Die neuen digitalen Möglichkeiten der Heuristik stellen für die Geschichtswissenschaft unbestreitbar eine große Chance dar. Denn über die Worterkennung innerhalb der großen, digital zugänglichen Quellensammlungen, etwa die Monumenta Germaniae Historica oder die Patrologia Latina, lassen sich enorme Massen an Quellen erschließen, was früheren Historikergenerationen nicht möglich war. Diesen Weg hat Christoph Mauntel in seinem hier anzuzeigenden Buch beschritten, das ein ebenso ambitioniertes wie vielversprechendes „Kernanliegen“ verfolgt (S. 14). Mauntel geht es in seiner im Jahr 2021 an der Universität Tübingen als Habilitationsschrift angenommenen Studie nämlich darum, das „geographische Konzept der Erdteile“ zu behandeln und „seine Bedeutung für die lateinisch-christliche Welt des Mittelalters mit Blick auf Wissensinhalte, Implikationen, Funktionen und Gebrauchskontexte“ zu untersuchen (S. 14).
Um diesem Vorhaben gerecht zu werden, wird ein ebenso großer, ja gewaltiger Untersuchungszeitraum wie Quellencorpus abgesteckt: Zeitlich deckt die Studie über tausend Jahre ab, nämlich die Jahre von „200 bis ca. 1530“ (S. 16); doch noch gewaltiger als der diachrone Untersuchungszeitraum ist die Masse an herangezogenen Quellen. Mauntel will über herkömmliche wie über die besagten neuen digitalen Methoden der Heuristik ganze „3500 textliche Fundstellen und 1000 Karten und Diagramme“ (S. 51) für seine Studie zusammengetragen haben! Während diese Zahl auf den ersten Blick zunächst schlicht beindruckt, so stellt sich beim näheren Zusehen doch auch ein Unbehagen ein. Denn diese Materialfülle lässt sich allenfalls quantitativ auswerten, nicht aber qualitativ bewältigen, also mittels der Methoden der Quellenanalyse und -kritik, wie sie in der Geschichtswissenschaft seit jeher praktiziert werden, was auch Mauntel selbst eingesteht (S. 51). Es musste also zwangsläufig eine Auswahl getroffen werden, womit sogleich Selektivität ins Spiel bzw. richtiger: ins Buch kommt. Dies ist keineswegs als Kritik an Mauntel gemeint, sondern unhintergehbarer Bestandteil jeglichen wissenschaftlichen Arbeitens. Denn wer überhaupt etwas über die Wirklichkeit aussagen will, „ist gezwungen, sich Beschränkungen aufzuerlegen und eine Auswahl zu treffen,“ um es mit Gottfried Gabriel zu formulieren.1
Wenn man Mauntel also kaum die Selektivität seines Quellencorpus wird vorwerfen können, so gewinnt man doch zuweilen den Eindruck, als wolle er diesen Umstand wegdiskutieren, wenn er etwa zum Schluss seiner Einleitung konstatiert, dass sein Quellencorpus zwar keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebe, aber doch eine „gewisse Repräsentativität“ beanspruche (S. 50). Dass dem aber nicht immer so ist, lässt Mauntel an einer Stelle seiner Arbeit selbst durchblicken, wo davon die Rede ist, dass die im Kreuzzugskapitel (VII.5) herangezogenen englischen Chronisten, vor allem Wilhelm von Malmesbury und Wilhelm von Newburgh, „für die englische Chronistik keineswegs repräsentativ“ seien (S. 460). Ratsamer wäre es also gewesen, die notwendige Selektivität der Quellenauswahl schlicht einzugestehen und die Aufmerksamkeit darauf zu richten, die Auswahlkriterien zu begründen. Denn jede kontingente Wahl provoziert sogleich die Frage, warum diese aber nicht jene Karte ausgewählt, warum denn diese aber nicht jene Chronik berücksichtigt wurde?
Just diese Begründung ist aber die eigentliche Schwachstelle der Studie. Zum einen will der Autor nämlich vor allem solche Textfunde herangezogen haben, in denen mehr als ein Erdteilname genannt werde, um anschließend jedoch zu konstatieren, dass er auch solche Fälle herangezogen habe, in denen nur ein Erdteilname falle, worin aber „qualitative oder vergleichende Aussagen“ getroffen würden (S. 51). Diese beiden Auswahlkriterien sind also zumindest hinterfragbar, da nicht widerspruchsfrei. Vor allem bleibt aber unklar, inwieweit sich hierdurch die überbordende Masse der Datenbank einschränken lässt. Kaum dazu geeignet, dem Unbehagen hinsichtlich der Quellenauswahl entgegenzuwirken, ist auch folgende Erklärung: „In vielen Fällen ist die entsprechende Abwägung zweifellos subjektiv und folgt dem Gespür des Autors sowie einem gewissen Pragmatismus, um die Anzahl der letztlich zu bearbeitenden Fundstellen bewältigbar zu machen.“ (S. 51)
Sprachlich ist die Arbeit meist ansprechend gestaltet, auch wenn der uneinheitliche Gebrauch des Verbmodus in der indirekten Rede den Rezensenten etwas im Lesefluss gestört hat. Zuweilen steht hier nämlich der Indikativ und zuweilen der Konjunktiv. Zuweilen wechselt der Verbmodus aber sogar innerhalb eines Satzes: „Diese [sc. die „Araber“], so der Autor [sc. der anonyme Chronist der ‚Mozarabischen Chronik‘], hatten sich nachts in die Heimat zurückgezogen (repatriando), ebenso wie die ‚Europäer‘, die, zunächst einen Hinterhalt befürchtend, die Umgebung abgesucht haben, dann aber froh in ihre Heimatregionen zurückgekehrt seien (in suas patrias).“ (S. 439) An diesem Satz gäbe es, mehreres auszusetzen: Zunächst stört hier die uneinheitliche Verwendung von Indikativ und Konjunktiv innerhalb der Paraphrase. Sodann irritiert aber zusätzlich die zitierte lateinische Gerundium-Form, die man bei der deutschen Paraphrase hier nicht erwarten würde. Leider kann ein Blick in den Anmerkungstext, in dem sich ein längeres lateinisches Zitat findet, auch keine Aufklärung verschaffen, weil hier das fragliche lateinische Wort (repatriando) überhaupt nicht vorkommt (Vgl. Anm. 1875, S. 439)! Was der Blick in die Fußnote jedoch zeigt, ist der Umstand, dass der zitierte lateinische Passus nicht mit der Paraphrase deckungsgleich ist, ersterer also nicht wirklich korrekt erfasst wurde. Was Mauntel nämlich auslässt, ist die Information, warum die Europenses denn froh in ihre Heimatregionen zurückgekehrt seien. Erst der Blick in das Quellenzitat zeigt, dass es die großen Kriegsbeute gewesen sei, die man bei der Suche nach den Feinden gemacht habe, welche die Freude auf Seiten der „Europäer“ ausgelöst habe.
Auch wenn der Historiker – hier Mauntel – in der sprachlichen Gestaltung einer Paraphrase deutlich freier ist als bei einem wörtlichen Zitat, so müssen doch die Kerninformationen der Originalpassage nichtsdestoweniger erfasst werden, was hier aber gerade nicht geschieht. Dies zeigt sich auch an anderen Stellen des Buches immer wieder, etwa wenn Mauntel eine Textpassage bei Jacques de Vitry paraphrasiert und zwar mit den Worten: „Jacques de Vitry, Bischof von Akko und Kreuzzugsprediger, schrieb 1217, dass es in den Reichen der Sarazenen tatsächlich mehr Christen als Muslime gebe. Dass diese Christen (aus seiner Sicht häretische) Nestorianer waren, wusste der Gelehrte, es änderte aber nichts an seiner Hoffnung, sie könnten sich den Kreuzrittern im Heiligen Land anschließen.“ (S. 467) Auch hier zeigt ein Blick in die Anmerkungen, dass Mauntel wesentliche Informationen in seiner Paraphrase übergeht. In dem dort zitierten lateinischen Text – in den sich leider zwei Fehler eingeschlichen haben – steht nämlich nicht nur, dass die christiani, welche unter sarazenischer Herrschaft leben würden, zahlreicher seien als die Sarazenen selbst, sondern zudem erfährt man, dass es viele reges christiani habitantes in partibus Orientis gebe und zwar bis zum Land des Priester Johannes hin, also jener sagenumwobenen Gestalt, von der man sich im lateinischen Christentum Hilfe im Kampf gegen die „Sarazenen“ erhoffte.2 Auch wenn es bei Jacques de Vitry die christlichen Könige des Ostens sind, von denen die Hilfestellung zugunsten der Kreuzfahrer ausgeht und nicht der presbyter Iohannes, so überrascht es doch, dass Mauntel jene vieldiskutierte Figur, die mehr lateinische Projektionsfläche bzw. Fantasieprodukt als historischer Gestalt war, in seiner Paraphrase schlicht übergeht, handelt doch das nächste Kapitel von eben jener Figur, also vom Priesterkönig Johannes. Insgesamt hätte dem Text also eine gründliche redaktionelle Überarbeitung gutgetan.
Bis zu diesem Punkt könnte man den Eindruck gewinnen, als könne der Rezensent dem Buch wenig abgewinnen. Doch dieser Eindruck wäre verfehlt. Denn wenn man einmal von der Begründung der Quellenauswahl und den formalen Ungereimtheiten absieht, dann gibt es kaum mehr Kritik an Mauntels wegweisender Arbeit zu üben, der nicht nur ein breites fachwissenschaftliches Publikum gewünscht sei, sondern die auch für die akademische Lehre einen großen Erkenntnisgewinn verspricht.
Überzeugend ist nicht nur Mauntels konsequente Vermeidung des Kontinentbegriffs, wohingegen er den Erdteilbegriff verwendet, und zwar mit der Begründung, „dass das heutige Verständnis des Wortes ‚Kontinent‘ semantisch nicht deckungsgleich mit der mittelalterlichen Vorstellung der ‚Erdteile‘ (zumeist partes mundi) ist.“ (S. 41). Der „markante Unterschied“ bestehe nämlich darin, dass „‚Kontinente‘ als von anderen Landmassen abgegrenzte, für sich stehende Entitäten angesehen werden, während dem mittelalterlichen Modell der ‚Erdteile‘ der Gedanke der Zusammengehörigkeit der Teile zu einem Ganzen“ zugrunde gelegen habe (S. 41).
Beizupflichten, ist Mauntel auch in seiner dezidiert nicht-essentialistischen Verwendungsweise des Erdteilbegriffs, dessen „Konzeptcharakter“ (S. 24) er unter anderem unter Rückgriff auf Martin W. Lewis und Kären E. Wigen betont, die bereits zum Ende des vorigen Jahrhunderts den naturalistischen Charakter der Kontinente dekonstruiert und dazu auffordert haben, „den Mythos der Kontinente zu dekonstruieren“ (S. 21). Man kann Mauntels Buch als gelungene (!) Antwort auf diesen Aufruf lesen. Mauntel geht es in seinem Buch zwar nicht darum, „die Erdteilnamen als analytische Begriffe der modernen Forschung zu tabuisieren“, sondern es ist vielmehr sein Anliegen, die Forschung dafür zu sensibilisieren, „welche Rolle den Erdteilen in der mittelalterlichen Weltordnung zukam – und welche nicht“, wofür er den Blick auf die „mittelalterlichen Gebrauchskontexte und mit den Erdteilen verknüpfte Inhalte und Charakteristika“ scharfstellt (S. 21). Beides ist ihm in beindruckender Weise gelungen.
An vorderster Stelle muss hier auf Mauntels Einsicht hingewiesen werden, dass die „strukturelle Zusammengehörigkeit Afrikas, Asiens und Europas“ (S. 583), anders als noch in der griechischen Antike, nicht mehr hinterfragt, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt wurde, also zu den evidenten Tatsachen der mittelalterlichen Vorstellungswelt zählte, welche keiner Erklärung mehr bedürfen. Oder mit Mauntels eigenen Worten: „In einem langwährenden Prozess wurde das Konzept essentialisiert und damit zunehmend als naturräumlich gegeben aufgefasst und dargestellt.“ (S. 586) Darin liegt die Kerneinsicht der Studie ebenso wie in der Detaileinsicht, wie die Zeitgenossen die einzelnen Bestandteile der Trias, also Asien, Europa und Afrika, jeweils zu einem Ganzen fügten – und worin sich diese Konzepte voneinander unterschieden.
Anmerkungen:
1 Gottfried Gabriel, Fakten oder Fiktionen? Zum Erkenntniswert der Geschichte, in: Historische Zeitschrift 297 (2013), S. 1–26, hier S. 3.
2 „Credo autem quod christiani habitanti (sic) inter Sarracenos plures sunt numero quam Sarraceni. Multi autem reges christiani habitantes in partibus Orientis usque in terram presbyteri Iohannis, audientis (sic) adventum crucesignatorum, ut eis veniant in auxilium movent guerram cum Sarracenis.” Zitiert nach Anm. 1997, S. 467. Vgl. Robert B. C. Huygens (Hrsg.), Lettres de Jacques de Vitry, Leiden 1969, Nr. 2, S. 79–97, hier S. 95, wo anstelle von habitanti freilich habitantes und anstelle von audientis audientes zu lesen ist.