Cover
Titel
Postmigrant Turn. Postmigration als kulturwissenschaftliche Analysekategorie


Autor(en)
Cramer, Rahel; Schmidt, Jara; Thiemann, Jule
Reihe
Relationen. Essays zur Gegenwart
Erschienen
Berlin 2023: Neofelis Verlag
Anzahl Seiten
115 S.
Preis
€ 12,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franziska Völlner, Institut für Geschichtswissenschaften / Europäische Ethnologie, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Die Anerkennung dieses gesellschaftlichen Istzustands führen David Jünger, Jessica Nitsche und Sebastian Voigt in ihrem Vorwort (S. 7–9) nicht zuletzt auf das Engagement migrantischer Communities zurück. Dennoch bleiben migrantische Stimmen in Politik und Gesellschaft sowie in der (nationalen) Geschichtsschreibung weiterhin unterrepräsentiert. An diese Gegenwartsdiagnose schließen Rahel Cramer, Jara Schmidt und Jule Thiemann mit ihrer Forderung nach einem Postmigrant Turn an. Ihr Ziel ist es, nicht nur marginalisierte Stimmen hörbar zu machen und zu einer Verschiebung diskursiver Positionen beizutragen, sondern auch das Postmigrantische als analytische Kategorie zu etablieren.

Bevor sich die Autor:innen im Hauptteil des Essays mit Postmigrantischen Perspektiven in Literatur, Film und Sozialen Medien auseinandersetzen, stecken sie in der Einleitung die Begriffe „Postmigration“ und „Turn“ ab. Dabei zeichnen sie die Genese des Postmigrantischen nach und verweisen auf dessen starke Verwurzelung im künstlerischen Bereich. Das Postmigrantische wird nicht als Forschungsfeld, sondern als gesellschaftlicher Istzustand und Geisteshaltung verstanden, welche Gesellschaft „radikal divers“ (S. 14) denkt. Dies spiegele sich ebenfalls im Präfix „post“ wider, das nicht auf eine Abgeschlossenheit von Migration hinweise, sondern das Ziel der Überwindung hegemonialer Narrative und Wissenspraktiken sprachlich aufgreife. Der Begriff „Turn“ stelle wiederum eine interdisziplinäre Neuausrichtung der Forschung dar, die – auch im Rahmen des Essays – strategisch eingesetzt wird, um Aufmerksamkeit zu erregen und Diskussionen zu entfachen.

Ausgehend davon plädieren Cramer, Schmidt und Thiemann für einen Postmigrant Turn. Ihr Essay stellt einen ersten Konzeptionsversuch in der Entwicklung des Postmigrantischen von einem (reinen) Forschungsgegenstand zu einer analytischen Kategorie dar. Diesem Anliegen entsprechend arbeiten sie drei postmigrantische Kategorien heraus – Narrative der Widerständigkeit, Verbündet-Sein und Autofiktion. In der Folge werden diese drei Analysekategorien auf künstlerische Arbeiten der drei Bereiche Literatur, Film und Soziale Medien angewandt. Dieser wissenschaftliche Rahmen spiegelt sich ebenfalls in der Gliederung des Hauptteils wider. So ist jedem künstlerischen Feld ein Kapitel gewidmet. Innerhalb der einzelnen Kapitel werden wiederum jeweils drei Beispiele präsentiert, welche auf die drei Analysekategorien hin untersucht werden.

Um die Kategorie des Postmigrantischen global zu denken, werden nicht allein Beispiele aus dem deutschen, sondern auch aus dem australischen Kontext angeführt. Wenngleich diese „Kontrastfolie“ (S. 8) auf den ersten Blick überrascht, verweisen die Autor:innen auf die Gemeinsamkeiten der deutschen und australischen Gesellschaftsstruktur. So verfügten beide Staaten trotz historischer Differenzen über eine postmigrantische Kulturszene, die sich durch widerständige Praktiken sowie Gegennarrative auszeichne und sich vor dem Hintergrund eines stetig populistischer werdenden gesellschaftspolitischen Klimas vollziehe.

Auf diese ausführliche theoretische Rahmung folgt das erste Kapitel des Hauptteils, das sich dem Feld der Literatur widmet und zunächst literaturhistorische Begriffsgeschichte betreibt. Dabei wird postmigrantische Literatur nicht als neues literarisches Genre, sondern als neue Perspektive auf den Literaturbetrieb aufgefasst. Im Anschluss daran steht mit Deniz Ohdes Debütroman „Streulicht“ (2020) sowohl das Element des autosoziobiografischen Schreibens als auch das Herkunftsnarrativ als Akt widerständigen Schreibens im Mittelpunkt. Dass individuelle Marginalisierungserfahrungen als Ausgangspunkt für abstrakte und komplexe Gesellschaftsdiagnosen und Gegennarrative dienen, macht auch das zweite Beispiel deutlich. Unter Bezug auf Kübra Gümüsays Buch „Sprache und Sein“ (2020) sowie Yasmin Alinays Magazin „Literarische Diverse“ arbeiten Cramer, Schmidt und Thiemann „Sprache und/als Widerstand“ (S. 35–46) heraus. So kann durch das Berichten, „wie es ist, nicht marginal zu sein, sondern marginalisiert zu werden“ (S. 35), ein Bewusstsein für die Arbitrarität hegemonialer Kategorisierungs- und Benennungspraktiken geschaffen sowie der Blick auf das (bislang) unhinterfragte, unbenannte Weiße geworfen werden. Die australische Schriftsteller:innengruppe „Sweatshop“ geht noch einen Schritt weiter und setzt sich unter anderem mit dem Reclaiming von (Fremd-)Zuschreibungen auseinander. Dabei steht nicht nur die Widerständigkeit autofiktiver Erzählungen im Vordergrund, sondern ebenfalls die Vernetzung linguistisch diverser Personen(-gruppen).

Das zweite Kapitel widmet sich dem postmigrantischen Film. Der Einstieg erfolgt erneut über eine historische Annäherung. So fordern migrantische Filmschaffende seit Beginn des 21. Jahrhunderts zunehmend eine Abkehr von Familiendramen im Kultur-Clash-Stil sowie die damit einhergehende (Re-)Produktion stereotyper Darstellung. Als Beispiele für diesen Perspektivenwechsel dienen die Adaption des Films „Berlin Alexanderplatz“ (2020) von Burhan Qurbanis, Faraz Shariats „Futur Drei“ (2020) und der australische Dokumentarfilm „In my blood it runs“ (2019). In Ersterem lässt Qurbanis einen jungen ghanaischen FluchtMigranten in die Rolle des Franz Bieberkopf schlüpfen und eignet sich somit das kanonische Sozialdrama als Inbegriff hegemonialer Narrative widerständig an. Im Gegensatz dazu handelt es sich bei „Futur Drei“ (2020) um einen Film, der um queere Liebe sowie Erfahrungen des Dazwischen-Seins als auch des Otherings kreist. Indem Faraz Shariat sowohl auf autofiktionale und gegennarrative Elemente zurückgreift, gelingt es ihm, nicht nur auf die Heterogenität innerhalb marginalisierter Personen(-gruppen) aufmerksam zu machen, sondern auch Fragen aufzuwerfen, „wer wessen Geschichte erzählen darf und wer vor und hinter der Kamera steht“ (S. 67). Diese Infragestellung des sogenannten white gaze spiegelt sich auch im australischen Dokumentarfilm „In my blood it runs“ (2019) wider, der sich mit den Lebensrealitäten von Natives auseinandersetzt. Weil er auf inhaltlicher und produktionspraktischer Ebene die Zusammenarbeit von Natives und Nicht-Natives forciert, stellt er ein gutes Beispiel von Verbündet-Sein dar.

Das dritte und letzte Kapitel verschreibt sich den Sozialen Medien. Diese werden als potenzieller Katalysator für die Vernetzung migrantischer Personen sowie als Plattform für politische Positionierung, Solidaritätsbekundungen und Selbstinszenierung aufgefasst. Am Beispiel sogenannter Karen-Memes – satirischer Darstellungen rassistisch agierender, wütender, weißer Frauen – arbeiten die Autor:innen das humorvolle, spottende Benennen von Rassismuserfahrungen als möglicher Bewältigungsstrategie heraus. Gleichzeitig machen sie auf sexistische, klassistische und altersdiskriminierende Fallstricke dieser Bildpraxis aufmerksam und beklagen die fehlende Solidarität mit den Diffamierten. Dass Soziale Medien einen großen Anteil in der Etablierung von globalen Netzwerken und Bündnissen haben, zeigen wiederum die letzten zwei Beispiele des Essays. So fördere das Projekt „(W)Ortwechseln“ das Zusammen- und Miteinander-Schreiben von Tandempartner:innen aus Kriegs- und Krisengebieten über Sprach- und Formgrenzen hinweg. Und auch der während der COVID-19-Pandemie viral gegangene Hashtag „#IAmNotAVirus“, der auf den ansteigenden antiasiatischen Rassismus aufmerksam machte, führe die selbstermächtigende, verbindende und solidarische Nutzung Sozialer Medien deutlich vor Augen.

Unter Bezug auf die angeführten Beispiele betonen die Autor:innen in ihrem Fazit den Stellenwert von Autofiktion, Widerständigkeit und Verbündet-Sein in künstlerischen Arbeiten, heben die notwendige Ergänzung dieser drei Analysekategorien hervor und verweisen auf das Anfangsstadiums des Postmigrant Turns sowie den Wunsch, diesen in Zukunft transdisziplinär zu gestalten. Indem sie Urbanität, Sprache und Mobilität als jedoch mögliche alternative Analysekategorien aufzeigen, kommen sie implizit auf eine Leerstelle des Essays zu sprechen – die Auswahl der Analysekategorien und künstlerischen Bereiche. Diese fällt – im Gegensatz zur klaren Struktur des Essays sowie der stichhaltigen Argumentation im empirischen Teil – (zu) kurz aus und wird primär mit Blick auf den Umfang des Essays eingeschränkt. Dies ist umso verwunderlicher, nimmt sich der Essay sonst den (notwendigen) Raum und die Zeit, die Leser:innen an das Postmigrantische heranzuführen und die eigene Forschungsperspektive offenzulegen. Nicht zuletzt aufgrund dieser reflektierten Haltung gelingt es Cramer, Schmidt und Thiemann, mit ihrem Essay (dennoch), einen ersten Grundstein für die Etablierung des Postmigrantischen als Analysekategorie zu legen und damit die Diskussion über und die Konzeption eines Postmigrant Turn voranzutreiben.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch