"Nation" und "Religion" können einander gegenläufige Identitätsmuster oder Diskurse sein; sie können sich aber auch bestätigen, etwa dann wenn eine Religion eine Aufwertung erfährt, indem sie zur Staatsreligion erhoben wird, bzw. wenn ein Nationsgefühl durch das Gemeinschaftsgefühl einer bestimmten Konfession unterstützt wird. Die in Freiburg (Schweiz) lehrende Historikerin Franziska Metzger hat sich in ihrer Dissertation der Verschränkung von nationalen und konfessionellen Identitäten am Beispiel der katholischen Geschichtsschreibung in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert gewidmet. Dabei geht sie davon aus, dass das Verhältnis von Religion, Geschichte und Nation einen Diskurskomplex begründete, über den sich der schweizerische Katholizismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts definierte und „als Kommunikationsgemeinschaft“ konstituierte. Wichtigste Mechanismen dieser Konstitution seien die „Historisierung und Sakralisierung“ gewesen. „Als diskursive Mechanismen, durch die Geschichtsdiskurse kommunikativ umgesetzt wurden, bestimmten sie […] wesentlich das Verhältnis von Religion, Geschichte und Nation“ (S. 15f.).
Als Quellengrundlage, um diese Historisierung und Sakralisierung von Geschichte aufzuzeigen, dienen der Autorin einschlägige Lexika und Übersichtswerke zur schweizerischen Nationalgeschichte und Kirchengeschichte aus der Feder katholischer Autoren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Berücksichtigung finden aber auch Quellen zu national-liberalen und national-protestantischen Geschichtsauffassungen in der Schweiz, gegenüber denen sich der Katholizismus abgrenzte oder mit denen er Gemeinsamkeiten teilen konnte. Denn die katholische Kommunikationsgemeinschaft, so Metzger, konkurrierte nicht nur mit der nationalen, sondern überschnitt sich teilweise mit ihr. „Die Katholiken partizipierten teilweise am dominierenden nationalen Diskurs, transformierten und konfessionalisierten andererseits nationale Diskurse, während sie religiöse Diskurse nationalisierten“ (S. 29).
Leitend für ihre Arbeit sind fünf Thesen: Erstens sei für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl in der allgemeinen katholischen als auch in der Kirchengeschichtsschreibung eine „Homogenisierung und Ultramontanisierung des Geschichtsverständnisses und geschichtskonzeptioneller Diskurse“ feststellbar. Zweitens habe die „geschichtstheoretische Fundierung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie sie – mit diskursiven Kontinuitäten zu den vorausgehenden Jahrzehnten – zunehmend festgeschrieben wurde, jene katholischen Eliten, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sozialisiert wurden“, geprägt. Drittens habe der Begriff der Kirchengeschichte den „selbstreflexiven Diskurs der katholischen Geschichtsschreibung“ wesentlich bestimmt. Für das Verhältnis zwischen Religion und Kultur geht Metzger viertens von der Annahme aus, dass Religion nicht als Kultur betrachtet wurde, sondern „Kultur als Religion, als Ausdruck von Religion“. Schließlich – und dies ist die These, der die Verfasserin in ihrer Abhandlung die intensivste Aufmerksamkeit widmet – stehe die Verbindung von Religion und Geschichte mit einem spezifischen Wahrheitsbegriff in engem Zusammenhang: „Wahrheitsdiskurse bestimmen die Struktur von Wissenschaftlichkeitsdiskursen. Sie lagen, so eine fünfte These, dem Komplex von Metanarrativen zugrunde, die den selbstreflexiven Diskurs der katholischen Geschichtsschreibung und Kirchengeschichtsschreibung bestimmten“ (S. 47-49).
Metzger hat ihre Untersuchung in sechs Kapitel unterteilt. In einem ersten beschreibt sie ihren Untersuchungsgegenstand und stellt ihre Thesen auf. Teil II ist der Begründung des kommunkationstheoretischen Ansatzes gewidmet, mit dem die Autorin arbeitet. Das dritte Kapitel verortet die für Metzger wichtige Kategorie der Kommunikation gegenüber verwandten Erklärungsbegriffen wie Diskurs, Gedächtnis, Wissen oder Selbstreflexion, um ein Analyseraster zu schaffen. Die konkrete Analyse des Verhältnisses von Religion, Nation und Geschichte geschieht in den Kapiteln vier und fünf: Auf die Beschreibung katholischer Geschichts- und Kirchengeschichtsschreibung folgt die Untersuchung von „Überlagerungen und Amalgamierungen“ religiöser und nationaler Diskursfelder. Ein Abschlusskapitel reflektiert noch einmal den theoretischen Ansatz mit Blick auf die Möglichkeiten, die er für die vorangegangene Analyse ergeben hatte.
Mit Metzgers Arbeit könnten möglicherweise all jene ein Problem haben, die sich eine umfängliche traditionelle Untersuchung des Verhältnisses von Staat und katholischer Kirche bzw. eine Darstellung der Haltung versprochen hatten, die der schweizerische Katholizismus zur Nation einnimmt. Die Analyse der katholischen Geschichtsschreibung, die die genannten fünf Thesen bestätigt, füllt nur etwa ein Viertel der Seiten in Metzgers Studie und ist damit knapp halb so lang wie die Methodenkapitel zusammen. Die Autorin nutzt vielmehr ihren Gegenstand, um modellhaft einen geschichtstheoretischen Zugriff zu entfalten. Ziel ist es, mit diesem Zugriff eine universellere Betrachtung zu ermöglichen, die etwa die Trennung von Gedächtnis, Erinnerung und Geschichte, zwischen Begriff und sozialem Begriffskontext oder zwischen katholischer Wissenschaft und Lebenswelt überwindet. „Eine kommunikationstheoretische Perspektive richtet den Blick auf die abstrakte Vergemeinschaftung moderner Gesellschaften und deren komplexe identitätskonstituierende Mechanismen. Kommunikation definiert sich so durch die Wechselwirkung von Gesellschaftsstrukturen und Semantiken, von Diskurs- und Handlungsebene“ (S. 23).
Als „zentralen Metadiskurs“ der katholischen Geschichtsschreibung (S. 331) macht Metzger die „Überlagerung von Wahrheitsdiskursen“ aus. Die Autorin trennt drei Wahrheitsdiskurse: Der erste konstruiere Wahrheit im Sinn der absoluten Wahrheit, indem Glaubenswahrheiten in die Geschichtsschreibung übertragen werden; der zweite, ebenfalls ahistorisch argumentierende Diskurs benutze Wahrheit zur Deutung und Legitimation der katholischen Kirche und diene vor allem als Gegenentwurf zu einer spezifisch national-liberalen und protestantischen Wahrheit; der dritte Wahrheitsdiskurs sei ein „in der als objektiv bezeichneten historischen Methodik verankerter Wahrheitsdiskurs“ (S. 253). Anders als häufig behauptet, hätten katholische Historiker also nicht die Arbeit mit den Quellen abgelehnt, sondern sie „integrierten diese als zentralen Bestandteil des methodologischen Wahrheitsdiskurses in das katholische Geschichtsverständnis“ (S. 50).
Metzgers Arbeit präsentiert ein hochkomplexes Analysemodell, das eines äußerst konzentrierten Lesers bedarf, was nicht zuletzt auch eine Folge der theoretisch komplexen Sprache ist, derer sich die Autorin bedient. Wer sich aber intensiv mit dem Modell auseinandersetzt, wird dafür belohnt, denn Metzger stellt nicht nur etwas Eigenes vor, sondern diskutiert - wie erwähnt - intensiv andere Erklärungsmodelle von der Diskurstheorie über die Wissenssoziologie bis zum Gedächtnis-/Erinnerungsansatz, so dass der Leser auch vieles über die Leistungen und Grenzen dieser Modelle erfahren kann.