Unter Multidisziplinarität verstehen Wissenschaftstheoretiker in der Regel die Bearbeitung eines Themas durch Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen voneinander unabhängiger Disziplinen, wobei zwischen diesen kein bedeutsamer theoretischer, methodischer oder begrifflicher Austausch stattfindet. Der Begriff der Multidisziplinarität ist denn auch verstärkt seit den 1950er-Jahren verbürgt, teilweise synonym mit dem Begriff der Pluridisziplinarität verwendet. Wichtigstes Merkmal dieses Ansatzes ist die Orientierung auf ein gemeinsames Thema (was nicht gleichzusetzen ist mit einer Orientierung auf ein Problem!). Die Folge ist das Fehlen einer einheitlichen konzeptionellen Rahmenstruktur. Auch erfolgt keine Erarbeitung gemeinsamer Lösungsstrategien, sondern jede Disziplin definiert und bearbeitet ihre Problemstellung „in splendid isolation“. Daher kann eine Synthese bestenfalls additiv erfolgen.1
Genau das geschieht in dem vorliegenden Band, dem man insofern bescheinigen muss, dass darin ist, was darauf steht. Hier wird kein Etikettenschwindel begangen: mehr als ein multidisziplinärer Zugang zum Thema „American Exceptionalism“ wird nicht verfolgt und angeboten, und das ist zugleich die Stärke des Sammelbandes und seine größte Schwäche. Die Beiträgerinnen und Beiträger stammen dabei aus den unterschiedlichsten Fächern von Musikwissenschaft bis zur Geografie, wenn auch ein gewisses Übergewicht der Historiker zu verzeichnen ist. Immerhin befinden sich unter dreizehn Beiträgen auch zwei von Kolleginnen – damit ist der Band ein klarer Schritt zurück hinter die auch an deutschen Universitäten inzwischen geltenden Regeln der Gleichstellungspolitik.
Man wird beim Lesen des mit etwas über 200 Seiten nicht gerade üppigen Bandes den Eindruck nicht los, als hätten die Herausgeber eine launige Ringvorlesung geplant und sich dann nach Semesterabschluss beim Bier darüber geeinigt, dass das doch gut gelaufen sei und man aus den einzelnen Vorlesungen genauso gut einen Band machen könne. Dabei finden sich unter den sehr unterschiedlichen Aufsätzen durchaus beachtliche und wichtige Beiträge, etwa der Knud Krakaus zum Exzeptionalismus, dem es gelingt einen großen Bogen zu schlagen, in dem er die Spiritualität und Religiosität der nordamerikanischen Kolonien und der Vereinigten Staaten mit dem Missionsgedanken verbindet, wobei Mission hierbei durchaus mehr als eine Bedeutung gewinnt: Die theologische Mission ließ sich leicht in eine politische Mission übertragen, deren Zweck die Mittel rechtfertigte. Am Ende dieser Entwicklung stand die „Bibel des Kalten Krieges“ NSC 68 (S. 71) und die Praxis der Folter in amerikanischen Sonderlagern, wie Krakau überzeugend zeigen kann. Ähnlich fundiert und interessant zu lesen ist der Beitrag von Dorothea Fischer-Hornung und Dieter Schulz zum Multikulturalismus in der amerikanischen Literatur, der schon (und das lange vor den Debatten um den Salonrassisten Thilo Sarrazin) auf die Bedeutung der amerikanischen Debatte um „Multiculturalism“ für das Einwanderungsland Deutschland hinweist. Wohltuend ist die Differenziertheit der beiden Autor/inn/en, wo es um die Existenz einer „Hegemonialkultur“ im Gegensatz zur problematischen „Leitkultur“ geht. Differenziert auch die Diskussion der Begriffe „Schmelztiegel“ und „Salatschüssel“, die lange Zeit die Diskussion um „Integration“, „Assimilation“ und „Americanism“ dominiert haben. Hier sollten deutsche Leser/innen genau hinsehen. Die Politologin Beate Neuss stellt sich der Frage, wozu wir die Amerikaner (noch) brauchen. Auch hier wird also eine deutsche Befindlichkeit verhandelt, die sich in dem „wir“ des Titels ausdrückt. Waren die USA nach 1945 in Europa vor allem in der dualen Rolle des „Pacifier“ und des „Balancer“ unterwegs, so drückte sich darin ihre Funktion als „gütiger Hegemon“ aus, eine gelungene Begriffsbildung, wenn damit die Resonanz der hegemonialen Form der Macht à la Gramsci gemeint sein soll. Hegemonie nach Gramsci zeichnet sich ja gerade nicht durch Gewaltherrschaft oder offene Machtausübung, sondern eher durch kulturelle Einbindung der subalternen Mitglieder der Gesellschaft aus.2 Ich hätte mir gewünscht, dass in diesem Kontext auch eine Diskussion der „weichen“ Formen der Macht erfolgt wäre, die ja für die Hegemonie der USA von entscheidender Bedeutung ist – man denke nur an die massenmediale Präsenz der USA in Deutschland nach 1945. Die Autorin konstatiert eine politische Entfremdung der USA und Europas in den 1990er-Jahren, aber vollends nach 2001; dem ist sicherlich zuzustimmen (S. 217 f.). Sie zeigt aber auch konkret auf, auf welchen Feldern diese Entfremdung stattgefunden hat und beantwortet dann die Frage nach der Bedeutung der USA für Europa und Deutschland eindeutig: Ja, ohne die USA wäre der Zustand der Weltpolitik und der europäischen Position in ihr noch viel beklagenswerter. Die Europäer bräuchten die USA als Ordnungsmacht. Dies ist auch eine klare Warnung an die deutsche Adresse. Der Drang zur multipolaren Welt, den die Deutschen gerne betonen, erlaube es der deutschen Regierung zwar, sich in der „Weltpolitik“ stärker einzubringen, aber auf Kosten der Stabilität des Staatensystems. Die Verfasserin plädiert deshalb für eine funktionierende Partnerschaft mit den USA und schlägt vor, das in Mitleidenschaft gezogene Verhältnis zu den USA zu reparieren. Dies ist ein Beitrag, der nachdenklich stimmt, selbst wenn man seine Prämissen nicht teilt.
Neben einigem Licht finden sich auch ausgedehnte Schattenpartien. Der Jurist Winfried Brugger diskutiert den Begriff der „Hassrede“ ohne Bezugnahme auf die einschlägige nichtjuristische Literatur, was klar dem multidisziplinären Ansatz des Bandes geschuldet ist. Sicherlich kann man in einem kurzen Aufsatz nicht alle seit 1992 zu diesem Thema geschriebenen Monografien erwähnen, doch wäre eine Zur-Kenntnisnahme einiger Ansätze auch in einem multidisziplinären Aufsatz vertretbar.3 Wie man über dieses Thema schreiben kann, ohne die Philosophin Judith Butler und die von ihr angestoßene und in Deutschland rezipierte Diskussion auch nur – und sei es kritisch – zu erwähnen, ist mir ein Rätsel.4 Der ganze Beitrag atmet den Geist positivistischer Befunde, über kulturelle Unterschiede zwischen den USA und Deutschland wird kaum nachgedacht. Zwar vergnüglich zu lesen und von hohem intellektuellen Niveau, aber ohne jeden Bezug zum Generalthema des Bandes ist der Beitrag des Philosophen Andreas Kemmerling zum Pragmatismus. Hier wird die Disparität des Bandes deutlich, der aus einer thematisch nur lose zusammengehaltenen Ringvorlesung hervorgegangen ist.
Die übrigen Kapitel des Buches referieren Altbekanntes, teilweise Überholtes oder Fragwürdiges. Dazu gehört auch der Beitrag Detlef Junkers zum „auserwählten Volk“ der USA, der von Allgemeinplätzen und persönlichen Aperçus strotzt, aber keinen Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion leistet. Insgesamt hätten die Herausgeber die Aufsätze stärker bündeln und ein präziseres methodisches und begriffliches Gerüst errichten sollen, an dem sich die Beiträger/innen hätten orientieren können. So wurde eine Chance vertan, etwas Substantielles zu dem beizutragen, „was Amerika ausmacht“.
Anmerkungen:
1 Philipp W. Balsiger, Transdisziplinarität. Systematisch-vergleichende Untersuchung disziplinübergreifender Wissenschaftspraxis, München 2005, S. 151-154.
2 Kate Crehan Gramsci, Culture, and Anthropology, Berkeley 2002, S. 104.
3 Henry Louis Gates, Speaking of Race, Speaking of Sex. Hate Speech, Civil Rights, and Civil Liberties, New York 1994; Jon B. Gould, Speak No Evil. The Triumph of Hate Speech Regulation, Chicago 2005; Steven J. Heyman, Hate Speech and the Constitution, New York 1996; Gill Jagger / Judith Butler, Sexual Politics, Social Change and the Power of the Performative, London 2008; Kevin W. Saunders, Degradation. What the History of Obscenity Tells Us About Hate Speech, New York 2010; Samuel Walker, Hate Speech. The History of an American Controversy, Lincoln 1994; Martha T. Zingo, Sex/Gender Outsiders, Hate Speech, and Freedom of Expression. Can They Say That About Me?, Westport 1998.
4 Judith Butler, Excitable Speech. A Politics of the Performative, New York 1997. Deutsch: Dies., Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt am Main 2006.