Am Anfang war die Französische Revolution. Oder vielleicht die Bibel, wenn nicht sogar die alten Griechen. So ließen sich bekannte Narrative über den „Ursprung“ der Menschenrechte zusammenfassen, die diese als tief in westlichen Werten verwurzeltes Ergebnis einer langen Geschichte deuten. Menschenrechte sind aber eine Erfindung überraschend jungen Datums: Ihren Durchbruch hatten sie erst in den späten 1970er-Jahren, argumentiert Samuel Moyn, Professor an der Columbia University in New York. Moyn gehört zu einer Reihe vor allem jüngerer Historiker, die in den letzten Jahren begonnen haben, die Menschenrechte zu historisieren. Die Geschichtsschreibung der Menschenrechte hatten die Historiker zuvor lange Zeit Praktikern der Menschenrechtspolitik und Vertretern anderer Disziplinen überlassen, vor allem Politik- und Rechtswissenschaftlern sowie Moralphilosophen. In beiden Fällen wurden häufig gegenwärtige Annahmen über die Menschenrechte in die Vergangenheit zurückprojiziert. Auf der Grundlage veröffentlichter Primärquellen sowie erster Ergebnisse der neueren Forschung unterzieht Moyn diese Narrative nun einer genauen Überprüfung.
Der Autor versteht die Menschenrechte in ihrer aktuellen Inkarnation als „utopisches Programm“. Als im Laufe der 1970er-Jahre andere Formeln der Verbesserung der Welt, wie der Sozialismus oder der Antikolonialismus, stark an Glaubwürdigkeit und Bindekraft verloren hatten, schlug die Stunde der Menschenrechte: Als moralische Alternative zu stärker politisierenden Programmen der Heilsverkündung wurden sie zur letzten überlebenden Utopie. Ihre historische Kontingenz bedeutet aber, dass sie das nicht bleiben müssen: In einem veränderten politischen Klima könnte auch ihre Strahlkraft verblassen.
In einer Mischung aus chronologischem und thematischem Zugriff zeigt Moyn, dass weder die Naturrechte der Frühen Neuzeit noch die Rechtserklärungen der atlantischen Revolutionen des 18. Jahrhunderts mit den heutigen Menschenrechten viel gemein haben. Im Englischen wird das noch deutlicher. Die „natural rights“ und vor allem die „rights of man“ waren konkurrierende Universalismen, die die „human rights“ überwinden mussten: Letztere richten sich in der Berufung auf überstaatliche Normen tendenziell gegen staatliche Souveränität, während ihre zwei Vorgänger genau in dieser Souveränität verankert waren. Die Liaison des Nationalstaats mit seinen Bürgern brachte auch deren Rechte hervor; ohne den modernen Staat waren die Rechte des Individuums nicht denkbar, denn dieser trat historisch als ihr Garant in Erscheinung.
Aber auch mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 war der Aufstieg der internationalen Menschenrechte noch nicht zwingend vorgezeichnet. Im harschen Klima der internationalen Politik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren ihre Überlebenschancen gering. Die Menschenrechte waren Teil eines „re-recasting of bourgeois Europe“, wie Moyn in Anlehnung an Charles Maier formuliert (S. 78): Sie wurden als konservatives, christliches Programm in Antwort auf die totalitären Regime der 1930er- und 1940er-Jahre in die internationale Politik eingeführt. In der öffentlichen Rezeption blieben sie jedoch relativ marginal. Das gilt in noch stärkerem Maße für die einen Tag nach der Menschenrechtserklärung verabschiedete Anti-Genozid-Konvention. Diese war das Ergebnis der Lobbyarbeit des Einzelkämpfers Raphael Lemkin, der die Genozidprävention als mit den individuellen Menschenrechten konkurrierendes Programm verstand.
Die durch die globale Konfrontation des Kalten Kriegs zementierte Nachkriegsordnung besiegelte das Ende des kurzen Moments, in dem die Menschenrechte ein internationales Thema waren. Für die Sowjetunion und die antikoloniale Bewegung des globalen Südens spielten kollektivistische Ideale ohnehin eine größere Rolle als individuelle Menschenrechte. Die USA hatten sich noch in ihrer Kriegspropaganda stellenweise auf sie berufen, ließen die Menschenrechte nun aber zugunsten realpolitischer Prinzipien von der Agenda fallen. Von kollektiver Selbstbestimmung war nicht mehr die Rede. Die individuellen Menschenrechte wurden zur universalistischen Sprache der UN-Erklärungen, gerade weil die Gefahr, dass sie weitreichende Konsequenzen zeitigen könnten, als gering eingeschätzt wurde.
Dass die Kolonisierten in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg dennoch in vielen Fällen die Unabhängigkeit erlangten, hatte auch Folgen für das Menschenrechtsprogramm der Vereinten Nationen. Das Recht auf Selbstbestimmung wurde nun an die Spitze der Agenda gesetzt, als das „erste Menschenrecht“. Allerdings war der Antikolonialismus keine Menschenrechtsbewegung im heutigen Sinne. Sein Ziel waren vielmehr die klassischen „rights of man“, verbunden mit der Herstellung postkolonialer staatlicher Souveränität. Zwar wurden die UN im Allgemeinen und das Menschenrechtsprogramm im Besonderen durch die Aufnahme der gerade unabhängig gewordenen ehemaligen Kolonien innerhalb der ersten zwei Jahrzehnte ihres Bestehens runderneuert. Die zwischenstaatliche Organisation war jedoch weiterhin eine Versammlung von Nationalstaaten, die ihre Souveränität nicht so einfach einschränken lassen würden.
Die Vereinten Nationen mussten folglich umgangen werden. Selbst westliche Völkerrechtler – heute zählen sie zu den wichtigsten Apologeten der Menschenrechte – waren frustriert angesichts der Vereinnahmung der Menschenrechte durch den Antikolonialismus. Aber erst als sich eine internationale Bewegung formierte, die sich der Menschenrechte als Sprache globaler Moralität bediente, wandten sich auch Völkerrechtler ihnen vermehrt zu. Ermöglicht durch eine Koinzidenz der Ereignisse, die nicht vorhergesehen werden konnte, konstituierte sich in dem Jahrzehnt nach 1968 erstmals eine internationale Menschenrechtsbewegung. Wichtig waren dabei osteuropäische Dissidenten, aber vor allem die vielerorts entstehenden und expandierenden Menschenrechts-Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Tief in einem religiösen Nährboden wurzelnd, hat Amnesty International (gegründet 1961) dieses „grass-roots engagement“ Moyn zufolge fast im Alleingang erfunden. Für ein solches Engagement von Individuen für andere Individuen war die reale Verbesserung von Lebenschancen und -bedingungen der von den Verbrechen Betroffenen nicht primär entscheidend, wie der Autor zeigt. Mindestens genauso wichtig wurde es, dass dieses Engagement dem Leben des Aktivisten in einem Zeitalter gescheiterter Utopien einen Sinn verleiht.
Für die weitere Erforschung der Geschichte der Menschenrechte ist dieses Buch wegweisend: Moyn benennt die zentralen Etappen der historischen Genese der zeitgenössischen Menschenrechte und entzaubert die Narrative über ihre mythischen Ursprünge. Kritik ist nur punktuell zu formulieren. In seinem Vorhaben, das historisch Neue an der Geburt der heutigen Menschenrechte – ihre Wendung gegen nationalstaatliche Souveränität – in den späten 1970er-Jahren herauszuarbeiten, geht Moyn an einigen Punkten zu weit. Man könnte argumentieren, dass er die Bedeutung etwa der 1940er-Jahre deshalb herunterspielt.
Etwas problematischer ist allerdings die konzeptionelle Enge, die den Menschenrechten so verliehen wird. Moyn unterscheidet häufig zwischen Akteuren, deren Denken nur am Rande von Menschenrechten berührt wurde, und solchen, deren Denken im Kern von dieser Idee bestimmt war. Falsch ist eine derartige Unterscheidung sicher nicht. Moyn benutzt jedoch eine mitunter essentialistische Sprache, die implizit eine bestimmte Form der Menschenrechte privilegiert: Akteure, die zwar von Menschenrechten sprechen, aber damit nicht die internationalen, gegen staatliche Souveränität gerichteten Menschenrechte im Sinne von etwa Amnesty International meinen, reden Moyn zufolge von anderen Dingen. Als Leser gewinnt man den Eindruck, dass es nur eine Version ‚echter‘ Menschenrechte gebe. Dass diese ihren Ort im Aktivismus westlicher NGOs hat, sollte im Hinblick auf die Debatte um ihre Universalität weiter bedacht werden, um eine Globalgeschichte der Menschenrechte schreiben zu können. Die Menschenrechte könnten insofern noch viel stärker als ein offenes rhetorisches Vehikel gedacht werden, das verschiedene Ideen transportieren kann. Diese Überlegung stellt Moyns Modell nicht grundsätzlich in Frage; es könnte an einigen Punkten aber genauer justiert werden.
Wie steht es etwa mit dem Verhältnis von Menschenrechten und Humanitarismus? Für Moyn sind dies zwei komplett voneinander zu trennende Dinge, die erst in den 1990er-Jahren eine engere Beziehung eingegangen seien. Aber kann man nicht auch Anhaltspunkte dafür finden, dass bereits in den späten 1970er-Jahren Humanitarismus und Menschenrechte parallele, miteinander verbundene Transformationen durchliefen? Auffällig ist, dass Moyn – ein Spezialist der französischen Ideengeschichte – recht wenig zu Frankreich schreibt. Aber was ist etwa mit den „Médecins Sans Frontières“: Sind sie nicht ebenso wie Amnesty International eine der NGOs, die für das zeitgenössische Menschenrechtsregime modellhaft geworden sind? Und wie verhält es sich mit dem Abolitionismus? Dem Fokus auf die klassischen „rights of man“ entsprechend, verliert Moyn in seinen Abschnitten zum 19. Jahrhundert nur sehr wenige Worte zu dieser Kampagne. Aber auch für die 1970er-Jahre ist der Zusammenhang interessant: Gerade Amnesty International knüpfte in der „Campaign for the Abolition of Torture“ zumindest rhetorisch an die Traditionen der Antisklavereibewegung an. Dabei handelt es sich gewiss um eine Erfindung von Traditionen. Diese impliziert jedoch, dass Menschenrechte und humanitäres Denken schon für die 1970er-Jahre nicht fein säuberlich voneinander zu trennen sind.
Diese Punkte sind in erster Linie als Anregungen für weitere Forschungsarbeiten zu verstehen. Und genau da liegt eine der vielen Stärken des Buchs. Mit rhetorisch feiner Klinge schneidet Samuel Moyn seine Thesen zu, provoziert Widerspruch und wirft so neue Fragen auf. Mit seiner genauen Unterscheidung der Ideen, die den Handlungen bestimmter Denker und Akteure zugrunde liegen, liefert er selbst bereits einen tragfähigen Bezugsrahmen zur Beantwortung derartiger Fragen. An dieser richtungsweisenden Arbeit führt deshalb kein Weg vorbei, wenn man sich für die Menschenrechte in der Geschichte oder als aktuelles politisches Programm interessiert.