Cover
Titel
Wissen ordnen und entgrenzen – vom analogen zum digitalen Europa?.


Herausgeber
Berger, Joachim; Wübbena, Thorsten
Reihe
Ein Europa der Differenzen / Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz
Erschienen
Göttingen 2023: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
251 S., 18 farb. Abb.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Timo Steyer, Universitätsbibliothek, Technische Universität Braunschweig

Die Auswirkungen von Wissensordnungen auf gesellschaftliche Differenzierungen in der europäischen Geschichte sind das Thema des im Open Access erschienenen Tagungsbandes „Wissen ordnen und entgrenzen – vom analogen zum digitalen Europa?“. Der von Joachim Berger und Thorsten Wübbena herausgegebene Band schließt die vierbändige Reihe „Ein Europa der Differenzen“ ab, die aus einem von 2012 bis 2023 laufenden Forschungsprogramm am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG) hervorgegangen ist.

Die Herausgeber nehmen in der Einleitung des Bandes unter Berücksichtigung des aktuellen Forschungsstandes die notwendigen Begriffsklärungen und Differenzierungen vor. Drei Leitfragen bilden den inhaltlichen Rahmen des Bandes (Handlungspraxis, Europäizität und Bedeutung des Digitalen) (S. 11f.). Diese Fragen werden von je einem historischen und systematisch-gegenwartsbezogenen Beitrag thematisiert, die sich wiederum auf fünf thematische Sektionen verteilen. Es sei vorweggenommen, dass die Wahl der Zugänge und Beiträge überzeugt. Die Aufsätze gewähren in ihrer Zusammenstellung wertvolle Einblicke in ausgewählte Forschungsaktivitäten sowie deren Schnittpunkte.

Der erste Themenkomplex widmet sich „Sprache, Lernen und Hierarchisierung: von Esperanto bis DeepL“. Zu Beginn stellt Bernhard Struck in seinem Beitrag „Sprachen und Wissen(-sordnungen) um 1900“ dar, warum sich Englisch als globale Sprache etablierte und vor allem in den Wissenschaften sowie der Vermittlung von Wissen eine dominierende Rolle einnimmt (S. 27f.). In dem gut lesbaren und informativen Beitrag wird auch auf das Konzept der Plansprachen beziehungsweise Hilfssprachen eingegangen, deren „Existenz demonstriert, dass es um 1900 keine Sprache gab, die in der Lage gewesen wäre, in einer sich rapide globalisierenden Welt als Brückensprache oder Lingua Franca zu fungieren.“ (S. 32). Am Beispiel Esperanto demonstriert der Autor die Bemühungen und Hoffnungen, Wissensordnungen durch eine gemeinsame und vernetzte Sprache zu entgrenzen.

Den Einfluss von Algorithmen auf Sprache untersucht Jürgen Hermes in seinem Beitrag „Durch neuronale Netze zur Lingua Franca. Wie Algorithmen unsere Kommunikation bestimmen“ am Beispiel des Übersetzungstools DeepL. Der thematische Schwerpunkt liegt auf den Konsequenzen der Durchsetzung solcher Neural Machine Translation (NMT) (S. 48). Der Beitrag skizziert die Grundlagen von Sprache, Sprachverständnis und Kommunikation in kurzweiliger und verständlicher Weise. Aber auch Kritikpunkte wie. beispielsweise der hohe Energieaufwand, die Fokussierung auf weitverbreitete Sprachen (Hierarchie der Wissenssprachen) und die Bevorzugung wirtschaftlich stärkerer Länder werden genannt (S. 64).

Die zweite Sektion widmet sich den räumlichen Aspekten im Kontext der Wissensordnungen. Monika Barget beschreibt in ihrem Beitrag Eigenschaften, Verbreitungsmethoden und Akteure im Raumwissen der Frühen Neuzeit vor dem Hintergrund der Frage nach deren europäischer Dimension (S. 68). Dabei werden Entwicklungen wie eine zunehmende Standardisierung und Verständigung von Raumkonzepten ebenso thematisiert wie „typische“ Phänomene der Frühen Neuzeit, darunter der Umgang mit Unbekanntheit und Unsicherheit von Räumen. Einen weiteren Schwerpunkt bildet die europäische Raumerfassung als Machtinstrument und Monopolisierungsversuch von Raumwissen (S. 73ff.).

Aus der Perspektive eines Geoinformatikers widmet sich René Westerholt den durch die Digitalisierung bedingten Änderungen von Raumwissen. Er konstatiert eine zunehmende Bedeutung von dezentralen, soziotechnischen Organisationsformen für die Erstellung geographischer Informationsressourcen (S. 87). Gerade die Alltagseinbettung digitaler Dienste führt zu neuartigen Raumkonzepten im Schnittfeld von Analogem und Digitalem (S. 113). Es ist dabei noch offen, inwieweit sich die neuartigen digitalen Wissensbestände verstetigen, sich mit den etablierten Wissensbeständen vereinigen oder selbstständig weiter existieren werden.

Die folgende Sektion zum Oberthema Objektsammlungen und ihre digitale Repräsentation wird mit einem Beitrag von Joëlle Weis zur Funktion der Selbsthistorisierung von Museen für ihre Sammlungen eröffnet (S. 119). Dabei kritisiert die Autorin das traditionelle Narrativ der Entwicklung musealer Sammlungen von „kosmisch-göttlicher (Un-)Ordnung zur Museumssammlung“ (S. 124) als teleologisch. Dies sei nicht zuletzt auch einem universellen Denken und dem Wunsch nach Wissensordnungen unter europäisch-westlichen Taxonomien geschuldet. Gerade in der Digitalisierung sieht die Autorin aber die Chance, Sammlungen aus bestehenden Ordnungsmustern herauszulösen, sofern die „alten“ Ordnungen bei der Digitalisierung nicht mit reproduziert werden (S. 130).

Im Beitrag „Algorithmus statt Denkmälerkenntnis?“ thematisiert Thorsten Wübbena die Darstellung von Wissensordnungen im Knowledge Graph. Der Autor sieht den Vorteil des Knowledge Graph – über eine Wissensdarstellung und -verknüpfung hinaus – in einer Demokratisierung und Entgrenzung von Wissen (S. 134). Als Beispiel wird die Entkopplung von kunsthistorischen Analysefragen von der Denkmälerkenntnis angeführt. Neben gezielten Suchen sind gerade Überraschungsfunde durch das Durchlässigmachen von Fach- und Disziplingrenzen der große Vorteil des Knowledge Graph (S. 138). In einer Entwicklung eines Open Science Knowlegde Graph versteht der Autor das zentrale Erfolgskriterium für die Durchsetzung des Knowledge Graph innerhalb der Geisteswissenschaften (S. 155).

Die vierte Sektion widmet sich Diskursen, Netzwerken und Argumenten im Kontext von Wissensordnungen. Im ersten Beitrag von Aline Deicke, Henning P. Jürgens und Demival Vasques Filho werden Parallelen zwischen der Medienrevolution zu Zeiten der Reformation mit der aktuellen digitalen Medienrevolution (S. 159f.) gezogen. Gerade die innerlutherischen Streitigkeiten sind dabei von einer hohen Dynamik geprägt, die bisher in der Forschung nicht ausreichend berücksichtigt worden ist (S. 170). Im zweiten Teil des Beitrags werden heutige Kommunikations- und Medienphänomene (zum Beispiel Whistleblowing oder Retweet) auf die reformatorischen Diskurse übertragen. Im dritten Teil des Aufsatzes wird die Relevanz von Netzwerken auf Basis des Forschungsprojekts „Controversia et Confessio“ dargestellt (S. 179).

Simon Meier-Vieracker thematisiert unter dem Titel „Expertentum unter Bedingungen der Digitalität. Disruptive Implikationen der digitalen Transformation der Wissenschaft“ das Spannungsfeld des Expertentums im digitalen Zeitalter: „In einer Kultur der Digitalität mit ihren Kommunikations- und Partizipationsmöglichkeiten sind die etablierten Wissensordnungen in unserer Gesellschaft einer grundlegenden Transformation unterworfen“ (S. 182). Der Autor sieht in der digitalen Transformation eine disruptive Medieninnovation, welche die bestehenden wissenskommunikativen Ordnungen infrage stellt. Anstelle von Wissenshierarchien tritt eine Pluralisierung mit den bekannten Störeffekten. Am Ende wägt der Beitrag die Vorteile und Nachteile der Wissenschaftskommunikation gerade in den sozialen Medien ab. Dies tut er überzeugend, jedoch bleiben aktuelle Entwicklung bei X (ehemals Twitter) noch unerwähnt.

Die fünfte und letzte Sektion des Bandes („Europa als Wissensordnung: Ein- und Entgrenzungen von der ‚Cosmographia‘ zur europäischen Dateninfrastruktur“) beginnt mit einem Beitrag von Joachim Berger zu raumzeitlichen Ordnungsversuchen der Historiographie. Dabei stellt der Autor die Frage nach den raumzeitlichen Prinzipen in Gesamtdarstellungen der europäischen Geschichte und fragt nach Änderungen in den Ordnungen des Wissens durch zeitgenössische Europa-Geschichten (S. 202). In dem Beitrag werden verschiedene Merkmale und Modelle herausgearbeitet, welche (die Eigendarstellung von) Europa in eigenen und fremden Wissensordnungen konstituieren. Da Europa nie ein politisch geeintes Gebilde war, ist „Diversität“ (S. 213) ein wesentliches Merkmal. Aber auch die europäischen Weltbeziehungen fanden ihren Nachschlag im europäischen Gesamtnarrativ und verbinden sich mit diesem. Der Autor plädiert dafür, die Geschichte Europas stärker multiperspektivisch darzustellen und globale Bezüge deutlicher herauszuarbeiten (S. 224).

Der Frage, ob Forschungsinfrastrukturen eine europäische Wissensordnung darstellen, geht der Text von Mirjam Blümm nach. Einleitend wird ein Überblick über die digitalen Forschungsinfrastrukturen mit einem Fokus auf Europa gegeben. Ausgehend von einer förderpolitischen Perspektive stellt die Autorin das auf den Bedürfnissen der Fachdisziplinen basierende Konzept und die Konzeption der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur (NFDI) vor. Die Forschungsinfrastrukturen können als Repräsentation von Fächern verstanden werden, auch wenn gerade die Geisteswissenschaften in ihrer Heterogenität in den Forschungsinfrastrukturen weniger sichtbar sind (S. 234). Die Potenziale der Forschungsinfrastrukturen sind auch als Chance der internationalen Öffnung und Kooperation zu sehen: „[…] der Gewinn für alle ist eine diversere und umfassendere Wissensordnung, die möglicherweise eine globalere Sicht auf die komplexen, weltweiten Herausforderungen unserer Zeit ermöglicht.“ (S. 242)

Insgesamt geht die Konzeption des Bandes auf: Die Vielfalt an Sichtweisen und Interpretationen von Wissensordnungen wird dabei ebenso deutlich wie die Notwendigkeit, europäische Perspektiven zu verlassen und Wissensordnungen global zu denken. Der Band ist für ein breites Fachpublikum von Interesse. Der hohe Grad an Interdisziplinarität bringt es mit sich, dass nach eigener Expertise der Einstieg und Zugang zu einzelnen Beiträgen leichter oder schwerer fällt. Doch diese Kritik soll die gewinnbringende Lektüre nicht schmälern.

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