M. Reitmayer u.a. (Hrsg.): Konsum und Politik nach dem Boom

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Titel
Konsum und Politik nach dem Boom.


Herausgeber
Reitmayer, Morten; Weispfennig, Stefan
Reihe
Nach dem Boom
Erschienen
Göttingen 2024: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
230 S.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Möckel, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Das Wechselverhältnis zwischen Konsum, Politik und Gesellschaft ist seit geraumer Zeit verstärkt in den Blick der geschichtswissenschaftlichen Forschung gerückt. Die neuere Konsumgeschichte hat dabei überzeugend herausgearbeitet, dass es beim Konsum nicht allein um die Befriedigung alltäglicher und nicht-so-alltäglicher Bedürfnisse geht, sondern immer auch um die hiermit verbundenen politisch-ökonomischen Strukturen und gesellschaftlichen Normen und Erwartungen. Der von Morten Reitmayer und Stefan Weispfennig herausgegebene Sammelband fügt sich somit in eine ganze Reihe neuerer Publikationen ein, die in den vergangenen Jahren die politischen und moralischen Einbettungen individueller Konsumpraktiken in den Blick genommen haben.1

In der Einleitung verweist Morten Reitmayer auf einen „Wandel des Politischen wie des Konsums“ (S. 7) als zentralem Erkenntnisinteresse des Bandes. Dem Paradigma der „Nach dem Boom“-Forschung verpflichtet, verortet er diesen vor allem in den 1970er-Jahren. Ab diesem Zeitraum seien „in der Bundesrepublik wie andernorts neue Praktiken, Ideen, Akteure und Orte sowohl des Konsumierens als auch des politischen Handelns [hervorgetreten], die bei einer Beschränkung auf die Akteure der etablierten Forschungen zur Parteiendemokratie […] leicht aus dem Blick geraten“ (ebd.). Unter „politischem Konsum“ versteht Reitmayer dabei alle Konsumpraktiken, die „mehr oder weniger absichtsvoll mit politischen Semantiken aufgeladen wurden“ (S. 8), wobei er auf drei zentrale Erkenntnisinteressen verweist: auf Akteure und deren Handlungsmotive, auf Diskurse und Semantiken sowie auf die übergreifenden „politischen, ökonomischen, sozialen und ideellen Kontexte“, in denen sich diese Praktiken und Diskurse entwickelten, und die sie selbst wiederum zu verändern versuchten.

Der Zugang über das Wechselverhältnis von Politik und Konsum eröffnet interessante Perspektiven, auch wenn der Rezensent der Diagnose, bisherige Forschungen hätten diese politische Dimension des Konsums vor dem Hintergrund eines unscharf verwendeten „Moral“-Begriffs aus den Augen verloren, nur bedingt zustimmen kann. Insbesondere in Bezug auf Frank Trentmanns Buch „Empire of Things“, das Reitmayer hier als Beispiel anführt, scheint diese Deutung wenig überzeugend. Und auch in den meisten anderen sozial- und geschichtswissenschaftlichen Arbeiten, die sich in den letzten Jahren mit Hilfe von Ansätzen der Moral Economy, der Neuen Kapitalismusgeschichte oder der Neuen Institutionenökonomik dem Thema genähert haben, spielt das Wechselverhältnis zwischen Politik und Konsum eine zentrale Rolle. Eher ließe sich argumentieren, dass sich im Zuge dieser Forschungen die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass die Grenze zwischen dem Feld „des“ Politischen und anderen gesellschaftlichen Feldern nur schwer zu ziehen ist, bzw. genauer formuliert: diese Grenzziehung selbst zu historisieren ist. Dies aber steht letztlich ganz in Einklang mit den Grundannahmen der Neuen Politikgeschichte der vergangenen beiden Jahrzehnte. Viele Konsuminitiativen lassen sich in diesem Sinne gerade als Versuche deuten, die Grenzen des Politischen zu verschieben oder zu erweitern.

Auch die empirischen Beiträge des Bandes spiegeln dies auf vielfältige Weise. So analysiert Mitherausgeber Stefan Weispfennig auf Grundlage seines Dissertationsprojektes die Entstehung des „sozial-ökologischen Konsumentenbürgers“ als eine „Sozialfigur“ (S. 50), in der sich in den 1990er-Jahren neue gesellschaftliche Normen und Erwartungen verdichteten. Hierzu verweist er auf zwei Entstehungskontexte, die zuvor eher getrennt voneinander existierten: ein durch die „Dritte-Welt-Bewegung“ geprägtes Solidaritätsmilieu auf der einen Seite, ein breites Feld ökologisch motivierter Konsumpraktiken auf der anderen. Erst in den 1990er-Jahren seien die politischen und ökonomischen Voraussetzungen entstanden, unter denen sich aus diesen sozial relativ abgeschlossenen Milieus eine gesamtgesellschaftlich relevante „Sozialfigur“ habe entwickeln können.

Morten Reitmayer und Julia Misamer analysieren den Südafrika-Boykott der Evangelischen Frauenarbeit in Deutschland (EFD) als Beispiel einer „unintendierte[n] Politisierung“ der beteiligten Frauen, die sich in ihrem Engagement zum Teil starken Konflikten und Anfeindungen sowohl der Amtskirche als auch von Passanten und anderen Personen ausgesetzt fanden. Mit Blick auf die Verschränkung von Politik und Konsum gelingt es dem Beitrag, den Boykott als eine mehrdimensionale Praxis darzustellen, die nicht in rein ökonomischen Zielen aufging, sondern zahlreiche in die Öffentlichkeit wirkende Anschlusshandlungen hervorrief. Bei den Motiven der beteiligten Akteur:innen scheinen dann aber durchaus unterschiedliche Aspekte auf: neben explizit politischen Motiven auch religiöse und ethische sowie das positive Gefühl von Selbstwirksamkeit und Gemeinschaft, das für viele Beteiligte mit den Aktionen verbunden war.

Marianne Heinze nimmt eine wissenssoziologische Perspektive ein und fragt nach dem die Konsuminitiativen der 1970er-Jahre prägenden „alternativen Konsumwissen“ (S. 92). Sie analysiert dabei drei Stränge: Formen der „Selbstverwaltung“, insbesondere in alternativen Betrieben; Praktiken der „Selbstversorgung“ in ländlichen Kommunen und Projekten; sowie Praktiken der „Dritte-Welt-Solidarität“, die den eigenen Lebensstil mit Fragen globaler sozialer Gerechtigkeit verbanden. Für die übergreifende Frage nach dem Verhältnis von Konsum und Politik ist der Beitrag interessant, weil er ein Phänomen, das oft recht pauschal als „Entpolitisierung“ gedeutet wird – als Suche nach einem „richtigen Leben im Falschen“ – in ein komplexeres Narrativ einer Verschiebung zeitgenössischer Politikverständnisse einordnet, in denen vielen dieser zunächst als „unpolitisch“ verstandenen Aspekte eine neue, politische Bedeutung zugesprochen wurde.

Koen van Zon, Alessandra Schimmel und Liesbeth van de Grift analysieren anschließend äußerst erhellend die Genese einer europäischen Verbraucherschutzpolitik in den 1960er- und 1970er-Jahren. Im Zentrum stehen der 1962 als Zusammenschluss nationaler Verbraucherorganisationen gegründete Europäische Verbraucherverband sowie die hieran anschließende Etablierung einer eigenständigen Verbraucherschutzpolitik innerhalb der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft in den 1970er-Jahren. Der Aufsatz stellt heraus, dass Konsument:innen hierbei zunächst vor allem als „Marktbürger“ angesprochen wurden, während Aspekte von Gesundheit, Produktsicherheit und Ökologie erst Mitte der 1970er-Jahre – vor allem mit dem aufkommenden Nachhaltigkeitsparadigma – an Bedeutung gewannen.

Die dezidiert politische Dimension des Konsums spiegelt sich auch in dem Beitrag von Clemens Villinger zu den Konsumerwartungen von DDR-Bürger:innen in der Umbruchsituation von 1989/90. Sein Aufsatz verdeutlich besonders gut das analytische Potenzial einer Verschränkung der Dimensionen von Politik und Konsum. Wie er argumentiert, waren es nicht in erster Linie die direkten Konsummängel und enttäuschten Konsumerwartungen, die den Anstoß zu Kritik und Protest gaben, sondern die Tatsache, dass die reale Konsumpraxis und Allokation von Produkten die politischen Schlagworte einer sozialistischen Leistungsgesellschaft konterkarierten. Villinger gelingt es auf diese Weise, die dichotomische Gegenüberstellung vieler Forschungen – war es der Drang nach Freiheit oder der Mangel an Bananen, was 1989 auslöste …? – auf überzeugende Weise aufzulösen und zu zeigen, dass der Konsum selbst ein zentraler Modus war, in dem Fragen der Verantwortung des Staates und der Leistungsgerechtigkeit artikuliert wurden.

Der Beitrag von Felix Lieb analysiert anschließend, wie sich die Positionierung der SPD innerhalb der Ökologie- und Wachstumsthematik mit Fragen des Konsums verband. Eingebettet in den Fortschrittskonsens des Bad Godesberger Parteiprogramms stellten die neuen ökologischen Ansprüche der 1970er-Jahre für die SPD eine grundlegende Herausforderung dar: thematisch und konzeptionell, bald aber auch wahlstrategisch mit dem Aufkommen der Neuen Sozialen Bewegungen und dem Einzug der Grünen in den Bundestag. Lieb zeigt, dass die SPD die Umweltthematik zwar durchaus aufgriff, aber meist dort eine Grenze zog, wo dies auch Konsequenzen in Bezug auf die Konsummöglichkeiten der breiten Bevölkerung gehabt hätte.

Der Aufsatz von Paul Franke führt in eine völlig andere Richtung: räumlich von Bad Godesberg nach Las Vegas und thematisch mit dem Glücksspiel zu einer moralisch zu allen Zeiten hoch umstrittenen Praxis, in der das Wechselverhältnis von Konsum, Moral, Politik und Religion in paradigmatischer Weise zum Ausdruck kommt. Sein Kerninteresse gilt dabei der Frage, wie es Unternehmen und staatlichen Akteuren gelang, das Glückspiel als moralisch eingehegte und damit legitime Konsum- und Freizeitaktivität zu etablieren – über politische Regulierungen, kulturelle und architektonische Inszenierungen, aber auch durch ethnisch-rassistische Grenzziehungen und Normierungen. Wie Franke zeigt, waren es nicht zuletzt auch die Nutzer:innen selbst, die sich mehr und mehr als (vermeintlich) autonom handelnde Konsument:innen verstanden.

Den Abschluss des Bandes bildet der Beitrag von Michael Zeheter über Produkttests zu Mineralwässern seit den 1970er-Jahren. Das auf den ersten Blick recht „trockene“ Thema bietet analytisch in der Tat interessante Anknüpfungspunkte, denn Zeheter geht es nicht in erster Linie um die konkreten Produktergebnisse, die sich in den Zeitungen „test“ und „Öko-Test“ nachvollziehen lassen. Vielmehr möchte er im diachronen Querschnitt eine „Problemgeschichte“ des Produkts Mineralwsser herausarbeiten, in der übergreifende Wandlungsprozesse, etwa in der Wahrnehmung gesundheitlicher Gefahren, von Schadstoffen oder ökologischen Aspekten zum Ausdruck kommen. Dieser Ansatz überzeugt, doch wäre zugleich zu fragen, ob die Fokussierung auf das Mineralwasser als Konsumprodukt nicht die eigentlich zentrale Entwicklung außen vor lässt: nämlich die verblüffend erfolgreiche Kommodifizierung eines eigentlich für jeden frei verfügbaren Gutes. Eingebettet in eine „Problemgeschichte des Trinkwassers“ hätten sich hier womöglich noch umfassendere Perspektiven auf die Konsumgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ergeben.

Die Aufsätze verdeutlichen die vielfältigen Anknüpfungspunkte des Bandes an aktuelle Diskussionen im Feld der Konsumgeschichte. Die Veröffentlichung bildet damit eine willkommene Ergänzung zu den in den letzten zehn bis 15 Jahren geführten Debatten über das Verhältnis von Konsum und Gesellschaft. Unter anderem an drei Punkten ließen sich diese Diskussionen weiterführen: Erstens stößt – wie oben angedeutet – die Eingrenzung auf die Kategorie „Politik“ oder „Politisierung“ an Grenzen. In vielen Fällen verdeutlichen die empirischen Aufsätze, wie schwierig (und oft auch wenig weiterführend) es ist, politische Motive kategorial von moralischen oder religiösen Motiven abzugrenzen – als Analysebegriff, aber nicht zuletzt auch in Bezug auf die Selbstverortungen der beteiligten Akteur:innen. Zweitens ist die Betonung der Epochenschwelle der 1970er-Jahre eine Setzung, die die Debatte weiter beschäftigen wird. Der Band liefert einige Indizien, die auf die Spezifik politisierter Konsumformen in der Zeit „nach dem Boom“ hinweisen. Neu sind diese Phänomene aber selbstverständlich nicht und so bleibt weiter zu fragen, wie sich die Konsuminitiativen des Zeitraums in diese längeren Traditionslinien einfügen. Und drittens würden sich bei vielen der hiermit verbundenen Diagnosen und Periodisierungen die Gewichte noch einmal verschieben, wenn man sie systematischer als bislang in globale und transnationale Vergleichsperspektiven einordnete.

Insgesamt handelt sich aber um einen Sammelband, der vor allem in den durchweg gut lesbaren und analytisch reflektierten empirischen Beiträgen eine wichtige Ergänzung der laufenden Debatten über eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte des Konsums darstellt.

Anmerkungen:
1 Siehe exemplarisch: Frank Trentmann, Empire of Things. How We Became a World of Consumers, from the Fifteenth Century to the Twenty-First, London 2016; Claudius Torp, Wachstum, Sicherheit, Moral. Politische Legitimationen des Konsums im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012; Benjamin Möckel, Die Erfindung des moralischen Konsumenten. Globale Produkte und politischer Protest seit den 1950er Jahren, Göttingen 2024.