H. Uerlings u.a. (Hrsg.): 'Zigeuner' und Nation

Title
'Zigeuner' und Nation. Repräsentation - Inklusion - Exklusion


Editor(s)
Uerlings, Herbert; Patrut, Iulia-Karin
Published
Frankfurt am Main 2008: Peter Lang/Frankfurt am Main
Extent
711 S.
Price
€ 58,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Markus End, Zentrum für Antisemitismusforschung

Für die kritische Analyse von ‚Zigeuner‘-Bildern sind – speziell in Deutschland – schon seit Mitte der 1990er-Jahre die Literaturwissenschaften eine treibende Kraft. Dies wird in vielen der Beiträge dieses Bandes, insbesondere in denen der Mitglieder des herausgebenden Sonderforschungsbereichs 600, noch einmal deutlich. Die besondere Stärke des Bandes liegt darin, dass die untersuchten literarischen Kompositionen immer in Rückbindung zu anderen gesellschaftlichen Teilbereichen als soziale Äußerungen verstanden werden, die es auch in ihrer sozialen Bedeutung zu untersuchen gilt. Durch diese Prämisse und die interdisziplinäre Herangehensweise ist der Band auch aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive interessant. Im Folgenden seien einige Schlaglichter auf die methodisch, thematisch und sogar hinsichtlich ihrer Länge sehr heterogenen 22 Beiträge des äußerst umfangreichen Bandes geworfen.

In ihrem innovativen Beitrag untersuchen Andrea Geier und die Mitherausgeberin des Bandes Iulia-Karin Patrut „Vorstellungsbilder von Juden und ‚Zigeunern‘“ (S. 166) bei Richard Wagner und Franz Liszt. Ihre Analyse kommt zu dem Ergebnis, dass im Rahmen der deutschen Identitätskonstruktion „Juden und ‚Zigeuner‘ durch die Merkmale der ‚Heimatlosigkeit‘ und Nicht-Zugehörigkeit zu einer Nation in eine Position des Dritten gerückt“ (S. 166) werden. Ihnen werden jedoch „unterschiedliche Rollen zugewiesen: Juden werden bei beiden Autoren zu einem Typus, an dem sich eine (ausschließlich negative) korrupt-käufliche und bis zur Dekadenz über-zivilisierte Gesellschaft kritisieren lässt“ (S. 166f.) während „die ‚Zigeuner‘ durch ihre angebliche ‚Primitivität‘ und kindliche Entwicklungsstufe aus der komplexen gegenwärtigen deutschen Gesellschaft ausgeschlossen“ (S. 167) werden. Das ‚Eigene‘ platziere sich „zwischen ‚Natur‘ und ‚Überzivilisation‘“ (S. 161, FN 25). Durch seine präzise Analyse der Quellen und seinen Rückbezug auf Theorien der Vorurteilsforschung stellt dieser Beitrag einen neuen Maßstab für die bereits seit längerem schwelende Diskussion zum Verhältnis von Antiziganismus und Antisemitismus dar.

Im Eröffnungsbeitrag untersucht Herbert Uerlings den Film Tiefland von Leni Riefenstahl und das Theaterstück Stecken, Stab und Stangl von Elfriede Jelinek. Für Tiefland kann er überzeugend darlegen, dass die Besetzung der Hauptrolle – einer ‚Zigeunerin‘ – mit Riefenstahl selbst nicht als heimliche Opposition gegen den nationalsozialistischen Rassegedanken interpretiert werden kann. Vielmehr vollziehe sich im Film die „Schließung einer egalitären Volksgemeinschaft“ (S. 97) symbolisch durch die Liebesbeziehung zwischen den beiden Hauptfiguren. Die als ‚Zigeuner‘ Markierten werden trotzdem ausgelöscht: „Im Tiefland-Komplex sterben die Zigeuner-Figuren im Film einen symbolischen und die allermeisten Sinti- und Roma-Komparsen außerhalb des Films einen realen Tod“ (S. 127).

In Thomas Huonkers Beitrag fällt hin und wieder ein zu schneller Schluss von Fremd- auf Selbstbezeichnung oder gar Identität auf: „Dieselben Verfolgungsstrategien richteten sich nicht nur gegen die ‚Zeginer‘ und ‚Heiden‘, also Sinti und Roma, sondern auch gegen andere nicht sesshafte Gruppen, die unter Begriffen wie ‚herrenloses Gesindel‘ oder herumstrolchende Landstreicher‘ befasst wurden“ (S. 312). Ob diese Identität zwischen „‚Heiden‘“ und „Sinti und Roma“ besteht, ist zumindest untersuchungsbedürftig.

Vor die Lösung des Dilemmas, dass die historischen Quellen notwendigerweise die Fremdbezeichnung transportieren, diese aber gleichzeitig vermieden werden soll, sehen sich freilich alle gestellt, die zu diesem Thema arbeiten. Die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes gehen unterschiedlich damit um: Während Uerlings beispielsweise das Wort „Zigeuner“ bei der ersten Verwendung in einfache Anführungszeichen setzt und dann in einer Fußnote auf den Charakter als diskriminierende Fremdbezeichnung hinweist, die aber als Quellenbegriff weiterhin notwendig sei und in der Folge ohne Anführungszeichen verwendet wird (vgl. S. 11f., 67 und 632) weist George Guţu zwar auf die Fremdbezeichnung hin und verwendet sie – mit einigen Ausnahmen (vgl. S. 438, 440) – in einfachen Anführungszeichen, jedoch nicht nur für literarische Figuren, sondern zur Bezeichnung für eine bestimmte Gruppe von Menschen (vgl. S. 424, 430 und 443). Geier und Patrut wiederum verwenden „Zigeuner“ zwar ausschließlich in einfachen Anführungszeichen und verweisen auf den Konstruktionscharakter (S. 151), müssen sich jedoch fragen lassen, wieso die ebenfalls analysierten „Juden“ ohne Anführungszeichen geschrieben werden, handelt es sich doch beim Untersuchungsgegenstand, den ‚Juden‘-Beschreibungen Wagners, ebenso um Konstrukte, die mit leibhaftigen Jüdinnen und Juden nichts zu tun haben. Insgesamt hätte eine längere Diskussion der Bezeichnungsproblematik in der Einleitung dem Band gut getan und eventuell hätte dadurch auch eine einheitlichere Verwendungsweise gesichert werden können.

Marian Zăloagă untersucht in Die ‚Zigeunerin‘ als ‚Hexe‘ das Verhältnis der beiden Konstruktionen zueinander. Leider wechselt er dabei mehrmals zwischen den Untersuchungsebenen: Während er zuerst das Konstrukt der ‚Hexe‘ beschreibt, folgert er dann: „Der Begriff ‚Zigeunerin‘ konnte diesen abwertenden Konnotationen nicht entkommen. Die Ausübung verschiedener Praktiken der Wahrsagerei, Handlesekunst, Schutzzauber für Tiere und Menschen und die Kommerzialisierung von Amuletten trug zusätzlich zu ihrer Stigmatisierung bei“ (S. 557). Geht es im ersten Satz um den Begriff, sind im zweiten konkrete Handlungen von als ‚Zigeunerinnen‘ stigmatisierten Menschen gemeint, die er mit einem Verweis auf den Ethnologen Heinrich von Wlislocki belegt (vgl. S. 557, FN 19). Diesem weist beispielsweise Simina Melwisch-Birăescu in ihrer materialreichen Untersuchung des „‚Wissensfluss[es]‘“ (S. 399) zwischen verschiedenen deutschen und rumänischen Autoren im gleichen Band mittels zahlreicher Quellenbelege „Exotismus“ nach (S. 397ff.). Nichtsdestotrotz greift Zăloagă mit seinem Beitrag ein lange vernachlässigtes Thema auf. Insbesondere sei auf seine scharfsinnigen Ausführungen zum Verhältnis von ‚Weiblichkeit‘ und ‚Zigeunerin‘ (S. 555ff.) hingewiesen, ein Topos, der erfreulicherweise auch von Stefani Kugler (S. 583f.), Uerlings/Ramona Mechthilde Treinen (S. 663-667, 688), George Guţu (S. 438) und Peter Bell/Dirk Suckow (S. 502, 537) beleuchtet wird.

Der Beitrag von Anna-Lena Sälzer beschäftigt sich mit den Anfang des 20. Jahrhunderts sich überkreuzenden Diskursen über ‚Zigeuner‘, ‚Asoziale‘, ‚Boheme‘ und ‚Entartung‘ in kriminalanthropologischen, rassenhygienischen, literarischen und psychiatrischen Quellen sowie in der Literatur von Künstlerinnen und Künstlern, die sich selbst zur Boheme zählten. Nach dieser innovativen tour de force durch ein bisher kaum bearbeitetes Gebiet (leider hat Sälzer die kurz zuvor erschienenen Ausführungen Michael Zimmermanns zu „Grossstadtzigeunern“ 1, an die sie gut hätte anschließen können, nicht mehr berücksichtigt) kommt sie zu folgendem Schluss: „Die zentrale Erweiterung, die der ‚Zigeuner‘-Diskurs seit 1900 nicht zuletzt durch Künstler-Diskurse erfahren hatte, bestand in der Verknüpfung von ‚zigeunerischer‘ Lebens- und Denkweise, ‚moralischem Schwachsinn‘ (bei Ritter dann ‚getarntem Schwachsinn‘), Ichsucht sowie der Drohkulisse einer zunächst ‚kulturellen‘, später ‚rassischen‘ ‚Entartung‘ und degenerativen gesellschaftlichen Bedrohung und der Zusammenfassung dieses Konglomerats unter dem Schlagwort ‚asozial‘“ (S. 229).

Der ganze Sammelband ist offensichtlich mit dem äußerst lobenswerten und hoch gesteckten Ziel angetreten, das Uerlings und Treinen für ihren Beitrag2 formuliert haben: „Angesichts dieses eindeutigen Befundes kann es im Folgenden nicht darum gehen, zum wiederholten Male nachzuweisen, dass die Repräsentation der Zigeuner in Werken kollektiven Wissens stigmatisierend ist, und die Stereotype noch einmal aufzulisten. Ziel des Beitrages ist es vielmehr aufzuzeigen, wie sich die Stigmatisierung durch lexikalische Repräsentation vollzieht“ (S. 633, Hervorhebungen im Original). Dieser Anspruch ist – bei aller Kritik im Detail – beinahe durchweg erfüllt worden, womit dieser Band den richtigen Weg gegangen ist und sich deutlich von den meisten bisher erschienen Publikationen in diesem Forschungsfeld absetzen kann. Diese Untersuchung des „Wie“, statt nur des „Dass“ macht, zusammen mit der durchweg praktizierten Interdisziplinarität, dem häufigen Vergleich mit anderen Ressentimentstrukturen – wie zum Beispiel dem ‚Juden‘-, ‚Hexen‘- und ‚Boheme‘-Diskurs – und der ständigen Rückbindung an den jeweiligen historischen, sozialen und ideengeschichtlichen Kontext, die große Stärke dieses Bandes aus und sorgt auch für den inneren Zusammenhang der Beiträge, die thematisch die unterschiedlichsten Ausrichtungen aufweisen.

Anmerkungen:
1 Michael Zimmermann, Zigeunerpolitik und Zigeunerdiskurse im Europa des 20. Jahrhunderts, in: ders. (Hrsg.): Zwischen Erziehung und Vernichtung. Zigeunerpolitik und Zigeunerforschung im Europa des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2007, S. 13-70, hier S. 51-57.
2 Auch für diesen Beitrag muss am Rande moniert werden, dass es wünschenswert gewesen wäre, den Artikel von Berthold P. Bartel zum fast exakt gleichen Thema noch kurzfristig zu rezipieren Siehe Berhold P. Bartel, Der lange Umweg zum Subjekt. Das Lemma Zigeuner in den jüngsten Auflagen des Brockhaus, in: Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur. H. 3, 2007, S. 266-282.

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