Das seit den 1970er Jahren verschiedentlich deklarierte „Ende der großen Erzählungen“ hat eine Weltwahrnehmung erschüttert, in der räumliche Differenz auf einer Zeitskala abgebildet wurde: Wer sich im Zentrum dieser Weltwahrnehmung wähnte, sah sich an der Spitze des historischen Fortschritts, die anderen waren wahlweise Barbaren, Wilde oder Angehörige von unterentwickelten Gesellschaften, denen die Erfahrung weiter fortgeschrittener Gesellschaften noch bevorstand. Das fest verankerte Muster zentrischer Geschichtsauffassung legitimierte Unterwerfung, Kolonialisierung, imperiale Herrschaftsphantasien und späterhin eine neue Abhängigkeit produzierende „Entwicklungspolitik“. Es war kein ausschließliches Privileg der Europäer, wie ein bereits ein kursorischer Blick auf das Weltbild im „Reich der Mitte“ belegt. Aber seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde der Eurozentrismus zur dominanten Variante dieser Weltwahrnehmung und zur kulturellen Grundlage einer Phase dramatischer Vorherrschaft über andere Teile des Globus. Daran änderte zunächst auch die Verschiebung der Machtverhältnisse nichts, in deren Verlauf die USA die Führung eines europäisch-atlantisch gedachten Westens übernahmen. Doch das scheinbar eindeutige Bild bekam immer mehr Flecke – vom Wiederaufstieg Japans zum Teile einer Innovationstriade an der Seite Nordamerikas und Westeuropas über den Erfolg der asiatischen Tigerstaaten bis zum jüngsten Hype um die new emerging economies. Das alte Modell von einem Geleitzug, in dem wahlweise der europäische oder nordamerikanische 1. Klasse-Waggon vorn fährt und der Rest sich je nach Entwicklungsstand anschließt, funktioniert nicht mehr – das „Ende der großen Erzählungen“ reflektiert die Verwirrung über das Zerbrechen einer Weltordnung. Indem die Verzeitlichung räumlicher Differenz fragwürdig wird, stellt sich zugleich die Frage, auf welche Weise wir diese räumliche Differenz systematisch erfassen. Der spatial turn, der zahlreiche Gesellschaftswissenschaften in den letzten zwei Jahrzehnten erfasst oder beeinflusst hat, rückt die Geschichte unserer Kategorien zur Erfassung räumlicher Einheiten in den Vordergrund.
Der französische Geograph Christan Grataloup liefert mit seinem Band über die lange Geschichte der Erfindung von Kontinenten eine komplementäre Studie zu dem reichlich ein Jahrzehnt früher erschienenen Band über den Mythos der Kontinente von Lewis und Wigen.1
Der Unterschied zwischen beiden Bänden sticht sofort ins Auge: Das Buch von Lewis und Wigen ist eine theoretisch argumentierende Kritik der „metageographischen“ Begriffe, die unserer Raumorientierung zugrunde liegen; Grataloups Band ist ein opulent bebildertes Kompendium, das auf Fußnoten weitestgehend verzichtet und den Leser mit der Deutung abgedruckter Karten aus vielen Jahrhunderten sowie einer großen Zahl von Anekdoten über wichtige Schritte in der Entfaltung des Denkens in Kontinenten konfrontiert. Man muss sofort anerkennen, diese Melange aus Text und Bild konsumiert sich flüssig und präsentiert äußerst gelungen geographisches Wissen (bis hinunter in die Ebene der tektonischen Platten und hinauf zu den Satellitenbildern) sowie einen ebenso dichten wie zügigen Gang durch die Geschichte der Kartographie. Die zentrale Botschaft wird bei allen Wanderungen durch Mesopotamien, das ägyptische Alexandria, die italienischen Seerepubliken, zu den spanischen und portugiesischen Auftraggebern des Kolumbus, Amerigo Vespucci und Magellan, in die Büros der Enzyklopädisten und in die Phantasiewelten der Träumer vom versunkenen Atlantis nie aus dem Auge verloren: die langwährende Kontinuität und der erstaunliche Wandel in der Vorstellung von den Kontinenten und ihrem Verhältnis zueinander. Der im Mittelalter konsolidierten Struktur eines T in einem Kreis, das Europa, Asien und Afrika repräsentierte und die Linie zur biblischen Überlieferung zu halten suchte, gesellten sich später die Neue Welt und die Heimat der Antipoden zu, doch die Grenzen zwischen diesen Welten blieben prekär. Grataloup zeigt, wie neue Erfahrungen mit fernen Orten und neue Paradigmen des zunehmend säkularisierten Weltverständnisses die vagen Vorstellungen über die Kontinente immer wieder herausforderten, aber letztlich nicht zur Erschütterung dieser an Schlichtheit schwer zu übertreffenden Repräsentation führten. So entsteht eine lange Geschichte der Inkorporation neuen Wissens in ein bestehendes Modell. Selbst die jüngsten Beobachtungen eines neuen Regionalismus im Rahmen wachsender globaler Vernetzungen mobilisieren das Denken in kontinentalen Kategorien, obwohl die Schwierigkeiten offensichtlich sind, politische Kooperation, ökonomische Verflechtung und vorgestellte geographische Einheiten zur Deckung zu bringen. So fügen sich weder Japan, die beiden Koreas und China noch Indien, Bangladesh und Pakistan so einfach in ein kontinental homogenes Asien oder auch nur in dessen Osten und Süden. Ähnliches gilt für die beiden Amerikas, die zwischen atlantischen und pazifischen, mithin zentrifugalen Orientierungen hin- und hergerissen sind. Grataloups Europa hat zudem einen deutlichen Drall nach Westen und wird bereits an einem östlichen Saum vage, der seit 2004 immerhin Teil der Europäischen Union ist.
Der Verfasser belegt die tiefe Verankerung des Denkens in Kontinenten vor allem mit häufigen Verweisen auf die französischen Schulprogramme. Hier wird deutlich, dass er sich seit einigen Jahren in hohen Funktionen im Bildungswesen Frankreichs damit herumschlägt, neue wissenschaftliche Einsichten auch in den Curricula zu verankern. Während das in den Naturwissenschaften relativ selbstverständlich ist, veraltete Vorstellungen rasch durch neue ersetzt werden, erweist sich das gesellschaftstheoretische Gerüst als viel stabiler. Es gehört deshalb zu den großen Stärken des Bandes, dass er nicht nur eine breite Öffentlichkeit adressiert, sondern auch sehr deutlich darauf aufmerksam macht, wie das Denken in Kontinenten Rassismus und andere Formen von Superioritätsgefühlen hervor getrieben, unterstützt und befestigt hat. Ein engagiertes Buch, das die Gratwanderung zwischen Popularisierung und wissenschaftlicher Solidität meistert und am Ende freimütig eingesteht, dass eine Dekonstruktion des Denkens in Kontinenten zwar dessen Plausibilität durchaus überzeugend in Zweifel ziehen kann, aber deshalb noch nicht die Frage nach einer Alternative beantwortet. Es ist gerade die Schlichtheit des Denkens in Kontinenten und seine tiefe Verankerung in einer an Raummetaphern reichen Sprache zur Beschreibung gesellschaftlicher Phänomene, die es so schwierig erscheinen lassen, an eine schnelle Überwindung eines eigentlich obsoleten Denkgebäudes zu glauben. Was Grataloup jedoch leistet ist schon viel: mit den Mitteln des Wissenschaftshistorikers zeigt er auf, wer wann zu welchem Zweck dieses Gebäude errichtet bzw. mit den verschiedensten Anbauten versehen hat und wie es immer stärker mit irritierenden Erfahrungen konfrontiert wird. Der spatial turn hat bisher dazu geführt, das Menschengemachte unserer Raumvorstellungen aufzuzeigen. Er wird sich damit nicht erschöpfen können, denn er ist auch Ausdruck der Suche nach einer neuen Orientierung in einer Welt, in der die Teile zusammenwachsen. Die Rhetorik der Globalisierung kommt noch nicht ohne die Sprache aus, die im Zuge der Erfindung der Kontinente entwickelt wurde. Aber sie konzentriert sich auf Phänomene, die eine separate Behandlung der Weltteile untergraben: Migration, Warenketten, Interkulturalität usw. usf. Grataloups Buch bestätigt wohl erneut Hegels Diktum von der Eule der Minerva, die in der Dämmerung zum Flug ansetzt – neigt sich eine Epoche ihrem Ende zu, wachsen dem analytischen Geist bei ihrer retrospektiven Untersuchung Flügel.
Anmerkung:
1 Martin W. Lewis / Kären Wigen, The Myth of Continents. A critique of Metageography, Berkeley 1997.