Felix Müller war stellvertretender Direktor des Historischen Museums in Bern sowie Professor für Ur- und Frühgeschichte an der dortigen Universität. Das qualifiziert ihn hervorragend für eine kenntnisreiche sowie gut lesbare Darstellung zum Leben und vor allem Nachleben der keltischen Helvetier. Dank Julius Caesars De bello gallico weiß man von Divico, der mit dem helvetischen Teilstamm der Tiguriner 106 v. Chr. an der Garonne zwei römische Legionen vernichtend geschlagen habe und dann im Greisenalter an der Spitze der Helvetier stand, die 58 v. Chr. erneut aus dem schweizerischen Mittelland auswanderten. Caesar besiegte sie aber im Burgund bei Bibracte (Mont Beuvray) und schickte sie in die Heimat zurück. Das wird durch archäologische Befunde – etwa zu den vor dem Auszug verbrannten Häusern – nur lückenhaft bestätigt, weshalb Müller den exklusiven römischen Schriftquellen und sogar der Historizität von Divico mit Vorsicht begegnet. Dank Ausgrabungen solider belegt sind Siedlungen wie namentlich Aventicum (Avenches) östlich des Neuenburgersees. Dort wurden Veteranen angesiedelt, nachdem Vespasian 69 n. Chr. Kaiser geworden war und die Helvetier in das Reich integriert sowie vollends romanisiert wurden.
Der verballhornte Name und die Beschreibung der Helvetier waren in der Caesar-Rezeption bereits greifbar, bevor sein Werk 1469 in Rom und 1473 in Straßburg erstmals gedruckt wurde. Im 14. Jahrhundert machte ein Kleriker aus dem Hennegau aus den Helvetiern „Hericyni“ und lokalisierte sie in Brabant; einer illustrierten Handschrift von 1468 verdankt man die erste Darstellung ihres Auszugs. Gleichzeitig meinte Enea Silvio Piccolomini, das Elsass habe einst „Helvecia“ geheißen. Allerdings erfand er selbst diesen Namen! Insofern war es zwar naheliegend, aber nicht selbstverständlich, dass um 1500 Schweizer Humanisten allmählich die „Helvetii“ als ihre angeblichen Vorfahren entdeckten und ihre noch lockere Eidgenossenschaft von Reichsstädten und Landkantonen mit dem Neologismus „Helvetia“ als politische Einheit nobilitierten. Müller behandelt dieses identitätsstiftende Phänomen zurecht wiederholt parallel zur Tellensage. Um 1550 präsentierte Aegidius Tschudi die Eidgenossenschaft als ein Bündnis, das die in der Völkerwanderung verlorene Freiheit und Einheit der Helvetier wieder herstellen sollte. Auf Tschudi gestützt schuf Johannes Stumpf eine Karte, auf der HELVETIA in Antiqua neben Regionen wie GERMANIA und FRANCIA eingezeichnet war, während für deutsche Namen Fraktur verwendet wurde. Diese Unterscheidung war in frühneuzeitlichen deutschen Druckwerken üblich und rührt, anders als Müller meint, nicht daher, dass die lateinischen Namen aus De bello gallico stammen. Im Unterschied zu Stumpf hatte Caesar „Helvetia“ ebenso wenig wie „Francia“ oder „Anglia“ erwähnen können, die erst als Ableitungen von Völkerwanderungsstämmen entstanden.
Solche Namen waren also Neuschöpfungen, die nicht mehr einen Personenverband oder Stamm bezeichneten, sondern ein Territorium. Den Erfolg des Namens Helvetia in den folgenden Jahrhunderten könnte man insofern stärker, als dies Müller tut, vom (populär)wissenschaftlichen Interesse für die Helvetier unterscheiden. Letztlich geht es um verschiedene Anliegen und Ausdrucksformen. Helvetia bezeichnet seit ihren Anfängen im 17. Jahrhundert die nationale Gemeinschaft in einer lateinisch gefassten Staatenwelt. Ähnliche Namen und Personifikationen gab es in anderen Ländern wie Svea oder Polonia, wo jeder Bezug zu antiken Völkern fehlte.
Allerdings sollte das anhaltende Interesse für die Helvetier ebenfalls Identität stiften, wovon in dem gut illustrierten Band auch Historienbilder zeugen: Das älteste, das den Auszug der Helvetier zeigt, stammt von 1722. Illustrationen schmückten auch die Studien des Berners Gottlieb Walther, mit dem in den 1780er-Jahren die kritische wissenschaftliche Forschung zu den Helvetiern einsetzte. Karl Müller von Friedberg, der spätere Begründer des Kantons St. Gallen, ließ sich 1779 zu einem „Staats-Trauerspiel“ über ihren Auszug inspirieren und gab ihm den Titel „Das gerettete Helvetien“.
Gegenüber der Selbstbezeichnung „Eidgenossenschaft“ mit ihren religiösen Implikationen hatte das säkulare lateinische „Corpus helveticum“, das sich in Diplomatie und Völkerrecht zusehends ausbreitete, einen doppelten Vorteil. Es ließ sich problemlos und unverwechselbar auf Französisch und Italienisch übertragen sowie aussprechen und schloss zudem die Sprache dieser Landesbewohner ein, die noch keine vollwertigen „Schweizer“ oder eben „Eidgenossen“ waren. Insofern lag dem Adjektiv „helvetisch“ ein integratives und emanzipatorisches Potenzial inne. Das erklärt, weshalb es im Aufklärungsjahrhundert so populär wurde und nicht zuletzt der berühmten „Helvetischen Gesellschaft“ (1762–1797) ihren Namen vermittelte. Als die früheren Untertanen 1798 vollwertige Bürger wurden, drängte sich der Name für den neuen, zentralistischen Einheitsstaat nach französisch-revolutionärem Vorbild geradezu auf: Helvetische Republik.
Dass daraus kein Königreich Helvetien wurde, wie es sich der Großherzog von Baden 1806 unter seinem Zepter erträumte, war Napoleon zu verdanken. Hingegen entstanden neben dem berühmten „New Helvetia“ von Johann August Sutter in Kalifornien auch in Lateinamerika und sogar in Griechenland Siedlungen mit analogen Namen. Im 19. Jahrhundert wurde der Sieg der Tiguriner nicht mehr an der Garonne verortet, sondern am Genfersee, was sich in Heinrich Zschokkes „Volksgeschichte“ (1822) und Joseph Anton Hennes Heldenepos „Diviko“ (1826) ebenso zeigte wie auf Charles Geyres Gemälde von 1858 oder in Conrad Ferdinand Meyers Gedicht „Joch am Leman“ (1861). An die Stelle kriegerischer Eroberer traten damit selbstbewusste Verteidiger ihrer Landesgrenzen. Zugleich blieben Darstellungen wilder Krieger mit Helmen aus Hirschgeweih populär – nicht nur in Schulbüchern, sondern auch zu Pferd bei städtischen Umzügen oder in den weitverbreiteten Heften des Schweizerischen Jugendwerks.
Helvetia repräsentierte ihrerseits den neuen Bundesstaat von 1848 in vielfältiger Weise, so auf Briefmarken der neu gegründeten Post. Am nachhaltigsten waren die Münzen für die ebenfalls neue Einheitswährung des Franken, die bis heute ihre stehende Figur mit Wappen und dem Schriftzug HELVETIA zeigen. Diese setzte sich bereits 1848 gegen „Confoederatio Helvetica“ durch, was Müller mit etlichen Quellenbelegen, aber etwas unsystematisch in zwei verschiedenen Kapiteln zum selben Thema (Münzbild) nachzeichnet.
Am Schluss kommt Müller wieder zur Ausgangsfrage seiner anregenden Synthese: Wie lässt sich das nach ISO-Kodierliste normierte Kürzel CH als Autokennzeichen, für Postadressen oder als Top-Level-Domain erklären? 1909 beschloss dies offenbar eine Pariser Konferenz, weil das S schon an einer früheren Sitzung ohne schweizerische Beteiligung an Schweden vergeben worden war. Allerdings hatte bereits das 18. Jahrhundert gezeigt, dass der lateinische Name durchaus innenpolitische Vorteile gegenüber der amtlichen Bezeichnung „Schweizerische Eidgenossenschaft“ hat, die in den romanischen Sprachen mit „Confederaziun svizra“ und analogen Übersetzungen wiedergegeben wird. Wie die Helvetier, über die wenig Solides bekannt ist, und wie Helvetia, die erst um 1500 erfunden wurde, umfasst das lateinische CH ein mehrsprachiges Gebilde mit einem Kürzel, das allen Einwohnern gleichermaßen fremd ist.