchten. Die Täterforschung bildet einen der Hauptschwerpunkte der Publikation zum Workshop (mit vier Beiträgen). Das Buch über die Lagergesellschaft hat dagegen einen klaren Fokus auf die Interaktionen zwischen den Häftlingen.

Dennoch weisen die zwei Publikationen methodische und inhaltliche Ähnlichkeiten auf, die einen Vergleich sinnvoll erscheinen lassen. Gemeinsam ist den beiden Bänden erstens die Verwendung von Quellen, die Interaktionen sichtbar machen. Lukas Meissel aus dem Workshop greift in seinem Beitrag zu SS-Fotografien aus dem KZ Mauthausen auf Untersuchungen zum sogenannten „Auschwitz-Album“ zurück.2 Am Beispiel eines Bildes einer Inspektion des Steinbruches, an der sowohl SS-Offiziere als auch Zivilisten teilnahmen, zeigt er, dass Fotografien zur Analyse sozialer Netzwerke herangezogen werden können.

Als Spezialistin der Sammlung der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück nimmt ihrerseits Christiane Heß von weiblichen Häftlingen des KZ Ravensbrück heimlich hergestellte Realien unter die Lupe. Anhand des kleinen Adressbuches, das die tschechische Ärztin Zdenka Nedwedowá-Nejedlá von Mithäftlingen geschenkt bekam, lässt sich beispielsweise rekonstruieren, mit wem Nedwedowá-Nejedlá im Lager in Kontakt stand. Ein weiteres interessantes Objekt ist ein mit zahlreichen Namen beschriftetes Tuch, das Häftlinge einer SS-Aufseherin schenkten, da es auf einen persönlichen Kontakt zwischen Wachpersonal und KZ-Gefangene hindeutet. Aufgrund fehlender Quellen ist jedoch unklar, unter welchen Bedingungen dieses Geschenk erfolgte. Es könnte – wie von der betroffenen Aufseherin behauptet – Zeichen einer guten Beziehung zwischen Schenkenden und Beschenkten sein. Möglicherweise resultierte jedoch dieses Geschenk aus Angst (es ist beispielsweise denkbar, dass die Aufseherin das Tuch entdeckte und die Häftlinge es ihr schenkten, um eine Denunziation zu vermeiden). Bei beiden Objekten ist zu beachten, dass sie von der kleinen Gruppe von privilegierten Häftlingen (die unter anderem Zugang zu Baumaterial hatten) stammten. Wie die Netzwerke der nicht privilegierten Häftlinge aussahen, ist noch weitgehend unbekannt.

In beiden Publikationen gibt es Ausführungen zu einem noch weitgehend unerforschten Feld der Holocaust und Memory Studies: der Zeit unmittelbar nach der Befreiung der nationalsozialistischen Lager. Andreas Kranebitter behandelt das Thema aus der Perspektive der Wissensproduktion. Die zahlreichen Berichte, die unter anderem Mitglieder der Psychological Warfare Division verfassten, betrachtete er als die ersten wissenschaftlichen Annäherungen an das Lager-System. Am Beispiel von zwei Angehörigen des militärischen Nachrichtendienstes, die nach dem Krieg als Soziologen Karriere machten, arbeitet er heraus, wie aus einer Mischung von „Crashkurs-Ausbildung“ und „learning by doing“ eine „praxeologische Herangehensweise“ (S. 195) beim Verfassen dieser Berichte zu den KZ-Überlebenden entstand.

Workshop-Teilnehmerin Sandra Franz rekonstruiert ihrerseits die Art und Weise, wie das von britischen Truppen befreite Konzentrationslager Bergen-Belsen in Großbritannien zur Ikone des Holocaust wurde. Sie identifiziert dabei vier Akteure: die Soldaten, darunter Fotografen und Filmreporter, die von den Zuständen in Bergen-Belsen schockiert wurden, die politische Sphäre, die das Lager als Symbol der nationalsozialistischen Gräueltaten interpretierte, die Presse, die Bilder und Berichte öffentlich machte, und letztlich die britische Bevölkerung als Empfängerin der Berichterstattung. Wie Franz in ihren Ausführungen betont, war Bergen-Belsen nicht das einzige Lager, das Aufmerksamkeit seitens der Weltöffentlichkeit auf sich zog. Insbesondere Buchenwald, als erstes von den Westalliierten befreites NS-Hauptlager, in dem sich noch lebende Häftlinge befanden, wurde von einer Reihe von politischen Akteuren sowie von Pressemitarbeiter:innen aufgesucht wie dem CBS-Mitarbeiter Edward Murrow oder den Fotoreporterinnen Lee Miller und Margaret Bourke-White. Daher wäre es interessant, Franz’ Studie mit einer Untersuchung der medialen Aufbereitung Buchenwalds zu erweitern.

Mit der Memorialisierung der nationalsozialistischen Lager beschäftigen sich auch beide Publikationen. Workshop-Teilnehmerin Nina Rabuza analysiert in ihrem Beitrag, warum das Gelände des Krematoriums des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau heute wie ein Park aussieht. Sie erklärt, dass dies nicht auf den Willen der lokalen Behörden zurückzuführen ist, die NS-Gräueltaten zu verdrängen. Vielmehr sei es das Ergebnis der Arbeit von Philipp Auerbach und einem anderen KZ-Überlebenden, die die Leid- und Ruhestätte von KZ-Häftlingen würdig gestalten wollten. Um diesen Zweck zu erreichen, übernahmen sie die bei Soldatenfriedhöfen übliche Form der großen Grünfläche. Im Band über die Lagergesellschaften untersucht seinerseits Johannes Vogel anhand des Buches „Der Totenwald“, wie der konservative Schriftsteller Ernst Wiechert, der zeitweilig in Buchenwald inhaftiert war, seine Lagererfahrungen literarisch verarbeitete. Wiechert, so Vogel, habe in einigen Häftlingen Märtyrer gesehen, die aufgrund ihres Leidens im Lager und ihrer moralischen Haltung als Retter des durch den Nationalsozialismus in die Krise geratenen Deutschlands fungieren könnten. Vogels Studie beschränkt sich auf eine individuelle Interpretation der Buchenwalder Lagergesellschaft. Interessant wäre jedoch herauszufinden, wie das Thema kollektiv (zum Beispiel in Überlebendenverbänden) verarbeitet wurde.

Insgesamt illustrieren die zwei hier besprochenen Publikationen, wie fruchtbar Interdisziplinarität sein kann. Der Dialog mit anderen Forschungsfeldern ermöglicht die Übernahme von Konzepten, die neue Perspektive öffnen, und die Anwendung von methodologischen Ansätzen, die für die Analyse von durch Historiker:innen kaum berücksichtigten Quellen (insbesondere nicht-schriftlichen Quellen wie Fotografien oder Objekte) notwendig sind. Dabei konnten die beiden Bände alle Dimensionen der von ihnen gewählten Perspektive nicht erschöpfend behandeln. So blieben einige formulierte Fragen offen, etwa die nach den Handlungsspielräumen der Lagerkommandanten bei der Umsetzung der Anweisungen der Inspektion der Konzentrationslager. Darüber hinaus gäbe es weitere Quellen, die aus einer interdisziplinären Perspektive für die jeweilige Fragestellung hätten einbezogen werden können. Etwa im Lager entstandene Kunstwerke, die Häftlinge darstellen, könnten zur Untersuchung der Machtverhältnisse innerhalb der jeweiligen Lagergesellschaften herangezogen werden. Dabei wäre ein Vergleich mit anderen Quellen, die ebenfalls eine Darstellung der Hierarchie zwischen den Häftlingsgruppen enthalten, besonders wertvoll, wobei die Rolle der Medialität (Art der Quelle) in Bezug auf den Inhalt besser verstanden werden könnte bzw. müsste.

Anmerkungen:
1 Beispielhaft: Elissa Mailänder, Gewalt im Dienstalltag. Die SS-Aufseherinnen des Konzentrations- und Vernichtungslagers Majdanek, Hamburg 2009.
2 Tal Bruttmann / Christoph Kreutzmüller / Stefan Hördler, Die fotografische Inszenierung des Verbrechens. Ein Album aus Auschwitz, Darmstadt 2019.

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