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Titel
Partizipation per Post. Bürgerbriefe an Politiker in Diktatur und Demokratie


Herausgeber
Becker, Ernst Wolfgang; Bösch, Frank
Reihe
Zeithistorische Impulse
Erschienen
Stuttgart 2024: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
380 S., 7 SW-Abb.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michaela Fenske, Lehrstuhl für Europäische Ethnologie / Empirische Kulturwissenschaft, Universität Würzburg

Wer ihn in der Bevölkerung schätze, schreibe ihm nicht − so fasste der erste Präsident der Bundesrepublik, Theodor Heuss, sein Unbehagen mit der ihn massenhaft erreichenden Bürgerpost in den frühen Jahren der Republik zusammen.1 Die Ambivalenz des ersten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland gegenüber dem unermüdlichen Schreiben der Bevölkerung liegt im Medium Bürgerbrief selbst begründet: Aufgrund ihres unklaren Verfassungsstatus formal nicht durch ein Regelwerk gebändigt (wie etwa Petitionen), entwickelte die Bürgerpost in ihrer massenhaften Manifestation auf allen Ebenen des Staates eine gewisse Dynamik. Politiker (in den frühen Jahren der Republik seltener Politikerinnen) aller Parteien und Ämter in Bund sowie Land waren mit Bürgerbriefen beschäftigt. Die Auseinandersetzung mit den Anliegen aus der Bevölkerung gehörte – der Ambivalenz manchen Politikers gegenüber dem Medium ungeachtet – zum Selbstverständnis fast aller Politiker. So bescherte die dem Medium Brief innewohnende Verpflichtung zur Reziprozität den Mitarbeitenden der Politiker und den Politikern selbst zahllose zusätzliche Arbeitsstunden.

Die direkte schriftliche Kommunikation zwischen Bevölkerung und politisch Verantwortlichen ist zu vielen Zeiten und aus verschiedenen politischen Systemen bekannt. Derart gelangen Anliegen aus den Lebenswelten der vielen unmittelbar in die Schaltzentralen der Macht. Auch deshalb hat diese Form der Kommunikation wiederholt das Interesse der Empirischen Kulturwissenschaft gefunden, welche die Alltage der vielen erforscht.2 Die Impulse dieser und älterer geschichtswissenschaftlicher Studien erweitert der vorliegende Sammelband zu einer überaus gewinnbringenden systematischen Betrachtung der Potenziale des Bürgerbriefs als Medium politischer Partizipation in fünf unterschiedlichen politischen Systemen auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik. Der Band geht auf eine Tagung der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus aus dem Jahr 2019 zurück.

Die prägnante Einführung von Frank Bösch benennt die die versammelten Beiträge einende Perspektive auf Bürgerbriefe als Zugang zur „Emotionsgeschichte des Politischen“ (S. 20). Untersucht werden im Folgenden Motivationen und Themen der Briefe sowie Reaktionen auf sie, vor allem aber ihre Effekte auf das jeweilige politische System. Die insgesamt 14 empirischen Fallstudien nehmen verschiedene Regionen und politische Ebenen in Ost und West sowie der Europäischen Union (EU) in den Blick. In den deutschen Kleinstaaten, im Kaiserreich und in der Weimarer Republik wird der Bürgerbrief zunächst als Chance, politische Partizipation einzuüben, interpretiert (so die Beiträge von Hedwig Richter zu Bürgerbriefen und Petitionen von 1848 bis zum Ersten Weltkrieg sowie von Volker Köhler über Bittbriefe an sozialdemokratische Amtsträger in Sachsen 1918–1923). Im Nationalsozialismus (NS) mutierte der Brief zum Medium der an die Durchsetzung lebensweltlicher Ziele gebundenen Loyalität, wie Stefan Scholl und Wolfram Pyta darlegen.

In der frühen Bundesrepublik ermöglichte die Bürgerpost auch das (Wieder-)Erlernen demokratischer Haltungen (Beitrag von Ernst Wolfgang Becker). Als historische Quellen werfen Bürgerbriefe in dieser Zeit Schlaglichter auf bislang eher schwach beleuchtete Themen der Geschichte der Republik wie etwa die Nöte der Trümmergesellschaft in den frühen Jahren (vgl. Jörg Neuheisers Beitrag „Arbeitslosigkeit, Doppelverdiener und der Schatten der NS-Arbeitsideologie“). Den bekannten Narrativen setzen die Schreiben anders akzentuierte Wahrnehmungen und Deutungen entgegen oder auch bislang in den Geschichtswissenschaften kaum wahrgenommene Verhaltensweisen (vgl. Claudia C. Gatzkas Beitrag „Feedback aus der Peripherie der Demokratie. Bürgerbriefe und politische Repräsentanten in der Bundesrepublik“). Dies ging keineswegs zwangsläufig mit der Stärkung der demokratischen Grundhaltung einher. Im Gegenteil, auch die Grenzen des Demokratischen – ein „undoing democracy“ (S. 222) – werden über das Medium Bürgerbrief sichtbar. So wird etwa deutlich, wie und in welchem Ausmaß die direkte politische Kommunikation Alltagsrassismus in die politische Kultur der Republik integrierte: Bernhard Gotto analysiert dies in Zuschriften an Franz Josef Strauß in den 1960er- bis 1980er-Jahren, Philipp Gassert in Briefen an baden-württembergische Ministerpräsidenten in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre. Der frühe Wunsch nach Teilhabe mancher Deutscher an der EU-Politik wird ebenso deutlich wie ein gewisses Elitebewusstsein dieser Schreibenden, wie Thomas Süsler-Rohringer aufzeigt.

Auch in der DDR gehörte das Schreiben an Politiker zu den Alltagspraktiken der Bürger und Bürgerinnen, die das Regime als „kommunistische Zustimmungsdiktatur“ zeigen (vgl. Martin Sabrows Beitrag „Kommunikation in der Konsensdiktatur. Bürgerbriefe an Erich Honecker“, hier S. 312). Besonders spannend sind die durch das Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) abgewehrten Versuche der DDR-Bevölkerung, mit westdeutschen Politikern in Austausch zu kommen. Sehr zum Ärger der offiziellen DDR-Politik zeigten sich in diesen Schriften eine rege Teilhabe am Leben in Westdeutschland und die anhaltende Perspektive auf eine mögliche Wiedervereinigung beider deutscher Staaten (vgl. Daniela Münkels Beitrag „Briefe ohne Antwort. Die Stasi und die Zuschriften von DDR-Bürgern und -Bürgerinnen an Bundespolitiker“). Bürgerbriefe geben auch Einblicke in die Vielfalt der Perspektiven, Hoffnungen und Zuversicht der Menschen in der Wendezeit nach 1989, so Helena Gand über „Emotionen, Zukunftserwartungen und Demokratieverständnis in der Bevölkerungspost zur Deutschen Einheit“. Der im Band abschließend eröffnete Fokus auf Bürgerbriefe aus Ost und West seit den 1980er-Jahren leuchtet mit der These von dem de facto unerfüllten, aber in der Bevölkerung durchaus lebendigen „Demokratieversprechen“ des zweiten deutschen Staates im Osten der Republik die Vorgeschichte der heutigen Popularität der AfD aus (vgl. Christina Morinas Beitrag „,Demokratie ist keine Geste der Staatsmacht gegenüber der Gesellschaft …‘ Zur Analyse des Demokratie- und Bürgerselbstverständnisses anhand von ost- und westdeutschen Bürgerbriefen seit den 1980er Jahren“, hier S. 357).

Was Bürgerbriefe über Zeit und Raum hinweg grundsätzlich auszeichnet, ist ihre Ambiguität und Multifunktionalität. Nur deshalb konnten sie integraler Bestandteil in allen bisherigen politischen Systemen auf dem Staatsgebiet der heutigen Bundesrepublik seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sein. In den deutschen Diktaturen erwies sich das Schreiben für die Bevölkerung im Falle von abweichenden Meinungen als gefährliche Praxis. Sowohl NS- als auch SED-Regime investierten viel Zeit und Energie, um politisch missliebige Meinungsäußerungen zu strafen. Auch unter den Bedingungen der Demokratie steckt im Bürgerbrief das Potential zur Perspektive auf andere als offiziell politisch erwünschte Haltungen. Nicht zuletzt wurden solche Menschen schreibend rege, die ansonsten wenig Engagement auf politischer Ebene zeigten (und etwa nicht zur Wahl gingen). Dies ermöglicht Einblicke in weniger privilegierte soziale Milieus.

Insgesamt bietet der hier vorgelegte Sammelband wertvolle Zugänge – sowohl zum Verständnis politischer Haltungen und Praktiken breiter Bevölkerungsgruppen als auch zum Regierungshandeln in der Geschichte der Bundesrepublik und der EU. Deutlich wird, wie viele bisherige Leerstellen eine systematische Analyse von Bürgerbriefen zu erschließen vermag. Erkennbar werden zahlreiche neue Perspektiven auf das Werden der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Man wünscht diesen wichtigen Forschungen dringend eine Fortsetzung, möglichst in Gestalt eines interdisziplinären Dialogs.

Anmerkungen:
1 Vgl. den Beitrag von Ernst Wolfgang Becker, Allerweltsgespräch als demokratische Praxis? Bürgerbriefe an Theodor Heuss und Konrad Adenauer, S. 127–163, hier S. 128.
2 Zu nennen sind in chronologischer Reihung Harm-Peer Zimmermann, Stimmen aus dem Volk. Bürgerbriefe an Helmut Schmidt anlässlich des konstruktiven Misstrauensvotums, in: Volus 15 (2005), S. 4–38; Harm-Peer Zimmermann, Lebenswelt und Politik. Bürgerbriefe an Helmut Schmidt 1982, in: Peter Janich (Hrsg), Humane Orientierungswissenschaft. Was leisten Wissenschaftskulturen für das Verständnis menschlicher Lebenswelt?, Würzburg 2008, S. 203–226; Sabine Manke, Brandt anfeuern. Das Misstrauensvotum 1972 in Bürgerbriefen an den Bundeskanzler. Ein kulturwissenschaftlicher Beitrag zur modernen Resonanz- und Korrespondenzphänomenen, Marburg 2008; Michaela Fenske, Demokratie erschreiben. Bürgerbriefe und Petitionen als Medien politischer Kultur 1950–1975, Frankfurt am Main 2013.

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