J. Ganzenmüller u.a. (Hrsg.): Transformation des Gedenkens

Cover
Titel
Transformation des Gedenkens. Lokales Erinnern an sowjetische Verhaftungen der Nachkriegszeit


Herausgeber
Ganzenmüller, Jörg; Landau, Julia; Waurig, Franz
Erschienen
Köln 2024: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
204 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bert Pampel, Dokumentationsstelle Dresden, Stiftung Sächsische Gedenkstätten

Mit dem Jahreswechsel 1944/45 rückten die alliierten Armeen im Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland auf dessen Staatsgebiet vor. In den letzten Tagen des Zweiten Weltkrieges sowie in der unmittelbaren Nachkriegszeit wurden hunderttausende deutsche Zivilisten vorbeugend in Gewahrsam genommen, da sie aufgrund ihrer Stellung im NS-Staat als gefährlich oder hinderlich für die Besatzungspolitik angesehen wurden. Das Vorgehen der sowjetischen Besatzungsmacht basierte zwar auf ähnlichen Grundannahmen und Interessen wie die Internierungspraxis in den Westzonen, wies jedoch aufgrund des totalitären Charakters des Sowjetstaates besondere Merkmale auf. Dazu zählten beispielsweise der unbegrenzt ausweitbare Begriff der „feindlichen Elemente“, äußerst brutale Ermittlungsmethoden sowie ein im Terror gegen das eigene Volk entwickeltes und erprobtes System unmenschlicher Lagerhaft. Die Verhaftungen in der sowjetischen Besatzungszone wurden zunehmend zu einem Instrument der Umgestaltung von Staat und Gesellschaft in eine sowjetkommunistische Diktatur. Konnte man in Westdeutschland offen über diese Verhaftungen reden und schreiben, breitete sich im Osten weitestgehend ein Schweigen über sie aus, das erst 1989/90 abrupt endete.

Der Sammelband behandelt die Entstehung von Erinnerungszeichen an die sowjetischen Verhaftungen, Verurteilungen und Speziallager der Nachkriegszeit und frühen DDR. Dies umfasst Erkenntnisse über die Verhafteten und den Kontext ihrer Inhaftierung, Recherchen zu den Entstehungsbedingungen der Memoriale sowie die Darstellung damit verbundener öffentlicher Auseinandersetzungen. Der Band ist ein Ergebnis der Arbeit des Projekts „Gedenken ohne Wissen?“ im Forschungsverbund „Diktaturerfahrung und Transformation. Biographische Verarbeitungen und gesellschaftliche Repräsentationen in Ostdeutschland seit den 1970er Jahren“.1 Die Beiträge stammen überwiegend von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen dieses Forschungsverbundes.

Ausgangsthese der Herausgeber ist ein „Spannungsfeld zwischen den erinnerungskulturellen Praktiken und einer wissenschaftlichen Aufarbeitung“, wobei Ergebnisse letzterer in der öffentlichen Debatte kaum wahrgenommen würden (S. 10). Der Band soll sowohl die „Deutungskämpfe um die Erinnerung an sowjetische Verhaftungen und Speziallager“ aufzeigen als auch die Diskussion um deren Verortung in der Geschichtskultur anhand einer lokalgeschichtlichen Perspektive konkretisieren (S. 13). Dass es dabei nicht um eine abgeschlossene, praxisferne Debatte im wissenschaftlichen Elfenbeinturm geht, wird an kürzlich zurückliegenden Auseinandersetzungen deutlich. So befasst sich ein Beitrag mit der Kontroverse um die Benennung einer Straße in Oranienburg nach Gisela Gneist, einer Speziallagergefangenen und späteren Vorsitzenden der „Arbeitsgemeinschaft Lager Sachsenhausen“. Auch der Streit zwischen der Gedenkstätte Buchenwald und der Menschenrechtsorganisation MEMORIAL Deutschland um eine 2023 in Zeitz angebrachte Gedenktafel für Arthur Jubelt, den dortigen von der amerikanischen Besatzungsmacht im April 1945 eingesetzten Oberbürgermeister, der Ende 1947 im Speziallager Buchenwald umkam, ist hochaktuell.

Das Buch besteht aus zwei Hauptteilen. Der erste Teil beginnt nach einer kurzen Einleitung mit einer Kritik von Jens-Christian Wagner an Tendenzen der Entdifferenzierung, Entkontextualisierung, Sakralisierung, Personalisierung und Instrumentalisierung in der aktuellen Erinnerungskultur. Es folgen Beiträge über den Forschungsstand zur Internierungspraxis der sowjetischen Besatzungsmacht und zur Begriffsgeschichte der sowjetischen Lager auf deutschem Boden. Weitere Artikel widmen sich der Gedenktafel für die in den Speziallagern umgekommenen Mitglieder des Reichsgerichts und der Setzung von Erinnerungszeichen an verhaftete (Ober-)Bürgermeister. Im zweiten Teil werden konkrete Denkmalsetzungen in verschiedenen Städten untersucht. Die Bandbreite reicht von Gedenktafeln an früheren Haft-, Gerichts- und Vollstreckungsorten über die namentliche Nennung der in Urnengräbern auf Friedhöfen heimlich Verscharrten bis hin zur Straßenbenennung.

Die Beiträge stützen sich insbesondere auf Medienberichte, Verbandszeitschriften und Archivunterlagen. Die Behauptung, dass die „wichtigsten Aktenmaterialien russischer Archive“ zu den sowjetischen Verhaftungen und Speziallagern erschlossen und der Öffentlichkeit seit den frühen 1990er-Jahren zugänglich seien (S. 10) und dass somit bereits damals auf einen „umfangreichen Erfahrungs-, Gedächtnis- und Wissensspeicher zurückgegriffen werden konnte“ (S. 28), erscheint gewagt. So stehen die sowjetischen Ermittlungsunterlagen zu den Verhafteten nach wie vor bis auf wenige Ausnahmen nicht zur Verfügung und die ersten substanziellen Beiträge zu den Speziallagern auf Basis sowjetischer Archivquellen erschienen erst 1998.

Die Einzelanalysen der konkreten Denkmalsetzungen ergaben ähnliche Befunde: Die Initiative ging meistens von überlebenden Häftlingen oder deren Angehörigen aus. Gerade in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre war der Wissensstand oft noch so ungenügend, dass falsche Angaben „in Bronze gegossen“ wurden oder konkrete Informationen gänzlich fehlten. Häufig wurde die Verantwortung gewürdigter Protagonisten für nationalsozialistisches Unrecht als „Vorgeschichte“ ihres „Opfergangs“ auch wider besseres Wissen ausgeblendet oder marginalisiert – etwa bei den umgekommenen Angehörigen des NS-Reichsgerichts oder bei Bürgermeistern. Wie aktuelle Beispiele zeigen, bleibt die individuelle Würdigung auch trotz inzwischen vorhandenen Wissens kontrovers. Viele Setzungen folgten einer „Vereindeutigungsstrategie“ (Jörg Ganzenmüller, S. 107), indem die Personen, derer gedacht wurde, nicht nur als „unschuldige Opfer“, sondern etwa als „Kämpfer für Freiheit und Menschenwürde“ charakterisiert wurden. Dies widersprach sowohl den NS-Belastungen als auch anderen Tatvorwürfen, die sich nicht unter die Kategorie „Regimegegnerschaft“ subsumieren lassen. Des Weiteren vermischte sich häufig das Gedenken an die Gefallenen des Zweiten Weltkrieges, die „Opfer des Faschismus“ und die „Opfer des Stalinismus“ als „Opfer der Gewaltherrschaft“.

Die begleitenden Anträge und öffentlichen Erklärungen zu den Ehrungen stellten nicht selten Bezüge zum Umgang mit dem Nationalsozialismus her, welche die Unterschiede zwischen den Diktaturen sowie den jeweiligen Formen von Verfolgung und Haft nivellierten. Hier bot sich das Gedenken an die Nachkriegsverhafteten nach Ansicht der Autorinnen und Autoren als Entlastung für die Verstrickungen der deutschen Mehrheitsgesellschaft in die NS-Verbrechen an. Außerdem sehen sie gleichsetzende Darstellungsstrategien in der erinnerungskulturellen Nachordnung der Speziallagerhäftlinge sowie im Kampf um gesellschaftliche Anerkennung und um Entschädigungen begründet. Zu ergänzen wären das öffentliche Desinteresse und die „Blindheit über die sozialen Realitäten des Realsozialismus“2 bei nicht wenigen Gedenkstättenmitarbeitern und Kulturpolitikern. Schließlich manifestiert sich in den dargestellten Kontroversen ein breites Spektrum an Formen des Umgangs mit vorhandenen Setzungen und neuem Wissen: Erinnerungszeichen wurden beispielsweise gestohlen oder mit kritischen Kommentaren besprüht, durch Ausfräsen von Namen korrigiert oder durch ergänzende Informationsträger kontextualisiert.

In der quellengesättigten, detaillierten Darstellung der dokumentierten Ehrungen liegt die Stärke des Bandes, der sowohl neue Erkenntnisse über die historischen Vorgänge und die Verhafteten als auch über die Entstehungsgeschichte der Gedenkzeichen vermittelt. Abbildungen der Örtlichkeiten, Tafeln und Texte tragen zur Veranschaulichung bei. Allerdings bleiben die theoretische Durchdringung des Themas und die Anknüpfung an bisherige Forschungen zu Geschichtskultur, Geschichtspolitik und Geschichtsbewusstsein begrenzt.3 Auf eine Einordnung des Gedenkens in die Transformationsprozesse seit 1989/90 und in die Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur verzichten die Herausgeber. Die Auswahl der untersuchten Setzungen aus hunderten ähnlichen Projekten4 wird nicht hinreichend begründet. Die titelgebende „Transformation des Gedenkens“ bleibt ohne Erläuterung. Inwieweit sich eine solche Transformation im Gedenken an die sowjetische Verhaftungspraxis in den vergangenen 35 Jahren vollzogen hat, wird nicht deutlich gemacht.

Dass seit der deutschen Einheit gerade in Bezug auf die Mahnmale des DDR-Antifaschismus hinsichtlich ihrer Funktion ein Wandel des Gedenkens stattfindet, das ansatzweise ebenso in veränderte Setzungen mündet, scheint zwar in einigen Beiträgen auf, wird aber leider nicht näher reflektiert. Dabei zählt der kommunistische Antifaschismus zu den prägenden „kollektiven Erfahrungen aus der Zeit vor […] dem Ende der DDR“ und wäre damit gewiss Teil der „langen Geschichte der Wende“ (S. 10) zwischen 1970 und 2010, die der Forschungsverbund untersucht. Ohne die Berücksichtigung des DDR-Antifaschismus scheint eine angemessene Bewertung des Gedenkens an die sowjetischen Verfolgungen schwer vorstellbar. Die Sprengkraft der Entdeckungen der Massengräber von jahrzehntelang verschwiegenen Toten der sowjetischen Speziallager nach 1990 sowie die denkmalsstürmerische, teilweise gleichmacherische Haltung gegenüber DDR-antifaschistischen Mahnmalen in der Nach-Wendezeit erklären sich auch daraus, dass letztere der Legitimation einer Diktatur durch oktroyierte Geschichtsbilder dienten. Eine erweiterte Perspektive, die Entkonkretisierung, fehlerhafte Angaben und inhaltliche Unschärfen – wie etwa den Opferbegriff – auch bei Erinnerungszeichen für NS-Verfolgte in den Blick nimmt (im Osten wie im Westen), verspricht deshalb zusätzlichen Erkenntnisgewinn.

Die unterschiedlichen Entstehungskontexte, Standorte und Arten der Zeichensetzung gehen auch mit divergierenden Ansprüchen an die konkrete Ausführung – etwa für die Informationstiefe – einher. Beispielsweise erfüllen Namenstafeln für Verstorbene auf Friedhöfen andere Funktionen als individuelle namentliche Gedenktafeln an einem Rathaus. Dies wird in einigen Beiträgen jedoch nur ungenügend reflektiert. An manchen Stellen geht das eigene erinnerungspolitische Engagement zulasten einer historisch-wissenschaftlichen Darstellung, die zu verstehen und zu erklären versucht.

Für die historische Einordnung problematisch ist der Fokus des Bandes, der nahezu ausschließlich auf solche Verhaftete gerichtet ist, die als frühere NS-Funktionsträger interniert oder als Beteiligte an NS-Verbrechen verurteilt wurden. Demgegenüber werden nur wenige Erinnerungszeichen erwähnt, die Menschen gewidmet sind, die wegen ihres Widerstandes gegen die Durchsetzung der kommunistischen Diktatur verurteilt worden waren.

Der Nutzen der Lektüre des Bandes besteht darin, sich erneut der Frage nach den Kriterien und Maßstäben zu stellen, die für die Setzung individueller Erinnerungszeichen gelten sollten, und gleichzeitig die Notwendigkeit intensiver biographischer Forschung zu den gewürdigten Personen zu unterstreichen. Damit sei das Buch Lokalhistorikern, zivilgesellschaftlichen Erinnerungsinitiativen, kommunalen Verantwortungsträgern, aber auch Fördermittelgebern nachdrücklich empfohlen. Der Band bietet Anstöße für neue oder korrigierte Setzungen vor Ort und für Bildungsprojekte, die das Potenzial der Denkmäler für eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung besser nutzen. Statt Abriss oder Tilgung sollte dabei kommentierender Aufklärung und Auseinandersetzung Vorrang eingeräumt werden. Auf die Ergebnisse der zweiten Förderphase des Projekts darf man gespannt sein.

Anmerkungen:
1 Siehe https://verbund-dut.de/teilprojekte/speziallager/ (27.05.2024).
2 Jorge Semprún, Stalinismus und Faschismus, in: Hilmar Hoffmann (Hrsg.), Gegen den Versuch, Vergangenheit zu verbiegen. Eine Diskussion um politische Kultur in der Bundesrepublik aus Anlaß der Frankfurter Römerberggespräche 1986, Frankfurt am Main 1987, S. 37–49, hier S. 49.
3 Genannt sei hier lediglich folgender Sammelband: Dietmar von Reeken / Malte Thießen (Hrsg.), Ehrregime. Akteure, Praktiken und Medien lokaler Ehrungen in der Moderne, Göttingen 2016; rezensiert von Daniel Siemens, in: H-Soz-Kult, 21.04.2017, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-24714 (27.05.2024).
4 Anna Kaminsky (Hrsg.), Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR, 3., überarb. u. erw. Aufl., Berlin 2016 (1. Aufl. Leipzig 2004).