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Titel
Vom Umgang mit nationaler Vielfalt. Eine Geschichte der nicht-territorialen Autonomie in Europa


Autor(en)
Kuzmany, Börries
Erschienen
Berlin 2024: de Gruyter
Anzahl Seiten
XIV, 473 S., 7 SW- und 15 Farb-Abb.
Preis
€ 79,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jana Osterkamp, Universität Augsburg

Nationale Vielfalt in einem Staat bedeutet gleichermaßen großartige Chancen und bedeutende Herausforderungen. Politische Ordnungssysteme, die Diversität auf Dauer einbetten wollen, sind dementsprechend komplex. Die um 1900 im östlichen Europa ausformulierte Idee nicht-territorialer Personalautonomie war ein solches differenziertes Modell. In den letzten Jahren hat diese Idee in den Politik- und Sozialwissenschaften und zuletzt in den Geschichtswissenschaften wieder verstärkt Aufmerksamkeit erfahren, ist sie doch eng mit der damals wie heute debattierten Frage verbunden, ob und auf welche Weise nationale Vielfalt innerhalb von Staaten rechtlich schützenswert sei.

Der Wiener Osteuropahistoriker Börries Kuzmany stellt in seiner Habilitationsschrift die vielgestaltige Theorie und kakophonische Praxis nicht-territorialer Personalautonomie an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert für die Habsburgermonarchie, das Russländische Reich und schließlich für die europäische Friedensordnung nach 1918, hier insbesondere der Tschechoslowakei, der Ukraine und Estlands dar. Diese europäische Verflechtungsgeschichte politischer Ideen im „Umgang mit nationaler Vielfalt“ ist aus der von Kuzmany geleiteten internationalen ERC-Forschergruppe hervorgegangen, was sich in der beachtlichen Multiperspektivität des Buchs niederschlägt.

Die wichtigste Zäsur innerhalb seiner Geschichte einer politischen Idee auf Reisen setzt Kuzmany nach 1918 an, als sich die Nationalstaatsidee als „eigentliche Gewinnerin des Ersten Weltkriegs entpuppt“ habe (S. 356). Dennoch blieben die Gesellschaften bekanntlich im zentralen und östlichen Europa multiethnisch. Das abstrakte Problem, das im Zentrum der Studie steht, war daher nach 1918 nicht weniger dringlich: Welche Rechte wurden, erstens, nationalen Gruppen zuerkannt? Macht es dabei, zweitens, einen Unterschied, ob rechtlich das Individuum als solches oder der Einzelne aufgrund einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit geschützt wird? Wie ließen sich diese kollektiven und individuellen Rechte, drittens, unter den Bedingungen einer multiethnischen und multikonfessionellen Gesellschaft ausgestalten, wenn sich diese, viertens, dazu entschloss, nationale Vielfalt nicht zu nivellieren, sondern zu erhalten?

Eine Antwort auf diese Fragen fasst Kuzmany in den analytischen Begriff der „nicht-territorialen Personalautonomie“, der verschiedene historische Formen von nationaler, personaler, personal-nationaler oder exterritorialer Autonomie und Kulturautonomie in sich aufnimmt (S. 4). Nicht-territoriale Personalautonomierechte setzten im 19. Jahrhundert ein bestimmtes, vorwiegend nationales Kollektiv voraus. Deren Inhalt beschränkte sich zumeist auf Bereiche wie Kultus, Kultur und Bildung. In der Vormoderne waren es zumeist Religionsgemeinschaften gewesen, denen solche Sonderrechte zugestanden worden waren. Die Besonderheit der Personalautonomie bestand darin, dass Gruppenrechte zur begrenzten Selbstverwaltung zwar in einem Territorium gewährt wurden, ihre Ausübung aber nicht an dieses gebunden war – es handelte sich somit um Gruppenrechte aufgrund einer personalen Zugehörigkeit etwa zur jüdischen, tschechischen, ukrainischen, rumänischen etc. Nation.

Kuzmany interessieren die großen Dynamiken und Wandlungsprozesse in der Geschichte der nicht-territorialen Personalautonomie als Idee und Praxis. Mit der von Edward Said entlehnten Metapher des Reisens dynamisiert er gekonnt seine Begriffsgeschichte. Er zeigt, wie diese politische Idee auf ihrer „Reise“ durch verschiedene historische, politische, kulturelle und soziale Räume immer neue Formen annahm. Kuzmany analysiert Hintergründe und Interessen jener historischen Akteure und Gruppen in der Habsburgermonarchie, im Zarenreich und darüber hinaus, die die Idee der nicht-territorialen Personalautonomie für sich entdeckten, ausformten und weitergaben. Begriffe und Ideen behandelt er also nicht als etwas Abstraktes und Statisches, sondern er bezieht sie auf konkrete dynamische Netzwerke, die Begriffe, Ideen und Akteure diachron und synchron verbinden (S. 9).

Eine wichtige Erkenntnis seiner Studie ist die Ideologieoffenheit und Wandlungsfähigkeit nicht-territorialer Autonomie und deren ambivalentes Verhältnis zum Staat. Der austromarxistische Doyen dieser Idee, der spätere österreichische Bundespräsident Karl Renner, habe sich wie kein anderer für das Verhältnis und die Trennung von Nation und Staat interessiert, denen beiden Hoheitsrechte zukämen (S. 49, 63). Da sich die Gesamtheit der Staatsbürger in der Habsburgermonarchie in verschiedene Nationalitäten unterteile, müsse jedem Einzelnen ein Platz im Staat als Territorialverband und in einem dieser Personalverbände zukommen (S. 64).

Während andere zeitgenössische Marxisten, die theoretisch vom Absterben des Staats ausgingen, die austromarxistische Position als staatszentriert kritisierten, sieht Kuzmany deren Stärke darin, dass sie neben der Nation auch den Staat als Garanten einer Rechtsordnung ernst nimmt, die die mit Personalautonomie verbundenen Rechte erst ermöglichte. Zugleich war Renners Ansatz integrierend: Die Tätigkeit der autonomen Kultur- und Bildungsinstitutionen der Nationalitäten sollte aus seiner Sicht nicht gegen, sondern für den Staat ausgeübt werden (S. 188). Folglich wollte Renner die Nationalitäten auf die demokratischen und sozialen Grundprinzipien des Staats verpflichtet sehen.

Anhand des Zusammenhangs von Staatsideen und nicht-territorialer Personalautonomie fragt Kuzmany nach historischen Wahlverwandtschaften mit liberalem und illiberalem Denken. Er wendet sich gegen den Vorwurf, Kollektivrechte ließen sich nicht mit einer liberalen, auf individuellen Rechten aufgebauten Staatsverfassung verbinden. Die Dichotomie von Einzel- und Gruppenrechten hält er für wenig zielführend, weil viele Individualrechte implizit auf ein Kollektiv verweisen (S. 20). So könne ein liberaler Charakter der Personalautonomie dann aufrechterhalten werden, wenn der Zusammenschluss zum Kollektiv freiwillig sei. Anhand des Beispiels von Estland in der Zwischenkriegszeit demonstriert er in diesem Sinn die Verflechtung von nationalen Autonomierechten mit allgemeinen staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten (S. 296).

Allerdings weist Kuzmany auch auf historische Verbindungen der Personalautonomie zu illiberalen, undemokratischen Staatsideen hin. Ein extremer Fall waren Forderungen der Sudetendeutschen Partei in der Tschechoslowakei der 1930er-Jahre. Mit souveränen Hoheitsrechten ausgestattete Personenverbände sollten demnach als kulturell, politisch und wirtschaftliche souveräne Einheiten funktionieren, die intern in Anlehnung an das Führerprinzip strukturiert und als „Staat im Staate“ konzipiert waren. Hier ging es um Separation, nicht um Integration. Diese illiberale Aufladung der Idee war aber kein Novum der Zwischenkriegszeit. Wie Kuzmany immer wieder betont, war diese bereits in der Habsburgermonarchie und im zaristischen Russland in sehr verschiedene Ideologien „übersetzt“ worden (S. 286).

In Kuzmanys gleichgewichtetem Vergleich zwischen Österreich-Ungarn und Russland rückt er eine Frage in das Zentrum, die Theoretiker der nicht-territorialen Personalautonomie voneinander trennt: Sollen Selbstverwaltungsrechte allen Nationalitäten gleichermaßen zukommen – oder nur jenen, die nicht von der staatstragenden Mehrheit repräsentiert werden? Im ersten Fall zielen solche Rechte auf Gleichberechtigung und Integration, im zweiten auf Hierarchisierung und Separation verschiedener Nationalitäten.

Kuzmany zeigt für das Russländische Reich, wie Vorformen nicht-territorialer Personalautonomie als Sonderrechte für ausgewählte Nationalitäten entstanden. Dies betraf einerseits die russländischen Juden, deren Autonomierechte auf die frühneuzeitliche Tradition jüdischer Selbstverwaltungs- und Personalverbände, den kahal, zurückgingen. Anknüpfend an die osmanische Tradition religiöser und kultureller Selbstverwaltung in den millets behandelte das Zarenreich andererseits auch Muslime rechtlich getrennt von der übrigen Bevölkerung. Diese Praxis bewirkte nicht nur Separierung, sondern auch Ausgrenzung: Nationalitäten wurde dann ein Sonderstatus zuerkannt, wenn sie als nicht integrierbar galten (S. 208).

Diese Tradition, nicht-territoriale Personalautonomie als Steuerungsinstrument für Diasporanationalitäten zu betrachten, bildete auch im 20. Jahrhundert einen wirkmächtigen ideellen Bezugspunkt. So plädierte der ukrainische Historiker und Politiker Mychajlo Hruschewskyj mit Blick auf eine unabhängige Ukraine für Gruppenrechte ausschließlich zugunsten nationaler Minderheiten (S. 243). Auf diese Weise ließen sich aus seiner Sicht die zahlreichen nationalen Gruppen integrieren, ohne für sie „Nationalterritorien“ im künftigen ukrainischen Staate vorsehen zu müssen (S. 261). Dass die kurzlebige Ukrainische Volksrepublik der russischen, polnischen und jüdischen Bevölkerung im Januar 1918 Selbstverwaltungsrechte einräumte, stand in dieser Denktradition – und profitierte zugleich von der im Ersten Weltkrieg gestiegenen internationalen Aufmerksamkeit für Nationalitäten- bzw. Minderheitenrechte.

Diesem zunächst vormodern, später vom internationalen Minderheitenrecht inspirierten Gedanken stand die austromarxistische, von den österreichischen Staatsgrundgesetzen gestützte Position gegenüber, allen Nationalitäten gleiche Rechte zukommen zu lassen. Dennoch schlossen sowohl die austromarxistischen Theoretiker als auch die habsburgische Verwaltungspraxis, etwa im Mährischen Ausgleich (1905) und in der Bukowina (1910), einzelne Nationalitäten von solchen Gruppenrechten aus. Kuzmany widmet sich an dieser Stelle dem Streben der jiddischsprachigen Gruppen in der östlichen Monarchie nach Anerkennung, das weder politisch noch juristisch von Erfolg gekrönt war. Gänzlich übergangen wurden Sinti und Roma, was für die Zeit freilich nicht überraschend war.

Kuzmanys „Vom Umgang mit nationaler Vielfalt“ ist anschaulich geschrieben, und sein Argument wird visuell durch farbige Grafiken und erläuternde Illustrationen unterstützt. Trotz ihrer Interdisziplinarität ist die Studie frei von historischem, juristischem oder politologischem Jargon. Nicht nur die Grenzen zwischen akademischen Disziplinen werden so flüssig. Kuzmany überwindet auch Barrieren zwischen den Nationalhistoriographien der Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns und des Zarenreichs. Das breite Quellenkorpus profitiert von der beeindruckenden Vielsprachigkeit des Autors. Mit diesem grenzüberschreitenden Zugriff ist ein empfehlenswerter Baedeker für die Reise einer wichtigen politischen Idee entstanden, dem eine breite Leserschaft zu wünschen ist.