O. Rathkolb u.a.: Die "Reichsforste" in Österreich 1938-1945

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Titel
Die "Reichsforste" in Österreich 1938-1945. Arisierung, Restitution, Zwangsarbeit und Entnazifizierung. Studie im Auftrag der Österreichischen Bundesforste


Autor(en)
Rathkolb, Oliver; Wirth, Maria; Wladika, Michael
Erschienen
Anzahl Seiten
407 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Zechner, Berlin

„Tu felix Austria“ – mit jener ursprünglich auf die habsburgische Heiratspolitik gemünzten Formel ließ sich lange die offizielle österreichische Einstellung gegenüber dem schwierigen Erbe der NS-Herrschaft umschreiben. Während die Bundesrepublik Deutschland zumindest finanziell Verantwortung für immer mehr Opfergruppen übernahm, stilisierte sich Österreich schon in seiner Unabhängigkeitsproklamation vom 27. April 1945 zum „ersten Opfer“ Hitlers.1 Erst als dieser erinnerungspolitische Konsens Mitte der 1980er-Jahre in der „Waldheim-Affäre“ zu bröckeln begann, setzte auf breiter Front die Auseinandersetzung mit der verdrängten Vergangenheit ein.

Gerade die Aufarbeitung der Themen „Arisierung“ und Zwangsarbeit machte in der Folge deutlich, dass österreichische Betriebe, Institutionen und Privatpersonen zu den Profiteuren von Diskriminierung und Verfolgung gehört hatten. In diesen aufarbeitungsgeschichtlichen Kontext fügt sich die zu besprechende Publikation über die „Reichsforste“ in Österreich, also die vom Reichsforstamt in Berlin und seinen regionalen Außenstellen verwalteten Forstflächen in der „Ostmark“.2 Die Studie wurde 2005 als „wichtige Etappe im Zuge des aktiven Umgangs mit der Unternehmensgeschichte“ (Vorwort des Vorstandssprechers, S. 7) von der Österreichischen Bundesforste AG in Auftrag gegeben, der heute die staatlichen Waldflächen zugeordnet sind.

Im Rahmen der Recherchen sichtete ein Historikerteam unter Leitung des einschlägig ausgewiesenen Wiener Zeitgeschichtlers Oliver Rathkolb umfängliche Archivbestände in Österreich und Deutschland. Auf dieser empirischen Basis konnten die Themenkomplexe NSDAP-Mitgliedschaft/Entnazifizierung sowie „Arisierung“/Restitution detailliert dargestellt werden, wohingegen die Quellenlage zur Zwangsarbeit kaum weitreichende Schlüsse erlaubte. Es sollte diesbezüglich eigentlich nicht der expliziten Erwähnung wert sein müssen, dass den Historikern „uneingeschränkte wissenschaftliche Unabhängigkeit“ (S. 13) zugesichert wurde.

Interessante Erkenntnisse bietet der von Maria Wirth verfasste Abschnitt zur NSDAP-Mitgliedschaft der Forstbediensteten, der auf statistischen Samples der oberen und mittleren Personalebene von 1937, 1939 und 1955 beruht. Demzufolge lag der Anteil der Nationalsozialisten mit 72% bzw. bis zu 75% „weitaus höher“ (S. 61) als die 10 bis 11% in der Gesamtbevölkerung, womit fast der Prozentsatz in der Forstwirtschaft des „Altreichs“ erreicht wurde.3 Zudem waren knapp zwei Drittel von ihnen „Alte Kämpfer“ oder „Illegale“, das heißt schon vor dem „Anschluss“ im März 1938 und daher kaum aus karrieristischen oder opportunistischen Gründen beigetreten. Bloß geringfügig niedriger ist der Anteil ehemaliger Parteimitglieder im dritten Datensatz, da laut Wirth nach 1945 für die Mehrzahl der Fälle „gute Chancen auf eine Weiterbeschäftigung“ (S. 105) bestanden.

Gegenüber einer solchen Detailfülle fällt das von Oliver Rathkolb und Vera Ahamer verantwortete Kapitel zur Zwangsarbeit nicht allein längenmäßig ab. Zu Beginn werden einige grundlegende Begrifflichkeiten, Definitionen und Zahlen thematisiert, es folgen Ausführungen zu den allgemeinen Arbeits- und Lebensbedingungen von Zwangsarbeitern in Land- und Forstwirtschaft. Etwas aus dem Blick gerät darüber freilich die spezifische Situation bei den „Reichsforsten“, wo 1.411 Personen ermittelbar waren – Rathkolb und Ahamer zufolge wohl lediglich ein Teil der dort insgesamt zur Arbeit Gezwungenen. Obgleich diese Unzulänglichkeiten der dürftigen Aktenlage und nicht den Autoren selbst geschuldet sind, ergibt sich aus den Darlegungen ein vergleichsweise geringer Erkenntnisgewinn.

Informativer ist demgegenüber der ausführliche Beitrag zur „Arisierung“ aus der Feder von Michael Wladika. Da eine Verdopplung des Staatswaldes von ungefähr 12% auf 25% wie im „Altreich“ avisiert war, versuchte die Reichsforstverwaltung eifrig von enteignetem Vermögen zu profitieren. Zahlreiche Beispiele belegen die dabei offenbar unvermeidlichen „Revierkämpfe(n)“ (S. 357) der nationalsozialistischen Ämter-Polykratie wie Reichsebene versus Gauebene oder Reichsforstamt versus Reichskommissariat für die Festigung deutschen Volkstums. Fälle einer kleinlich-legalistischen Restitutionspolitik nach 1945 charakterisiert Wladika als „wenig opferfreundlich und geradezu zynisch“ (S. 379), zumal auch ehemalige „Arisierer“ als Gutachter für den Profiteur fungierten. Einzig zu kritisieren bleibt hier ein sehr weitgefasster „Arisierungs“-Begriff, der jeden politisch oder rassistisch motivierten Vermögensentzug zu umfassen scheint.

Für die vorliegende Veröffentlichung lässt sich bilanzieren, dass sie eine Vielzahl direkt aus den Akten gearbeiteter Detailinformationen erstmals einem breiten Publikum präsentiert. Damit stellt sie eine weitere notwendige Facette dar in der nachgeholten Beschäftigung mit der NS-Geschichte Österreichs nebst der darauf folgenden Vergangenheitspolitik. Beleg für eine tatsächlich unabhängige Haltung gegenüber dem Auftraggeber sind diejenigen Abschnitte, die sich kritisch mit der schleppenden Entnazifizierung und Restitution nach 1945 befassen. Dadurch relativieren die Autoren en passant die Beteuerungen der Österreichischen Bundesforste AG, ihre Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte sei „von der frühen Nachkriegszeit bis zur Gegenwart durchgehend“ (S. 7) erfolgt.

Dessen ungeachtet gilt es einige Kritikpunkte festzuhalten, die allerdings eher stilistischer als inhaltlicher Natur sind. Sie resultieren vor allem daraus, dass die Studie ursprünglich als Gutachten in Auftrag gegeben und offensichtlich für den Druck dann nicht mehr überarbeitet wurde. Die ausführlichen Darstellungen bürokratischer Geschäftsgänge sind mitunter kaum mehr als Aktenparaphrasen, welche zumindest die nicht-verbeamteten Leser auf Dauer ermüden dürften. Zudem wird bedauerlicherweise die Verständlichkeit des Textes durch Bandwurmsätze von bis zu zehn Zeilen nicht unerheblich gehemmt.

Darüber hinaus sind einige grobe sprachliche Schnitzer zu verzeichnen, wenn beispielsweise die Rede ist von „männlichen Zwangsarbeitern/innen“ (S. 150), dem Eigentum „deutscher privater Staatsbürger“ (S. 231) oder der „Zerreißung der Tschechoslowakei“ (S. 238) im September 1938. Die recht spärliche Bebilderung wirkt wie im Nachhinein als Verlegenheitslösung eingefügt, oft zu kleinformatig und teilweise willkürlich. In der Einführung zum „Arisierungs“-Kapitel etwa ist ein Standbild aus dem ansonsten nicht weiter erwähnten NS-Propagandafilm „Ewiger Wald“ (vgl. S. 164) wiedergegeben, der aber mit besagter Thematik überhaupt nichts zu tun hat.4

Aus der Perspektive des Ideenhistorikers unbefriedigend erscheint schließlich die Verkürzung auf einen rein politik- und verwaltungsgeschichtlichen Ansatz, wie er in der Tradition der Forstgeschichtsschreibung gleichfalls noch geläufig ist. Demgegenüber werden weltanschauliche Aspekte nur in einer Fußnote (vgl. S. 74, FN 189) kurz erwähnt, finden jedoch in der Studie selbst keine Berücksichtigung.5 Gleichwohl kann das historische Agieren der Reichsforstverwaltung in Österreich nicht hinreichend erklärt werden, ohne das komplexe Zusammenspiel von politisch-administrativen und ideellen Faktoren angemessen in die Analyse einzubeziehen.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu Heidemarie Uhl, Das „erste Opfer“. Der österreichische Opfermythos und seine Transformationen in der Zweiten Republik, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, Jg. 30 (2001), H. 1, S. 19-34, online verfügbar unter <http://www.oezp.at/pdfs/2001-1-02.pdf> (01.06.2010); sowie den Volltext der österreichischen Unabhängigkeitsproklamation vom 27. April 1945 unter <http://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=100002040204> (01.06.2010).
2 Vgl. zur österreichischen Forstgeschichte vor dem „Anschluss“ Norbert Weigl, Österreichs Forstwirtschaft in der Zwischenkriegszeit 1918-1938, Wien 1997.
3 Vgl. zur NS-Forstwirtschaft grundlegend Heinrich Rubner, Deutsche Forstgeschichte 1933-1945. Forstwirtschaft, Jagd und Umwelt im NS-Staat, 2. erweiterte Auflage St. Katharinen 1997 [1. Aufl. 1985].
4 Vgl. zu „Ewiger Wald“ etwa Ulrich Linse, Der Film EWIGER WALD – oder: die Überwindung der Zeit durch den Raum. Eine filmische Umsetzung von Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts, in: Ulrich Herrmann / Ulrich Nassen (Hrsg.), Formative Ästhetik im Nationalsozialismus. Intentionen, Medien und Praxisformen totalitärer ästhetischer Herrschaft und Beherrschung, Basel 1993, S. 57-75; sowie Thomas Meder, Die Deutschen als Wald-Volk. Der Kulturfilm EWIGER WALD (1936), in: Guili Liebman Parrinello (Hrsg.), Il bosco nella cultura europea tra realtá e immaginario, Rom 2002, S. 105-129.
5 Vgl. zu den weltanschaulichen Aspekten etwa Michael Imort, „Eternal Forest – Eternal Volk“. The Rhetoric and Reality of National Socialist Forest Policy, in: Franz-Josef Brüggemeier / Mark Chioc / Thomas Zeller (Hrsg.), How Green Were the Nazis? Nature, Environment, and Nation in the Third Reich, Athens, OH 2005, S. 43-72; sowie Johannes Zechner, „Ewiger Wald und ewiges Volk“. Die Ideologisierung des deutschen Waldes im Nationalsozialismus, Freising 2006.

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