Raketenabwehr rückte durch die von Bundeskanzler Olaf Scholz 2022 angekündigte European Sky Shield Initiative wieder in die Öffentlichkeit. Als historische Parallele dazu kann die US-amerikanische Strategische Verteidigungsinitiative (SDI) gelten. Beide Initiativen verbindet sowohl das Ziel – die Abwehr ballistischer Nuklearraketen – als auch das Vertrauen in einen technologischen „Schild“.
Zur Geschichte der SDI legt Aaron Bateman nun mit seiner ersten Monografie „Weapons in Space. Technology, Politics and the Rise and Fall of the Strategic Defense Initiative” eine neue Studie vor. In der Geschichtswissenschaft wurde das Forschungs- und Rüstungsprojekt vor allem im Zusammenhang mit US-Präsidenten Ronald Reagan, der es ins Leben rief, erforscht. Bateman hingegen konzentriert sich auf die technologische Dimension des Großforschungsprojektes. In der Tat fehlt in der Forschung bis dato eine technikhistorische Untersuchung; vorhandene Publikationen hierzu behandelten meist im unmittelbaren zeitlichen Kontext die Machbarkeit bzw. Nicht-Machbarkeit des Raketenschildes. Historische Arbeiten haben die SDI im Kontext der Politik und Person Reagans sowie des Verhältnisses zur Sowjetunion und zu Mikhail Gorbatschow untersucht.1 Auch in Publikationen zum Ende des Systemkonflikts spielte die SDI eine nachrangige Rolle. Von diesen Studien versucht sich Bateman abzuheben.
Die SDI verortet Bateman im größeren Kontext der militärischen Nutzung des Alls zur Spionage, Kommunikation und Navigation durch beide Supermächte. Dieser der Öffentlichkeit verborgene Prozess habe ab 1960 zur Errichtung einer „American national security space infrastructure“ (S. 3) sowie der Entwicklung von Anti-Satellitenwaffen geführt. Auf diesem militärtechnologischen Wandel fußte die Weltraumpolitik der US-Konservativen, die Reagan verkörperte und so die SDI ermöglichte. Zentrale These des US-Historikers ist, dass technologische Entscheidungen der SDI simultan politische Entscheidungen waren, die sich auf die Verteidigungs- und Außenpolitik auswirkten (S. 6). Die Initiative definiert Bateman nicht als ein Projekt oder technisches Artefakt, sondern als Schirm für die Erforschung unterschiedlicher Technologien wie Raketenabwehr, Weltraumüberwachung und Anti-Satellitenwaffen (S. 5). Damit rückt der Autor die weniger exotischen, technisch machbaren Teilprojekte in den Fokus.
In sechs Kapiteln wird die Geschichte der SDI chronologisch, aber anhand unterschiedlicher Gesichtspunkte untersucht. Die gut lesbaren Kapitel umfassen je rund 30 Seiten und schließen jeweils mit einem Zwischenfazit. Basierend auf Archivquellen in den USA, in Großbritannien und Litauen sowie zahlreichen Oral Histories erzählt Bateman die technopolitische Geschichte der SDI.
Die Rolle von Satelliten im Kontext der Entspannungspolitik sowie für die US-Streitkräfte wird im Kontrast zur simultanen Entwicklung von Antisatellitenwaffen (ASAT) dargestellt. Diese – wie der Autor im ersten Kapitel richtigerweise festhält – der Öffentlichkeit verborgene Entwicklung bildet einen Ausgangspunkt für die SDI. Im zweiten Kapitel „Campaign for the High Ground“ verfolgt Bateman zwei Ziele: die Initiative in Reagans Vision und Konzept amerikanischer Stärke zu integrieren und die dadurch entstehenden Widersprüche zwischen dem Image der SDI als rein defensivem Schild und der tatsächlichen Militärstrategie im All aufzuzeigen. Ausführlich wird so dargelegt, dass Visionen zur Kriegsführung im All bereits vor der SDI im US-Militär und bei Defense-Intellectuals vorhanden waren. So verbindet das Narrativ die verteidigungspolitischen Entwicklungen geschickt mit rüstungstechnologischen Entwicklungen im Kontext der Entstehung von Reagans „Star Wars-Rede“. Auch sowjetische Quellen, die die Perspektive von Moskauer Politikern und Militärs auf SDI offenlegen, gehen in die Erzählung ein. Die unterschiedlichen Reaktionen auf die Ankündigung des Vorhabens 1983 und der tatsächliche Beginn der Initiative mit Gründung der Strategic Defense Initiative Organisation (SDIO) 1984 basierten auf dem anfangs fehlenden technologischen Konzept. Mit diesem setzt sich Bateman intensiver erst nach einem nachvollziehbaren Kapitel zur westeuropäischen SDI-Reaktion auseinander. Die ersten drei Kapitel des Hauptteiles bilden so die Grundlage für die weitere Argumentation.
Die Positionen der Regierungen Großbritanniens, der Bundesrepublik und Frankreichs gegenüber der SDI stellen sich als divergierend und konkurrierend heraus. Gründe dafür sieht der Autor in einer fehlenden europäischen Kooperation im militärischen Raumfahrtsektor sowie in den Dynamiken der europäischen Integration. Großbritannien und Frankreich als europäische Atommächte mit kleinen Arsenalen standen Reagans Ziel der Abschaffung der Abschreckung kritisch gegenüber. Besonders Kohl und Thatcher strebten jedoch strategisches Mitspracherecht und Technologietransfer durch eine Teilhabe bei der SDI an. Hier erschließt Bateman einen spannenden neuen Aspekt der SDI-Geschichte. Gleichwohl entfällt der Großteil seiner Analyse auf Großbritannien, wovon die Vielzahl der ausgewerteten britischen Dokumente zeugt. Die 1985 in der BRD kurzzeitig von Franz Josef Strauß angestoßene europäische Verteidigungsinitiative European Deterrence Initiative (EDI) hingegen fußt nur auf einem Verweis auf das frühe SDI-Standartwerk von Lakoff / York.2
Zwischen unterschiedlichen Vorstellungen über das spätere Verteidigungssystem und den Gesprächen zwischen Reagan und Gorbatschow zeigt Bateman auf, wie beide Staaten immer konkretere Pläne zur gegenseitigen Bekämpfung von Satelliten entwickelten. Beispielhaft ist hier ein Wandel Reagans. War er anfangs, so Bateman, im Rahmen seiner SDI noch gegen ASAT-Waffen, so befürwortete er diese 1985. Auch für Gorbatschows Position gegenüber der SDI wurden ASAT-Waffen zentral; sie boten der Sowjetunion die Möglichkeit, SDI-Satelliten bekämpfen zu können. So arbeitet Bateman im fünften Kapitel heraus, dass dieses militärtechnologische Detail es Gorbatschow erlaubte, in Verhandlungen von seiner SDI-Position abzurücken.
Eine besondere Stärke von Batemans Untersuchung ist, dass er die Geschichte der SDI über das Ende der Amtszeit Reagans und des Kalten Krieges hinaus betrachtet. Für die Jahre 1989–1994 zeigt sich am Beispiel des SDI-Konzeptes „Brilliant Pebbles“, wie nah die Entwicklung eines weltraumgestützten Raketenabwehrsystems rückte. Die nicht erfolgte Umsetzung in der Praxis führt Bateman auf die innen- und außenpolitischen Bedingungen nach Ende des Kalten Krieges zurück. Der Autor kommt zu dem Ergebnis, dass die SDI eher an infrastrukturellen Engpässen der Raumfahrt scheiterte. Die enormen Lasten der Satelliten und Kampfstationen waren nicht kosteneffizient in höhere Erdorbits zu transportieren. Auch die offene Zielsetzung und Struktur des Großprojektes, die sich politisch bedingt wandelte, führte zum Scheitern. Damit wird letztlich deutlich, dass die beteiligten Akteure unterschiedliche Visionen mit der SDI verbanden. Raketenabwehr blieb allerdings als begrenzte und bodengestützte Militärtechnologie eine feste Größe in der US-Verteidigungspolitik.
Aaron Batemans Monografie bereichert die Forschung zur Geschichte der SDI sowie der Raumfahrtgeschichte. Die Einbeziehung westeuropäischer Positionen sowie sowjetischer Quellen fügen der Forschung neue Ausgangspunkte hinzu. Bateman verweist gezielt auch auf die chinesische Perspektive, die in seiner Untersuchung nicht abgebildet werden konnte. Seinem Anspruch, eine technopolitische Geschichte der SDI im Kontext militärischer Raumfahrt zu erzählen, wird Bateman gerecht. Jedoch bleibt offen, mit welchem Infrastrukturbegriff Bateman arbeitet; neuere Literatur zur Infrastrukturgeschichte wird nicht herangezogen. Der Zuschnitt auf technologisch ausgereiftere SDI-Forschungsprojekte ist für den Umfang der Studie durchaus sinnvoll, doch bleibt so beispielsweise die von Edward Teller beworbene Idee des orbitalen Röntgen-Lasers „Excalibur“ nur eine Randerscheinung. Dabei wurde dieses SDI-Teilprojekt, das auch zur Satellitenbekämpfung geeignet war, bis 1990 von SDIO finanziert. Eine stärkere Einordnung dieser futuristischen, aber nicht irrelevanten Projekte wäre daher wünschenswert gewesen. Insgesamt bleibt aber eine lesenswerte Studie, die neues Licht auf die SDI und militärische Aktivitäten im All wirft und ansprechend für Themeninteressierte ist. Für die Gegenwart bleibt Batemans Feststellung, dass die SDI verantwortlich für das Fehlen von weitreichenden Abkommen zur Sicherheit im Weltraum war.
Anmerkungen:
1 Zu nennen sind vor allem Archie Brown, The Human Factor. Gorbachev, Reagan, Thatcher and the End of the Cold War, Oxford 2020; Paul Lettow, Ronald Reagan and His Quest to Abolish Nuclear Weapons, New York 2005; Frances Fitzgerald, Way out there in the blue. Reagan, Star Wars and the End of the Cold War, New York 2000.
2 Sanford Lakoff / Herbert F. York, A Shield in Space? Technology, Politics, and the Strategic Defense Initiative, Oxford 1989.