Ein Zitat aus dem Fazit der vorliegenden Geschichte der Basler Jüdinnen und Juden in den 1930er- bis 1950er-Jahren umreißt den Rahmen von Noëmi Sibolds Abhandlung treffend: „In der Kriegszeit trat das Dilemma zwischen ,loyalem Staatsbürger‘ und ,solidarischem Glaubensgenossen‘ in einer neuen Dimension auf: die Zugehörigkeit zur Schweiz wurde zur Überlebensfrage, während der Anspruch an eine jüdische Solidarität noch nie so gross war“ (S. 319). Schweizer jüdische Gemeinden und Verbände waren vom Holocaust selbstverständlich auf andere Weise betroffen als jene in nationalsozialistisch regierten, besetzten oder mit NS-Deutschland kollaborierenden Ländern. Sie verfügten über Handlungsoptionen, die jedoch durch die restriktive Politik der eidgenössischen und kantonalen Fremdenpolizei stark limitiert waren, wobei sie zusätzlich die Last der Flüchtlingsversorgung alleine zu tragen hatten und Hilfen von Außenstehenden im vergleichsweise weniger judenfeindlichen Basel stets großem Verhandlungsgeschick bedurften. ‚Bewegte Zeiten‘ hat demgemäß einen unterschiedlichen Fokus als die zahlreichen Forschungen zur Lage jüdischer Gemeinden und Individuen in anderen Teilen Europas vor, nach und während des Holocaust.
Die gegenständliche Studie, die auf eine geschichtswissenschaftliche Dissertation an der Universität Basel zurückgeht, entstand im Rahmen des Forschungsprojektes ‚Jüdisches Leben Basel im 19. und 20. Jahrhundert: Migration – Religionsgemeinde – Minderheit‘. Während also der mikrohistorische Blick auf Basel und die dort lebenden Jüdinnen und Juden durch das Projekt vorgegeben war, kommt die von Sibold gewählte Epochenbegrenzung, nämlich die Phase der nationalsozialistischen Machtergreifung in Deutschland, des Holocaust und der unmittelbaren Nachkriegsjahre mit der Gründung des Staates Israel, als zwingendes Moment hinzu. Die Autorin begegnet dieser Herausforderung, indem sie sowohl die äußere (Nationalsozialismus) und innere (Schweizer Antisemitismus) Bedrohungslage als auch divergierende Gegenstrategien bespricht. Letztere reichten von pragmatischer Anpassung an immer striktere Behördenvorgaben bis zur Förderung der zionistisch motivierten Auswanderung nach Palästina und später Israel. Sibolds Geschichte der Jüdinnen und Juden in Basel umfasst den Personenkreis der seit Generationen ansässigen jüdischen Familien ebenso wie die aus Osteuropa in der Zwischenkriegszeit Zugewanderten und Emigranten/innen, die vor der NS-Verfolgung in die Schweiz flüchteten. Kontroversen innerhalb und zwischen diesen Gruppen wird gleichfalls anhand von Materialien aus jüdischen und allgemeinen Archiven, Privatnachlässen und Zeitungen sowie auf Basis ausgewählter Interviews nachgegangen. Die Quellenlage bedingt eine gewisse Konzentration auf die Israelitische Gemeinde Basel (IGB), ihre Funktionäre und offizielle Korrespondenzen, wohingegen familiäre Lebensgeschichten nur in geringerem Ausmaß beleuchtet werden.
Das Verhältnis zwischen nichtjüdischen und jüdischen Schweizerinnen und Schweizern versucht Sibold mit dem Begriff der Akkulturation zu fassen. Darunter „wird ein Prozess der Aneignung beziehungsweise Mitgestaltung der ‚Mehrheitskultur‘ bei gleichzeitiger Selbstbewahrung der Minderheit verstanden“ (S. 17, 18). Wie bereits angedeutet, war die Bedrohungslage für in Basel lebende Juden in den besagten Jahrzehnten mehrschichtig. Den schweizerischen Antisemitismus charakterisiert Sibold als diskret. In Abgrenzung zu Deutschland konnte sich in der Schweiz rassistischer Judenhass als systematisch angewendetes Politikmittel nicht durchsetzen. Trotzdem waren wirtschaftlich motivierte Judenfeindschaft und eine Vermengung xenophober und antisemitischer Ressentiments gegenüber jüdischen Emigranten verbreitet. Groteskerweise wurde die „fremden- und judenfeindliche Politik in der Schweiz als angebliche Abwehr des Antisemitismus ausgegeben“ (S. 37), um die eigene jüdische Bevölkerung vor dem Anwachsen von Judeophobie in der Schweizer Mehrheitsgesellschaft zu schützen. Im Umgang mit jüdischen Flüchtlingen während des Holocaust konkretisierte sich diese Form des Antisemitismus doppelt. Die Schweizer Behörden betrieben eine extrem restriktive Flüchtlingspolitik (so waren Juden gegenüber politisch Verfolgten schlechter gestellt), betrachteten die Schweiz ohnehin nur als Transitland und lagerten die gesamte Verantwortung und materielle Last der Flüchtlingsbetreuung kurzerhand an den Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund sowie die lokalen jüdischen Gemeinden und Hilfswerke aus. Eine zwiespältige Rolle spielte die Universität Basel, die bereits in der Zwischenkriegszeit einen relativ hohen Anteil ausländischer jüdischer Studierender aufwies. Hohem persönlichem Engagement des Rektors zur Einstellung geflüchteter Dozenten und zur Studienfortführung vertriebener Studierender standen antisemitisch-fremdenfeindliche Zugangsquoten an den medizinischen und rechtswissenschaftlichen Fakultäten gegenüber.
Gebührende Aufmerksamkeit schenkt Sibolds Untersuchung den jeweiligen Anpassungs- und Abwehrstrategien von Seiten der IGB sowie anderer jüdischer Vereine. Ein Weg zur vermeintlichen Besänftigung der nichtjüdischen Umwelt war die innere Disziplinierung der Gemeindemitglieder. Im Jahre 1929 wurde ein eigenes Jugendheim von der IGB mitfinanziert, „weil die Repräsentanten der jüdischen Abwehr die ausländischen jüdischen Studierenden aus dem Lesesaal der Universität beziehungsweise die jüdische Jugend im Allgemeinen aus dem öffentlichen Raum weghaben wollten“ (S. 164). Bezeichnenderweise musste das Jugendheim nach sechs Jahren aufgrund von despektierlichen Beschwerden des Hausbesitzers wegen angeblicher Lärmbelästigung wieder schließen. Ein anderes Feld der Abwehr betraf juristisches Vorgehen. So wurden Anfang der 1930er-Jahre in Bern und Basel Prozesse gegen die Verbreitung der sogenannten Protokolle der Weisen von Zion angestrengt. Doch die Anwendung juristischer Mittel richtete sich auch nach innen. „Die Strategie des Nichtauffallens wurde mit der Etablierung eines internen Schiedsgerichtes im Jahr 1937 institutionalisiert.“ (S. 92) Ein anderer illustrativer Fall von Anpassung in Zeiten politischer Bedrohung war die überproportional hohe Beteiligung jüdischer Jugendlicher am sogenannten Mehranbau während des Zweiten Weltkriegs. Sibold erklärt dies mit der „noch nicht lange zurückliegenden Emanzipation [der jüdischen Bevölkerung der Schweiz] sowie antijüdischen Stereotypen vom ‚unproduktiven und unloyalen Juden‘“ (S. 176). Kritischer hätte Sibolds Einordnung jüdischer Studentenverbindungen und des Jüdischen Turnvereins ausfallen können, da die Gründung derselben nicht nur eine Abwehrmaßnahme aufgrund der antisemitischen Exklusionsmechanismen in den generell schweizerischen Verbindungen und Turnvereinen war, sondern letztlich auch ein niemals belohnter Versuch, den tendenziell antisemitischen Organisationsformen der Mehrheitsgesellschaft gerecht zu werden.
Die bislang skizzierten Formen der Abwehr waren reaktiver Natur. Der Zionismus, der mit der Stadt Basel aufgrund der dort abgehaltenen Zionistenkongresse symbolisch eng verbunden war, stellte ein Angebot für positive, auch nicht-religiöse Identifikation und politische Selbstbestimmung im Zuge einer Auswanderung in das aufzubauende Gemeinwesen in Palästina und später Israel dar. Die kulturzionistische Spielart erfreute sich unter den Basler Jüdinnen und Juden breiterer Beliebtheit. Dahingegen zog der politische Zionismus primär die jüngere Generation an, die erkennen musste, dass selbst größte Anpassung an die Mehrheitsgesellschaft nicht vor Diskriminierung in der Schweiz und offener Verfolgung anderswo schützen würde. Die Konzepte der sogenannten Berufsumschichtung zu handwerklichen und landwirtschaftlichen Tätigkeiten oder der Betonung körperlicher Stärke von Jüdinnen und Juden bekamen durch den Zionismus den Anstrich der Nützlichkeit für die Schaffung des jüdischen Staates, während sie unter nichtzionistischen Vorzeichen dem Wunsch nach höherer Akzeptanz in der Schweizer Gesellschaft und dem wirtschaftlichen Überleben in der Kriegszeit dienten. Wiewohl der Zionismus nach dem Holocaust und im Zuge der israelischen Staatsgründung auch in der Basler Diaspora wesentlich mehr Zuspruch erhielt, wurde dem links-säkularen Jugendbund HaShomer HaTsair von Seiten der etablierten Gemeinde unter dem Eindruck des aufkeimenden Kalten Krieges vorgeworfen, atheistisch und „moskautreu“ (S. 189) zu sein und, so der Subtext, die Ideale der schweizerischen bürgerlichen Gesellschaft zu verraten. Religiös-zionistische Vereine, die ebenfalls die Auswanderung propagierten, wurden nicht mit derartiger Gegnerschaft konfrontiert.
Noëmi Sibold legt mit ‚Bewegte Zeiten‘ ein in mehrfacher Hinsicht empfehlenswertes Buch vor. So gelingt es ihr auf Basis der vorhandenen Quellen die subjektiven Erfahrungswelten und (beschränkten) Handlungsspielräume der Basler Jüdinnen und Juden von den 1930er- bis 1950er-Jahren sowie das Spannungsfeld zwischen forcierter Anpassung und dem selbstbewussten Beharren auf kultureller Eigenständigkeit nachzuzeichnen. Dabei verliert sie aber die historische Konstellation in der Schweiz und in Europa, zumal während des millionenfachen nationalsozialistischen Mordes an den Jüdinnen und Juden, trotz ihres lokalgeschichtlichen Zuganges, nie aus dem Blick. Zudem bedient sich die Autorin eines erzählenden Stils, der ihre Monografie auch für ein nichtfachwissenschaftliches Publikum zu einer bereichernden Lektüre macht. Allenfalls geben die Länge mancher Zitate, fehlende Erklärungen zu schweizerischen Spezifika und eine gewisse Detailverliebtheit Anlass zu Kritik. Positiv zu vermerken ist schließlich Sibolds Fähigkeit ihren Leserinnen und Lesern unterschiedliche jüdische Lebensentwürfe und Gruppierungen mit großer Sachkenntnis sowie unterstützt durch klug ausgewählte Abbildungen und Fotoaufnahmen näher zu bringen ohne jedoch in folkloristische Beschreibungen zu verfallen.