Der hier angezeigte Band schließt die von Werner Faulstich herausgegebene, mehrbändige, in Dekaden unterteilte „Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts“ ab. Dieses Unternehmen verdient daher für sich genommen Beachtung; es ist eine bedeutsame Leistung, innerhalb weniger Jahre ein so ambitioniertes Publikationsprojekt durchzuführen und abzuschließen.
In Aufbau, Konzeption und Stil folgt der Band im wesentlichen seinen Vorgängern.1 16 Einzelbeiträge sowie die Einleitung des Herausgebers beschreiben überwiegend Phänomene der modernen Massenkultur, wobei der Schwerpunkt auf deren deutschen Ausprägungen liegt. Von den Beiträgen über Computerkultur, Internet und Musik abgesehen, gibt es kaum Überlegungen zur internationalen oder transnationalen Dimension des Themas.
Lässt sich denn überhaupt über die Kultur der 1990er-Jahre schon ein konturiertes Bild gewinnen? Faulstich gibt auf diese Frage eine klare Antwort: Er verkündet zum einen das „Ende der traditionellen Kultur zum ausgehenden Jahrhundert: der klassischen Literatur, der klassischen Musik, der klassischen Malerei“ usw. Damit verbundene Klagelieder seien aber nicht angebracht. Auch sei die Kultur nicht „schlechthin zum Popanz geworden“; lediglich die „etablierte Kultur von gestern und vorgestern“ sei an den Rand gerückt. In diesem Sinne, und die Richtung der früheren Bände fortführend, stellt der Herausgeber die zentrale These des Bandes auf, dass nämlich „die Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts zu wesentlichen Teilen in Mediengeschichte aufgegangen ist“. Aus dieser Diagnose speist sich denn auch das Arrangement des Bandes: Kultur als „Medienkultur“ zu begründen und hier das „Kulturelle“ wieder aufzufinden bedeutet, den Gegenstand um eine Fülle neuer Kategorien und Kunstformen zu erweitern. Dies gilt für die Event-Kunst über den anspruchsvollen Spielfilm als „Filmkunstwerk“ bis zum „Computerspiel im Netz als alternative Form einer autopoietischen Kunst für alle“ (S. 18).
Eingebunden werden die entsprechenden Explorationen in den Rahmen einer deutsch-deutschen Reflexion, für die aus unterschiedlichen Perspektiven Nadine Freund, Dagmar Bussiek, Karlheinz Wöhler und Hans-Dieter Kübler zuständig sind. Nadine Freund resümiert die erinnerungspolitischen Konvergenzen und Divergenzen „im ersten Jahrzehnt der Berliner Republik“. Trotz der massiven Erforschung der DDR-Geschichte und einem sich intensivierenden wissenschaftlichen Diskurs über das DDR-Erbe blieb, so konstatiert sie, der Nationalsozialismus „das wichtigste Thema erinnerungspolitischer Auseinandersetzungen in Deutschland“ (S. 38). In diesem Diskurs waren die Ostdeutschen deutlich unterrepräsentiert; auch das vergangenheitspolitische und erinnerungskulturelle Bild fügt sich also mehr oder minder nahtlos in das bekannte Bild von der Dominanz des Westens über den Osten in den 1990er-Jahren ein.
Das gilt auch, wie Dagmar Bussiek zeigt, für die Stellung der Frauen in den 1990er-Jahren. Dies war ein Jahrzehnt der Distanz zwischen ostdeutschen und westdeutschen Frauen. Die in Ost und West unterschiedlich codierten Geschlechterverhältnisse machten sich im Privaten, in der Erwerbswelt, aber auch in der Öffentlichkeit deutlich bemerkbar. In dem Maße, in dem das Problem, Familie und Beruf zu vereinbaren, eine „Frauenfrage“ war, standen die Frauen in den Neuen Bundesländern vor neuen Herausforderungen. Dies gilt auch, wenn die Versorgung mit Betreuungseinrichtungen für Säuglinge und Kleinkinder über die ganzen 1990er-Jahre hinweg in den Neuen Bundesländern deutlich dichter blieb als in den westdeutschen Bundesländern (S. 58).
Eine kulturelle Einebnung in Ost und West fand dagegen im Bereich von Freizeit und Reisen statt, wie Karlheinz Wöhler dokumentiert. Die sich geradezu schockartig bietenden neuen Optionen im Freizeitmarkt, welche die Ostdeutschen gewissermaßen „nachholend“ ergriffen, verstärkte bereits in der DDR latent vorhandene Individualisierungstendenzen und führte bis Mitte der 1990er-Jahre zu einer weitgehenden Angleichung zwischen Ost und West. Ähnliches gilt für die Presse in den 1990er-Jahren, die Hans-Dieter Kübler untersucht. Binnen weniger Jahre wurden die Überreste des sozialistischen Verlags- und Publikationssystems der DDR getilgt; an seine Stelle trat die westdeutsche Pressekultur, deren frühe Hoffnungen auf Expansion sich allerdings nicht in vollem Umfang verwirklichten. Nach anfänglichen Absatzsteigerungen im Bereich der Zeitungen und Zeitschriften, die auch durch neue, spezifisch auf den Osten zugeschnittene Formate bereichert wurde, ging die Nachfrage in Ostdeutschland deutlich zurück, während sich im Westen die bereits vor 1989 spürbare Regresssion fortsetzte.
Die genaue Funktion dieser Beiträge über die deutsch-deutschen Verhältnisse der 1990er-Jahre, die auch nur wenig Neues bringen, bleibt eher unklar. Angestrebt ist, den „Kontrast von ‚Westkultur‘ und ‚Ostkultur‘ als Kern der politischen Kultur des Jahrzehnts“ herauszuarbeiten (S. 17). Faktisch wird aber doch eher eine Art Hintergrundinformation für jene Beiträge geliefert, die den eigentlichen Wandel zur Medienkultur im Sinne der einleitenden Bemerkung des Herausgebers dokumentieren sollen, deutsch-deutsche Überlegungen aber nicht mehr anstellen.
Hierzu gehören die eher quantitativ-deskriptiv gehaltenen Bemerkungen von Markus Burkhard über den „Siegeszug des Computers“ und von Kathrin Rothemund über die Verbreitung und Aneignung des Internets. Den großen Unterhaltungsangeboten im Bereich der Musik, des Kinos und Films sowie des Fernsehens der 1990er-Jahre sind die Beiträge von Carola Schormann, Ricarda Strobel und Knut Hickethier gewidmet, während Werner Faulstich und Fabian Baar die eher konventionellen Kulturangebote in Theater und Literatur diskutieren. Dass der Sport geradezu eine Schlüsselposition der Massenkultur innehatte, die sich im Verlauf der 1990er-Jahre in Folge der dauerhaften Medienpräsenz noch verstärkte, ist zweifellos eines der wichtigsten Phänomene der 1990er-Jahre, das von Michael Schaffrath näher unter die Lupe genommen wird. Ricarda Strobel und Frank Baar schließlich stellen Tendenzen und Konzepte der Architektur, des Design sowie der Event-, Medien- und Raumkunst vor.
Alle diese Beiträge vermitteln eine Fülle von Informationen, regen zum Nachdenken an und umreißen künftige Forschungsfelder. Ein gemeinsamer Nenner, der die eher disparaten Beiträge des Bandes zusammenführen könnte, ist dagegen nicht erkennbar. Dies gilt auch und gerade für die eingangs vom Herausgeber formulierte starke These, wonach im Grunde alle Kultur am Ende des 20. Jahrhunderts zur Medienkultur wird. Hierauf nehmen die Einzelbeiträge keinen systematischen Bezug mehr, was gerade dann bedauerlich ist, wenn das ausgebreitete Material die Grundthese nicht unbedingt bestätigt. So bleibt zum Beispiel unerklärt, warum in einem kaum schrumpfenden Theatersektor am häufigsten Shakespeare, Goethe und Brecht gespielt wurden und ganz offensichtlich „mehr denn je die etablierten Klassiker dominierten“ (S. 205). Lässt sich ein solches Phänomen quantitativ verrechnen mit der Medienkultur, wie sie in Werbung, Fernsehen, Internet, digitalisierter Musik oder auch in der durch Piercing, Tattoos und Kosmetik geprägten „Körperkultur“ begegnete? Oder tauchen hier doch grundsätzlichere Fragen auf über das Verhältnis von (Hoch-)Kultur und Massenkultur, von Kunst und Kommerz, von sozio-kulturellem Wandel und fortbestehender Bürgerlichkeit? Solche Fragen werden durch die Grundthese und die Fragestellung des Herausgebers zwar evoziert, aber nicht bearbeitet. Angesichts der faktischen Disparatheit der Themen und Perspektiven, die nicht strukturiert, sondern additiv vorgetragen werden, ist dies freilich auch nicht zu erwarten.
Fazit: ein materialreicher Band mit wenigen analytisch klaren Antworten, vielen Perspektiven und einer Fülle an Anregungen für künftige Forschungen.
Anmerkungen:
1 Siehe zuletzt: Werner Faulstich (Hrsg.), Die Kultur der 60er Jahre, München 2003; vgl. die Rezension von Rainer Eisfeld, in: H-Soz-u-Kult, 05.01.2004, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-1-002> (01.09.2010). Ders. (Hrsg.), Die Kultur der 70er Jahre, München 2004; vgl. die Rezension von Maria Stehle, in: H-Soz-u-Kult, 07.12.2004, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2004-4-166> (01.09.2010). Ders. (Hrsg.), Die Kultur der 80er Jahre, München 2005; vgl. die Rezension von Maria Stehle, in: H-Soz-u-Kult, 18.11.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-4-108> (01.09.2010).