Cover
Titel
Kurfürst Johann Georg I. und der Dreißigjährige Krieg in Sachsen.


Herausgeber
Rutz, Andreas; Schneider, Joachim; Winzeler, Marius
Reihe
Spurensuche. Geschichte und Kultur in Sachsen. Sonderband
Erschienen
Dresden 2024: Sandstein Verlag
Anzahl Seiten
376 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georg Schmidt, Jena

Der mit vielen farbigen Abbildungen opulent ausgestattete Sammelband vereint 26 Beiträge, die im Umfeld der Dresdener Ausstellung „Bellum & Artes“ 2020/21 entstanden. Die mehr oder weniger kulturwissenschaftlich orientierten Texte (S. 20) sollten die Forschungslücke zu Johann Georg I. und dem Dreißigjährigen Krieg in Sachsen verringern sowie den Kurfürsten vom Image des „Sauf- und Betfürsten“ befreien und als friedensfördernden Reichspolitiker neu justieren. Im hermeneutischen Zirkel der Geschichtswissenschaften sind solche Einschätzungen jedoch in erster Linie eine Frage des Standpunktes oder – frühneuzeitlich – des „Sehepunktes“ (Chladenius). Ob Neutralität und Appelle zur Einigung oder entschiedener Widerstand dem Frieden besser dienen, ist heute wie damals umstritten.

Hat der Dresdener Hof seine vielen Chancen verpasst, wirklich gestaltend in das Geschehen einzugreifen? Was hätten ein frühes Stoppsignal an den Kaiser, ein Engagement an der Seite der böhmischen Stände oder die dauerhafte Unterstützung der Schweden, die Einladung aller Kombattanten zu dem Prager oder eine eigenständige Politik auf dem Westfälischen Friedenskongress für Kursachsen und Deutschland bedeutet? Mögliche Antworten sind spekulativ, doch die Protestanten blickten hoffnungsvoll auf Dresden und wurden immer wieder enttäuscht. Johann Georg trank gern und viel, ging auf die Jagd und liebte die prunkvolle Selbstdarstellung vor allem als Feldherr. Obwohl der Staatsbankrott nahe war, floss viel Geld (Investitionen?) in die Erweiterung der Kunstkammer, die Umgestaltungen der Residenz und für repräsentative Bilder, die ihn im Harnisch als Sieger von Bautzen (1620) feierten (S. 26–33). Wo und wie nutzte der Kurfürst seine knapper werdenden Ressourcen, um den Frieden zu fördern? Half er seinem Land und der deutschen Nation mit seiner Treue zum Kaiser oder wollte er nur die Lausitzen annektieren?

Einen nützlichen Leitfaden durch die Fülle der Themen bietet das klug zusammenfassende Resümee Michael Kaisers. Auch er betont, dass Johann Georg die konfessionspolitischen Polarisierungen im Reich ignorierte und Sachsen die Lausitzen sicherte. Allerdings blieb ihm, selbst als in der ersten Hälfte der 1630er-Jahre sein politischer Einfluss am größten war, nur die Rolle eines nützlichen Juniorpartners an der Seite Gustav Adolfs oder Ferdinands II. Kaisers Fazit lautet, der Kurfürst habe nicht tatkräftig geführt, sich lenken lassen und die Erwartungen des protestantischen Deutschland enttäuscht. Dieses Bild sollte allerdings – so die Einführung von Andreas Rutz – differenziert werden. Wenn Johann Georg nicht der „biedere Zecher“ und „Bierjörg“ war, der in Nibelungentreue zum Kaiser hielt, wer war er dann? Andrei Prokopiev, der eine große russischsprachige Biografie des Kurfürsten verfasst hat, schildert seine Erziehung und analysiert eindrucksvoll die Verflechtung der Adelselite. Danach stellt Armin Kohnle Johann Georg in die kaisernahe Tradition der lutherischen Kurfürsten von Sachsen, macht aber geltend, das sei von ihm wohl ohne Argwohn geschehen, weil er möglicherweise das ganze Spiel „nicht durchschaute“ (S. 56). Verständnis habe er bei den Westfälischen Friedensverhandlungen vor allem für die katholische Seite gefordert (S. 60). Trotz öffentlich zur Schau gestellter Loyalität verkörperte die Kurfürstin Magdalena Sibylla – Ute Essegern verdeutlicht dies mit bemerkenswerten Zitaten aus der Korrespondenz – die innerfamiliäre Opposition gegen die Politik ihres Gatten. Wegen des Prager Friedens wünschte sie dessen Räten, sie sollten in der Hölle schwitzen (S. 65), weil sie „deutschlandt untders spansche Joch“ gebracht hätten (S. 71). Der Briefwechsel Johann Georgs mit seinem gleichnamigen Sohn und Nachfolger ist dagegen laut Joachim Schneider frei von Kontroversen und solchen Zuspitzungen. Das gut ausgebaute Dresdener Nachrichtennetz erläutert Kateřina Pražáková am Beispiel der handschriftlichen und gedruckten Zeitungen aus der Zeit des böhmischen Aufstandes, während Wolfgang Flügel die zustimmende Haltung der kursächsischen Hofprediger und Pfarrer zu Johann Georgs Politik beschreibt. Da die Schulden Kursachsens schon zu Beginn des Krieges gewaltig zunahmen, sparte der Kurfürst – wie Josef Matzerath nachweist – an der Verköstigung des Landtags. Er sorgte auch dafür, dass der obersächsische Reichskreis einen Teil der kursächsischen Militärausgaben übernahm. Fabian Schulze erläutert darüber hinaus, dass die armierten Stände nicht bezahlte Kreisanlagen vor allem als Legitimation für Einquartierungen oder Proviantforderungen nutzten (S. 129). Auf dem Westfälischen Friedenskongress beraubte sich Johann Georg durch seine Kaisertreue selbst fast aller Einwirkungsmöglichkeiten. Er hielt die nun den Prager Frieden ablehnenden evangelischen Reichsstände für die Ursache aller Übel, weil sie – wie ihn Lena Oetzel zitiert – „zur eversion und umstürzung des ganzen Reichs-Stats“ gewillt seien (S. 134).

Die Einleitungsreferate einer Podiumsdiskussion beginnt Andreas Rutz mit der These vom europäischen Krieg, die nicht alle neueren Gesamtdarstellungen verinnerlicht hätten. Seine Frage nach dem friedliebenden und reichspatriotischen Wirken Johann Georgs (S. 147) bleibt letztlich aber unbeantwortet. Aus böhmischer Sicht – so Tomáš Sterneck – spielte der Kurfürst dem Kaiser in die Hände (S. 151). Siegrid Westphal betont die Friedensbemühungen und die „Brückenfunktion“ Johann Georgs. Laut Astrid Ackermann blickten die mitteldeutschen Fürsten zwar auf ihn, doch die Weimarer Herzöge kämpften für den evangelischen Glauben und die deutsche Freiheit. Axel Oxenstierna, der schwedische Reichskanzler, hielt Johann Georg für einen trinkfreudigen und mittelmäßigen Herrscher, wie Dorothée Goetze erläutert (S. 157). Für Frankreich und Spanien war Kursachsen – so Michael Rohrschneider – weniger wichtig; in seiner Not wollte der Kurfürst aber 1636/37 auch spanisches Geld annehmen (S. 160). Für künftige Forschungen wichtig ist sicherlich das von Jochen Vötsch akribisch erarbeitete Itinerar Johann Georgs (S. 162–179).

Im zweiten Abschnitt zur höfischen Repräsentation spürt Dirk Syndram den Veränderungen in der Kunstkammer, die den langen Krieg unbeschadet überstand, und den spektakulären Neuerwerbungen nach. Der Kurfürst schätzte und kaufte Pretiosen und kunsthandwerkliche Gegenstände, um sich selbst mit ihnen – so Arianne Koller – zur Schau zu stellen. Er zeigte sich in dem aufwendigen „Landschaftskleid“, das ihn im Zusammenspiel von Kartographie und Kunst ins Zentrum seines Herrschaftsbereichs rückte. Der wertvolle Schmuck und die Totengewänder dienten ebenfalls der Imagebildung, wie Christiane Nagel detailliert erläutert. Das gilt auch für die von Uta Dorothea Sauer gekonnt beschriebenen musikalischen und tänzerischen „Friedensbotschaften“ (S. 229). Marius Winzeler würdigt den Kurfürsten als Bauherrn, der Zeichen seiner Herrschaft setzen wollte. Das Beispiel des Architekten Sebastian Walther, dessen Familie 1638 hungerte, verdeutlicht aber auch die Not der umworbenen Künstler (S. 257). Gernot Klatte interpretiert den gezeichneten Johann Georg, den Christian Schiebling 1646 im Kreis seiner Familie treffend mit den Insignien seiner Macht und den beiden Werken darstellte, denen er sich über alles verpflichtet fühlte: dem Evangelium und der Reichskonstitution (S. 261). Wie sich das mit der Belagerung und Eroberung Bautzens verbindet, bleibt unklar. Holger Schuckelt und Kai Wenzel illustrieren jedoch anschaulich, wie er sich bis an sein Lebensende in den Harnischen darstellen ließ, die darauf verweisen.

Den mit drei Aufsätzen vergleichsweise kurzen Abschnitt zu Kriegsalltag und Kriegsfolgen leitet Alexander Schunka mit einer böhmisch-sächsischen Migrationsgeschichte ein. Die ersten Flüchtlinge wurden abgewiesen, weil der Kurfürst keinen Streit mit den Habsburgern riskieren wollte. Auch später wurden vor allem die Migranten aufgenommen, die wegen ihres lutherischen Glaubens und nicht aus politischen Gründen Böhmen verlassen hatten (S. 301). In Pirna waren zeitweise mehr als ein Drittel der Bewohner Zuwanderer aus Böhmen (S. 302). Einer von ihnen, Václav Nosidlo, hat über die vielen Konflikte zwischen Einheimischen und Migranten berichtet. Er sah in Johann Georg keinen Beschützer, sondern die Ursache für das Elend der Emigranten (S. 309). Über Erfahrungen der Stadtbevölkerung mit Söldnern berichtet Alexander Zirr. Neben Übergriffen betont er die Koexistenz von Bürgern und Militär zum Vorteil beider Seiten. Der Wiederaufbau nach dem Krieg ging, wie Christian Landrock am Beispiel Zwickaus plausibel macht, nur langsam voran. Die hohen Steuerschulden lasteten schwer auf den zerstörten Gebäuden. Noch 1699 waren 30 Prozent der Häuser Zwickaus unbewohnt (S. 338). Zum Schluss blicken Claudia Brink und Susanne Jaeger kurz zurück auf die Ausstellung „Bellum & Artes“ und ein Forschungsprojekt zur Rolle der Künste im Dreißigjährigen Krieg.

Der einem Ausstellungskatalog ähnelnde Band bietet einen gelungenen Überblick zur Geschichte Kurfürst Johann Georgs I. und des Dreißigjährigen Kriegs in Sachsen. Er zeigt, dass sich die Forschungslücken in Grenzen halten. Offen bleibt, wie der Kurfürsten zu bewerten ist. War er der wankelmütige Trinker, der seine Glaubensgenossen verriet, um die Lausitzen in Besitz nehmen zu können, oder war er ein gewiefter Politiker, der allerdings ohne großen Erfolg alles daransetzte, sein Land aus dem Krieg herauszuhalten und dem Reich den Frieden zu bringen? Die Antwort ist und bleibt davon abhängig, wie um des Friedens willen mit Kriegen umzugehen ist. Darüber wird heute wie damals gestritten.

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