C. Brüll: Belgien im Nachkriegsdeutschland

Titel
Belgien im Nachkriegsdeutschland. Besatzung, Annäherung, Ausgleich 1944–1958


Autor(en)
Brüll, Christoph
Erschienen
Anzahl Seiten
437 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Koll, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Wirtschaftsuniversität Wien

Während das bilaterale Verhältnis zwischen den westdeutschen Besatzungszonen bzw. der jungen Bundesrepublik auf der einen und Frankreich, Großbritannien, Polen, den Niederlanden oder den USA auf der anderen Seite relativ gut erforscht ist, sind die belgisch-deutschen Beziehungen ab 1945 bisher lediglich unter kulturpolitischen Gesichtspunkten untersucht worden.1 Eine darüber hinausgehende Analyse der belgischen Deutschlandpolitik ist lange ein Desiderat gewesen. Dies ist umso erstaunlicher, als Belgien und Westdeutschland füreinander nicht nur unmittelbar angrenzende, sondern stets auch wichtige Nachbarländer gewesen sind. Es ist Christoph Brülls Verdienst, dieses Defizit mit seiner von Norbert Frei betreuten Dissertation für die Jahre zwischen Kriegsende und Ratifizierung des deutsch-belgischen Ausgleichsvertrags im August 1958 ebenso fundiert wie umfassend beseitigt zu haben.

Brüll behandelt ein erfreulich breites Spektrum an Aspekten und Akteuren, die für sein Thema relevant sind. Neben den belgischen Streitkräften, die letztlich bis 2005 in Deutschland stationiert waren, untersucht er für beide Seiten der Grenze Einstellungen und Handlungen von Regierungen, Parlamenten, politischen Parteien und gesellschaftlichen Organisationen, Publizistik und betroffener Grenzbevölkerung. Im Hinblick auf den Prozess politischer Entscheidungsfindung kommt er allerdings auch zu dem Ergebnis, dass Außenpolitik in seinem Untersuchungszeitraum in den Westzonen bzw. der Bundesrepublik ebenso wie in Belgien in hohem Maße eine Angelegenheit der Exekutive war. „Zivilgesellschaftliche Beiträge waren im deutsch-belgischen Annäherungsprozess kaum zu verzeichnen“, die gesellschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern waren eher durch „Indifferenz und fast schon ostentatives Desinteresse“ gekennzeichnet (S. 390).

Im ersten Teil seiner Studie beschäftigt sich Brüll mit der Präsenz der belgischen Soldaten im Rheinland und in Westfalen, mit der Errichtung einer belgischen Unterbesatzungszone im Rahmen der britischen Besatzungszone, mit der Reparationsfrage und mit der hochgradig umstrittenen Festlegung der deutsch-belgischen Grenze, die nicht nur zwischen den beiden Ländern, sondern auch innerhalb Belgiens kontrovers diskutiert wurde. Der Beitritt Belgiens zum Brüsseler Pakt sowie die Teilnahme des Landes an der Londoner Sechsmächtekonferenz und an den beiden Pariser Konferenzen (1948/49) werden im Hinblick auf die belgische Deutschlandpolitik analysiert. Eines der wichtigsten Ereignisse in diesem Zusammenhang war sicherlich die Entscheidung des belgischen Ministerrats vom April 1949, auf einen Großteil der bis dahin erhobenen Annexionsforderungen zu verzichten. Zur Begründung verweist Brüll vor allem auf wirtschaftliche Motive. Doch für diese Entscheidung dürfte angesichts der bevorstehenden Gründung der Bundesrepublik Deutschland auch die Hoffnung auf den Aufbau eines gutnachbarschaftlichen Verhältnisses ausschlaggebend gewesen sein; der Verzicht auf die Inkorporierung deutschen Territoriums sollte in Westdeutschland ebenso wie bei den westlichen Verbündeten vermutlich als eine Geste des guten Willens wahrgenommen werden. Dieser Beschluss unterschied Belgien jedenfalls von den Niederlanden, wo Regierung und weite Teile der Öffentlichkeit auf der Angliederung beachtlich großer deutscher Gebiete bestanden. Von einem einheitlichen Benelux-Standpunkt kann vor diesem Hintergrund kaum die Rede sein.

Im zweiten Teil behandelt Brüll unter der Überschrift „Die ‚Europäisierung‘ der deutsch-belgischen Beziehungen“ Belgiens Platz im neuen Besatzungsstatut nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, die Bedeutung der Planung bzw. Gründung von europäischen Institutionen wie dem Europarat, der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der Europäischen Politischen Gemeinschaft oder der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft für die belgische Deutschlandpolitik, die Diskussionen um eine westdeutsche Wiederbewaffnung sowie die mühsamen Grenzverhandlungen, die 1956 zum Abschluss des Ausgleichsvertrags führten. Auch die relativ späte Lockerung des Verbots einer „Fraternisierung“ belgischer Soldaten mit der deutschen Bevölkerung und der Eheschließung mit deutschen Frauen werden hier thematisiert. Besondere Erwähnung verdient der kaum bekannte Plan, den der belgische Außenminister Paul van Zeeland im Herbst 1953 im Kontext der Verhandlungen zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft vorlegte. Er zielte auf einen Abzug der alliierten Truppen aus Ost- und Westdeutschland sowie auf eine deutsche Wiedervereinigung „nicht durch Fusion, sondern durch Akzession der Ostzone zur Bundesrepublik“ (zit. nach S. 339). Dieser Plan stieß zwar auf weitverbreitete Ablehnung und wurde bekanntlich nicht umgesetzt, war aber ein auffallender Beitrag zur Geschichte der deutsch-belgischen Beziehungen.

Dass der Ausgleich zwischen der Bundesrepublik und Belgien trotz aller Haken und Ösen weitestgehend friedlich erreicht werden konnte, führt Brüll in hohem Maße auf den politischen Weitblick und das unermüdliche Engagement des sozialistischen Außenministers und mehrmaligen Premierministers Paul-Henri Spaak zurück, mit dem Konrad Adenauer besser zurechtkam als mit dessen christdemokratischem Kollegen van Zeeland. Letztlich vermochte sich Spaak im eigenen Land wie auch auf internationalen Konferenzen mit einer Politik durchzusetzen, die den Verzicht auf eine eigene Besatzungszone, auf eine belgische Militärregierung in Deutschland und auf umfangreiche Reparationen ebenso implizierte wie die Bereitschaft, den westdeutschen Staat in eine gemeinsame europäische Wirtschafts- und Sicherheitsstruktur einzubinden. Mit dem bewussten Verzicht auf jeglichen Revanche-Gedanken wurde es denn auch möglich, dem deutsch-belgischen Verhältnis jene Spannungen zu nehmen, die in der Zwischenkriegszeit geradezu konstitutiv gewesen waren. Die Krönung von Spaaks Annäherungspolitik an die Bundesrepublik stellte zweifellos der Ausgleichsvertrag von 1956 dar, der als eine Generalbereinigung der bilateralen Beziehungen konzipiert war. Durch ihn wurden zwar die meisten strittigen Themen beigelegt. Doch ein Protokoll zum genauen Grenzverlauf konnte erst im September 1960 unterzeichnet werden, und die Entschädigung der belgischen Opfer der NS-Herrschaft war einer separaten Regelung vorbehalten. Lange Zeit ungelöst blieb das Problem der Soldaten aus den belgischen Ostkantonen, die während des Zweiten Weltkriegs zwangsweise in die Wehrmacht einberufen worden waren. Dennoch kam dem Ausgleichsvertrag eine zentrale Bedeutung zu. Deshalb wäre es wünschenswert gewesen, wenn neben der detaillierten Darstellung des langwierigen und ausgesprochen komplizierten Verhandlungsprozesses auch die wichtigsten Punkte dieses Vertragswerks referiert worden wären. Immerhin geht aus der ausklappbaren Karte (S. 371f.) die Regelung des Grenzverlaufs hervor. Sie zeigt, „dass die neue Grenzziehung der alten weitestgehend entsprach“ (S. 382).

Ingesamt hat Christoph Brüll für die ersten Nachkriegsjahre auf einer breiten Quellenbasis eine überzeugende Gesamtdarstellung der deutsch-belgischen Beziehungen geliefert. Auch wenn er seiner Studie im Kern eine bilaterale Perspektive zugrundelegt, berücksichtigt er jene multilateralen Aspekte, in die die deutsch-belgischen Beziehungen unvermeidlich eingebettet waren. Dazu zählen etwa die (nicht immer konfliktfreien) Beziehungen zwischen Belgien und Großbritannien, die Anfänge des europäischen Integrationsprozesses sowie die Rahmenbedingungen, die durch den Kalten Krieg definiert wurden. Auch spezifische innenpolitische Entwicklungen wie der flämisch-wallonische Dualismus und die so genannte Königsfrage in Belgien oder das bundesdeutsche Streben nach staatlicher Souveränität und Gleichberechtigung in der internationalen Politik finden in Brülls Studie gebührende Berücksichtigung.

Für die Drucklegung des Buches hätte man sich etwas größere Sorgfalt gewünscht. Das Abkürzungs- wie auch das Personenverzeichnis weisen Lücken auf (zum Beispiel SHAEF, RVP, George Erskine, Franz Thedieck), und ein aufmerksameres Lektorat hätte zur Vermeidung einiger Druck- oder Rechtschreibfehler beitragen können. Der wissenschaftliche Wert von Brülls Doktorarbeit bleibt davon jedoch unberührt. Sie stellt nicht nur einen interessanten Beitrag zur belgischen Geschichte dar, sondern ist auch für die deutsche Nachkriegsgeschichte und die Geschichte der internationalen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg ein wichtiges Referenzwerk.

Anmerkung:
1 Carlo Lejeune, Die deutsch-belgischen Kulturbeziehungen 1925–1980. Wege zur europäischen Integration?, Köln 1992.