Cover
Titel
"Warme Brüder" im Kalten Krieg. Die DDR-Schwulenbewegung und das geteilte Deutschland in den 1970er und 1980er Jahren


Autor(en)
Tammer, Teresa
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte
Erschienen
Anzahl Seiten
292 S.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Adrian Lehne, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Die letzten Jahre verzeichneten eine erfreuliche Zunahme der queeren Zeitgeschichtsforschung im deutschsprachigen Raum.1 Nach wie vor liegt in dieser der Schwerpunkt auf der alten Bundesrepublik. Die queere Geschichte der DDR hat hingegen bisher deutlich weniger Beachtung gefunden. Die zuletzt erschienenen Monografien von Andrea Rottmann über Queeres Leben im geteilten Berlin zwischen 1945 und 1970 und von Samuel Huneke über männliche Homosexualität des Nachkriegsdeutschlands in Ost und West stellen hier erste wichtige Meilensteine zur Behebung der Forschungslücke dar.2

Hieran kann Teresa Tammer mit ihrem Buch „‚Warme Brüder‘ im Kalten Krieg“, das auf einer 2021 an der Universität Münster eingereichten Dissertation basiert, anschließen. Die Monografie fokussiert auf die Schwulen- und Lesbenbewegung der DDR der 1970er- und 1980er-Jahre. Dabei interessiert sich Tammer insbesondere für die Verflechtung zwischen Ost und West und fragt nach den grenzübergreifenden Kontakten der Aktivist:innen sowie ihren spezifischen Selbstbehauptungsstrategien.

Anders als in der Bundesrepublik gab es in der DDR gemeinsame Bewegungskontexte von lesbischen Frauen und schwulen Männern. Tammer zeigt konsequent die Beteiligung von lesbischen Frauen in den zumeist männlich dominierten Kontexten auf. Deutlich wird so eine Ambivalenz von lesbischen Frauen als zentrale Akteur:innen auf der einen Seite und ihre Unsichtbarmachung im Selbstverständnis einiger Gruppen auf der anderen Seite. Hier zeigt sich das weiter bestehende Forschungsdesiderat mit Blick auf lesbischen Aktivismus und lesbische Lebenswelten in der DDR.3

Das Buch greift auf eine bemerkenswert breite Quellenbasis zurück. Es kann sich auf Überlieferungen der Aktivist:innen in Ost und West, von der Autorin durchgeführte Zeitzeugeninterviews, Filme, zahlreiche Bewegungszeitschriften aus Ost und West, staatliches Archiv-Material sowie Stasi-Akten stützen. So gelingt es nicht nur, den Diskurs innerhalb der Bewegung in seiner Breite abzudecken, es kommen auch die unterschiedlichen Perspektiven innerhalb staatlicher Institutionen sowie unter den west- und ostdeutschen Aktivisten:innen selbst in den Blick. Zudem schafft es die Autorin, den Transfer und die Modifikation von Ideen, Wissen und Strategien präzise nachzuvollziehen. Das Buch enthält neben Einleitung und Fazit vier inhaltsbezogene Kapitel. Diese sind chronologisch angeordnet und orientieren sich an den entscheidenden Zäsuren, zu denen die Schwulen- und Lesbenbewegung der DDR besonders stark aktiv oder von staatlicher Repression betroffen war. 1973 gründete sich die erste schwul(-lesbische) Gruppe in Ost-Berlin, Ende der 1970er-Jahre wurde diese Gruppe verboten, ab 1982 setzten verstärkte Aktivitäten unter dem Dach der Kirche ein und 1989 bedeutete auch für die DDR-Schwulen- und Lesbenbewegung einen Einschnitt.

Im zweiten und zugleich ersten inhaltsbezogenen Kapitel unter der Überschrift „Vorgeschichte“ zeichnet Tammer zunächst die ersten Emanzipationsbewegungen in der Weimarer Republik und die Repression in der NS-Zeit nach. Der Schwerpunkt liegt jedoch auf den 1950er- und 1960er-Jahren. In Bezug auf Strafrecht verdeutlicht die Autorin die Kontinuitäten in der Bundesrepublik und eine im Vergleich dazu abgeschwächte Form der Verfolgung in der DDR. In beiden Ländern kam es 1969 zu einer Strafrechtsreform, infolge dessen nur ein erhöhtes Schutzalter bestehen blieb. Im Gegensatz zur Bundesrepublik umfasste der in der DDR neu geschaffene Paragraf 151 auch sexuelle Kontakte zwischen Frauen. Trotz weniger repressiver strafrechtlicher Verfolgung war auch in der DDR das gesellschaftliche Klima gegenüber Homosexualität negativ eingestellt. Beiden Teilen Deutschlands war gemeinsam, dass der Kalte Krieg in den 1950er- und 1960er-Jahren als Interpretationsrahmen für Homosexualität fungierte. Der (negative) Verweis auf Homosexualität wurde genutzt, um sich vom jeweils anderen Gesellschaftssystem abzugrenzen (S. 49f.). Für die DDR konstatiert Tammer, dass in den 1970er-Jahren der Homosexuelle „zu einem Mitbürger [wurde], für den die Gesellschaft Mitleid empfinden und dem sie mit Toleranz begegnen sollte“ (S. 48).

Das dritte Kapitel „Aufbruch im geteilten Deutschland“ widmet sich den 1970er-Jahren. In Ost-Berlin konnte sich in dieser Zeit die erste schwul-lesbische Emanzipationsgruppe bilden, die Homosexuelle Initiative Berlin (HIB). Voraussetzung dafür war unter anderem die mit der Ära Honecker einsetzende Hoffnung auf eine gesellschaftliche Öffnung (S. 94) sowie die Entspannungspolitik zwischen Ost und West. Letztere ermöglichte persönlichen Kontakt zwischen Aktivist:innen von beiden Seiten der Grenze, die so Netzwerke aufbauen und Material austauschen konnten (S. 69f.). Die HIB rezipierte intensiv die Dokumente der westdeutschen Schwulenbewegung, insbesondere der Homosexuellen Aktion Westberlin (HAW) (S. 95f.). Dennoch unterschieden sich die Ziele und Strategien der west- und ostdeutschen Aktivist:innen. Für die HIB bestand zunächst das Hauptziel darin, einen Raum für Austausch und Öffentlichkeit zu schaffen. Die Gruppe bemühte sich deshalb zunächst um eine offizielle Anerkennung vom Staat sowie die Einrichtung eines Informations- und Begegnungszentrums. Um ihre Ziele zu erreichen, verortete sich die HIB in ihren Eingaben in der „sozialistischen Gesellschaft der DDR“, positionierte sich gegenüber dem Westen (S. 101) und verwies auf historische Kontexte, die Akzeptanz von Homosexualität in sozialistischen und kommunistischen Bewegungen zeigen sollten (S. 103). Nach der Ablehnung solcher Bemühungen konnte die HIB zumindest die Duldung ihrer privaten Treffen im Gründerzeitmuseum von Charlotte von Mahlsdorf erreichen (S. 110). Die HIB musste dafür jedoch auf weitere Anerkennungsversuche verzichten. Infolge eines geplanten Lesbentreffens verbot die Staatsführung weitere Zusammenkünfte (S. 118). Damit endete zunächst die Geschichte der ersten schwul-lesbischen Gruppe der DDR. Hieran konnte erst Anfang der 1980er-Jahre angeknüpft werden.

Im vierten Kapitel „Schwule Selbstbehauptung in der DDR und deutsch-deutsche Verflechtungen in den 1980er-Jahren“ stellt Tammer heraus, wie sich ab Anfang der 1980er-Jahre zunächst im Rahmen der evangelischen Kirche Arbeitskreise und später auch losgelöst von ihr Clubs für schwule Männer und in geringerem Maße auch für lesbische Frauen bilden konnten. Die Verortung in der Kirche barg jedoch auch eine gewisse Spannung, sich als Christen zu bezeichnen und gleichzeitig für den Sozialismus auszusprechen. (S. 152) Wie schon in den 1970er-Jahren war für die Bewegungsaktivist:innen – selbst wenn sie sich als Teil einer genuinen DDR-Bewegung verstanden (S. 224) – der Kontakt zur westdeutschen Schwulenbewegung wichtig. Diese unterstützte die Bewegung in der DDR durch die Weitergabe von Literatur und in Einzelfällen auch mit finanziellen Mitteln (S. 197). Die ostdeutschen Aktivist:innen nutzten zudem Medien der westdeutschen Schwulenbewegung, um sich selbst darzustellen oder auch Informationen in der DDR zu verteilen (S. 202). Tammer zeigt, wie so dominante Themen der westdeutschen Schwulenbewegung, wie zum Beispiel HIV/AIDS, von der DDR-Bewegung angeeignet und mit eigener Bedeutung versehen worden sind. Hervorzuheben ist zudem Tammers Bemühen, den Umgang mit dem anderen für die westdeutsche Bewegung wichtigen Thema, Pädosexualität4, auch in der DDR nachzuvollziehen. In Bezug auf Letzteres zeigen sich neben der Nichterwähnung aber auch Ambivalenzen, wie zum Beispiel eine fehlende Abgrenzung (S. 166).

Das letzte und kürzeste Kapitel beschäftigt sich mit den Transformationsprozessen nach 1989/90. Tammer kann hier zeigen, wie sich der Aktivismus von den Kirchen löste und zunächst ein regelrechter Boom von Gruppen-Neugründungen einsetzte, die jedoch in vielen Fällen nur kurz Bestand hatten. Dabei kam es zu Annäherungen (gemeinsamer Aktivismus gegen den Paragrafen 175 StGB), aber auch Abgrenzungsprozessen (Betonung spezifischer eigener Interessen) zwischen west- und ostdeutschen Aktivist:innen. Bedeutend in dieser Zeit war auch die Gründung des Schwulenverbands der DDR (SVD) aus dem Umfeld der kirchlichen Arbeitsgruppen heraus, der schnell einen gesamtdeutschen Vertretungsanspruch erhob. Aufgrund seiner integrationistischen Ausrichtung schlossen sich auch Aktivisten aus Westdeutschland an.

Teresa Tammer hat eine überzeugende, anregende und sehr gut lesbare Arbeit vorgelegt. Ohne Zweifel kann dieses Buch als grundlegend für das Verständnis der DDR-Schwulenbewegung verstanden werden. Insbesondere der genaue Blick auf den Einfluss individueller Netzwerke und die Zirkulation von Ideen und Wissen zeichnet dieses Buch aus. Deutlich wird, dass nicht nur der einseitige Transfer von West nach Ost, sondern die wechselseitigen Verflechtungen wichtig waren. Die DDR-Schwulen- und Lesbenbewegung tritt in diesem Buch als eine eigenständige Formation auf. Sie war durch die spezifischen Zwänge etwa in der Beziehung zum Staat und zur Kirche sowie durch ihre Möglichkeiten zum Beispiel durch ihre Kontakte mit westdeutschen Aktivist:innen geprägt. Insbesondere das letzte Kapitel ist instruktiv für zukünftige Geschichtsschreibung queerer Bewegungen und die Entwicklung eines queeren Selbstverständnisses.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Sébastien Tremblay, A Badge of Unjury. The Pink Triangle as Global Symbol of Memory, Berlin 2023; Christopher Ewing, The Color of Desire. The Queer Politics of Race in the Federal Republic of Germany after 1970, Ithaca, NY 2023; Ulrike Klöppel / Benno Gammerl / Andrea Rottmann (Hrsg.), Queere Zeitgeschichte, in: Zeitgeschichte-online, Juni 2023, https://zeitgeschichte-online.de/themen/queere-zeitgeschichte (31.08.2024); Craig Griffiths, The Ambivalence of Gay Liberation. Male Homosexual Politics in 1970s West Germany, Oxford 2021; Benno Gammerl, anders fühlen. Schwules und lesbisches Leben in der Bundesrepublik. Eine Emotionsgeschichte, München 2021. Darüber hinaus existiert seit 2022 das DFG- Netzwerk Queere Zeitgeschichten im deutschsprachigen Raum: https://www.queere-zeitgeschichten.net/ (12.09.2024). Von drei vom Netzwerk geplanten Handbüchern zum Thema ist bereits das erste erschienen: Andrea Rottmann / Martin Lücke / Benno Gammerl (Hrsg.), Handbuch Queere Zeitgeschichten I. Räume, Bielefeld 2023.
2 Andrea Rottmann, Queer Lives Across the Wall. Desire and Danger in Divided Berlin, 1945–1970, Toronto 2023; Samuel Clowes Huneke. States of Liberation. Gay Men between Dictatorship and Democracy in Cold War Germany, Toronto 2022.
3 Hierzu forscht zurzeit Maria Bühner im Rahmen ihres Dissertationsprojektes. Bisher sind schon einzelne Ergebnisse ihrer Forschung erschienen. Vgl. Maria Bühner, „Lesbe, Lesbe, Lesbe. Ein Wort mit Kampfpotenzial, mit Stachel, mit Courage“ – Lesbisches Leben in der DDR zwischen Unsichtbarkeit und Bewegung, in: Georg Teichert (Hrsg.), L(i)eben im Verborgenen, Leipzig 2019, S. 119–128.
4 Pädosexualität und insbesondere die Übernahme von Forderungen von pädosexuellen Aktivisten war ein entscheidendes Thema innerhalb der westdeutschen Schwulenbewegung. Vgl. hierzu: Magdalena Beljan, Rosa Zeiten? Eine Geschichte der Subjektivierung männlicher Homosexualitäten in den 1970er und 1980er Jahren der BRD, Bielefeld 2021, S. 123–172. Mittlerweile findet unter anderem durch das Schwule Museum eine Aufarbeitung dieser Verschränkungen statt. Vgl. hierzu Birgit Bosold, Pädokomplex. Die Sexualisierung von Gewalt und die Gewalt der Sexualisierung. Schwule, Lesben und die ‚Pädo-Frage‘, in: Tino Heim / Dominik Scharge (Hrsg.), Sexualtechnische Konsumobjekte und Metamorphosen moderner Sexualitäten. Praktiken, Beziehungsformen, Sozialverhältnisse, Wiesbaden 2023, S. 477–506.