Die Kulturgeschichte der Sexualität und der Geschlechterbeziehungen sind die zentralen Themen in Katherine Crawfords Forschungen. Nach ihrer Überblicksdarstellung ‚European Sexualities 1400-1800’1 hat die amerikanische Historikerin jetzt eine Untersuchung zum Wandel der Vorstellungen über Sexualität im frühneuzeitlichen Frankreich vorgelegt. Frankreich galt noch im 15. Jahrhundert als eher zurückhaltend im Umgang mit Fragen der Sexualität, vor allem im Vergleich zu Italien, doch hundert Jahre später hatte sich das Bild gründlich geändert. Unter der Regierung Heinrichs IV. (1589-1610) hielt man das Land, so die Autorin, wegen seines freien Umgangs mit Sexualität in Dichtung und Kunst, aber auch im öffentlichen Diskurs, für einen „randy bastard“ (S. xii). Die Renaissance war in Frankreich eine Zeit der sexuellen Selbstdarstellung, bevor Paradigmen von Kontrolle und Selbstbeherrschung das gesellschaftliche Klima seit dem 17. Jahrhundert bestimmen sollten (S. 7). Crawford will jedoch nicht nur eine Geschichte darüber schreiben, was die Menschen in der Vormoderne über Sexualität dachten, sondern ebenso über kulturelle Prozesse, in denen sich die Art und Weise veränderte, wie sich Menschen in ihrem Verhältnis zur Macht wahrnahmen. Es waren vor allem Humanisten, die die sexuelle Kultur der Renaissance definierten. Ihre Vorstellungswelt beeinflusste den öffentlichen Diskurs und unterschiedliche politische und gesellschaftliche Bereiche: die Astrologie, die Wiederbelebung des Platonismus im 16. und 17. Jahrhundert, die Dichtung und die Politik (S. 12). Damit sind auch die wichtigsten Untersuchungsfelder der Studie benannt.
Zunächst zeigt Crawford, wie französische Humanisten (insbesondere die Gruppe der Pléiade) Wissen über (männliche) Sexualität aus der antiken Tradition rekonstruierten, das gemäß den normativen Vorgaben des 16. Jahrhunderts umgedeutet wurde. Die Mythologie und Gestalt des Orpheus standen dabei nicht von ungefähr im Zentrum des Interesses. Ovids Metamorphosen gehören zu den meistgelesenen und -übersetzten Texten der Renaissance. Der Orpheus-Mythos erfuhr jedoch zahlreiche Umdeutungen und Zuschreibungen („sexual rewritings of Renaissance texts“, S. 12), die im Kern darauf abzielten, den tragischen Helden zu rehabilitieren und die Ehe zum einzig legitimen Ort für Sexualität zu erklären. Die homoerotischen Aspekte wurden daher konsequent verschwiegen und seine Liebe zu Eurydike über den Tod hinaus in den Vordergrund gestellt (S. 39).
Im zweiten Kapitel blickt die Autorin – zuweilen etwas zu detailverliebt – in die Sterne und fragt nach dem Zusammenhang zwischen Astrologie und sexueller (Un)Sicherheit. Aus den Positionen der Sterne und Planeten glaubte man das Schicksal und die Persönlichkeitsmerkmale des Menschen herauslesen zu können. Astrologen gaben mit Hilfe von Jahreszeitkalendern und persönlichen Horoskopen Ratschläge für das günstigste Heiratsdatum und die beste Partnerwahl (insbesondere mit Blick auf die Generationenfolge), für medizinische Behandlungen und politische Entscheidungen. Astrologen waren daher wichtige Mittler im öffentlichen Diskurs über Sexualität. Der ‚Blick in die Sterne’ schärfte, so Crawford, die Konturen und die Vorstellungen von Männlichkeit (S. 69). Die Hinwendung zur Astrologie in Frankreich war nicht einzigartig, der Zusammenhang mit Fruchtbarkeit und Sexualität aber singulär und erklärungsbedürftig: Die Idee der (nationalen) Fruchtbarkeit und Nachfolge war in der französischen Politik zentraler Bestandteil königlicher Ideologie. Zugleich waren die Horoskope ein Instrument der Beschwörung von Sicherheit in Zeiten gesellschaftlicher und politischer Verwerfungen (S. 103).
Ein weiteres Feld des ‚sexuellen Diskurses’ boten die Rezeption und Wiederbelebung der Lehren Platons. Der Neuplatonismus erfuhr zunächst in Italien durch Persönlichkeiten wie Marsilio Ficino (1433-1499) eine neue Blüte. Seine homoerotischen Interpretationen von Platontexten konstruierten ein neues Modell von Männlichkeit. Er prägte den Begriff der Platonischen Liebe, die aber ausdrücklich den Eros einschloss und sich auch auf irdische und körperliche Schönheit richtete. Ficino sah wahre Schönheit in der transzendenten Beziehung zwischen Männern. Frauen waren allenfalls notwendig für die Reproduktion, aber eigentlich uninteressant und im schlimmsten Fall gefährlich. Französische Autoren tilgten – vereinfacht gesprochen – die homoerotischen Spuren in Ficinos Werk und formulierten ein neues normatives Modell für Männlichkeit, indem homosexuelle Verbindungen zwischen Männern geleugnet oder einfach verschwiegen wurden. Mit der Formulierung eines klaren (normativen) Konzeptes von Heterosexualität in Anlehnung an die zeitgenössische Sexualpolitik (Fruchtbarkeit, Nachkommenschaft) hatten humanistische Autoren schließlich großen Einfluss auf die politische Sphäre (S. 110).
Im vierten Kapitel beschreibt Crawford das Aufkommen einer ‚Liebesdichtung’ besonderer Art. Diese Literaturform – Crawford bezeichnet sie als „bad“ bzw. „dirty poetry“ – war zwar in Form und Inhalt an die Klassiker angelehnt, zeichnete sich aber durch eine ausgesprochen körperbezogene und zuweilen sehr derbe Sprache aus (S. 152). Die Anfänge dieser ‚Liebesdichtung’ werden von der Autorin am Hofe Franz I. ausgemacht. Der Monarch war ein großer Freund und Förderer der Renaissancedichtung und galt selbst als Bewunderer von Petrarca und dessen zeitlebens unerfüllter Verehrung Lauras. Petrarca stand in den Augen der Humanisten zwar für einen glaubwürdigeren Umgang mit Geschlechterfragen und Sexualität. Die Rezeption und Nachdichtungen seiner Liebesgedichte sowie die anschließend verklärten Entsagungen provozierten aber auch eine dunkle und ‚schmutzige’ Seite. Sowohl weniger bekannte Autoren als auch prominente Vertreter der Zunft wie Pierre de Ronsard, einer der bedeutendsten Lyriker des 16. Jahrhunderts, publizierten anonym Texte, weil sie offenbar nicht wirklich davon überzeugt waren, dass eine rein ‚transzendente’ Liebe (Sexualität) realistisch sei. In diesen Texten – die häufig mit sexuellen Motiven und Stereotypen (Frauen sind unersättlich, Männer sind dumm etc.) gesättigt waren – wurden gesellschaftliche Normen verkehrt und ein sexuell ausschweifender Lebenswandel als Ausdruck von Erfolg und Kraft gepriesen (S. 179). Damit wurde diese Literatur ein Feld für die (sexuelle) Selbstkonstruktion, die einen differenzierten Blick auf den männlichen und weiblichen Körper ermöglichte.
Im letzten Kapitel widmet sich Crawford schließlich der öffentlichen Reputation des Königs und beschreibt den sich verändernden Diskurs über sexuelle Regeln und Verhaltensstandards am Hofe der französischen Könige. Crawford möchte auch das Sprechen über Sexualität in der politischen Auseinandersetzung ernst nehmen, nicht zuletzt weil sich die französischen Könige darum bemühten, das Sprechen über ihren ausschweifenden Lebensstil in der Öffentlichkeit zu steuern und gleichermaßen für ihre Reputation nutzbar zu machen. Sie waren damit nicht immer erfolgreich, zumal solche Diskurse ihre Eigendynamik entwickelten. Crawford zeigt an zahlreichen Beispielen, wie das Sprechen und Schreiben über die Sexualität des Monarchen zu einem politischen Argument für oder gegen den König wurde. Französische Humanisten spielten in dieser Auseinandersetzung eine wichtige Rolle, zumal ihre Texte bei Hofe gelesen und nicht wenige Literaten dort gezielt gefördert wurden. Zugleich waren die Könige aber auch Ziel der Spottgedichte, indem man sich über ihre sexuellen Eskapaden und ihre mangelnde Fortpflanzungsfähigkeit (Heinrich III.) lustig machte oder sie kritisierte. Die Veränderungen in der Sprache der Texte belegen daher, so Crawford, wie sich das Bild des jeweiligen Repräsentanten im Zusammenspiel von Kunst, Dichtung und Herrschaftsrepräsentation veränderte und wie in einer sexualisierten Sprache sowie in entsprechenden Bildern die Sexualität des Königs diskutiert und diffamiert wurde (S. 196). Besonders eindrücklich zeigt sich dies an der Regierung Heinrichs III., dessen Wahrnehmung angesichts ausbleibender Nachkommen durch die Auseinandersetzung mit seiner (vermeintlich) ambivalenten sexuellen Orientierung bestimmt wurde (S. 215). Heinrichs sexuelle Verfehlungen wurden daher in enger Anlehnung an politische Misserfolge in einer bis dahin ungekannten Schärfe diskutiert und verspottet. Crawford sieht im ausschweifenden Lebensstil Heinrichs III. dagegen den – durchaus innovativen – Versuch, auf eher spektakuläre und ungewöhnliche Weise Potenz und Virilität zu demonstrieren, um seine Kinderlosigkeit zu kompensieren (S. 222).
Die Renaissance war, so die Autorin resümierend, gekennzeichnet durch Widersprüchlichkeiten, entsprechend uneindeutig fallen ihre Befunde aus. Die Rezeption antiker Schriften schuf, so die These, die Voraussetzungen für eine spezifische sexuelle Kultur in der französischen Renaissance. Dass im Ergebnis sehr unterschiedliche und auch ambivalente Vorstellungen von Männlichkeit und eine durchaus ‚französische’ Wahrnehmung von Sexualität in der zeitgenössischen Literatur und im öffentlichen Diskurs herauskommen können, hat Crawford kenntnisreich und teilweise recht unterhaltsam erschlossen. Überraschend ist hingegen, dass die Autorin keinen Zusammenhang zwischen Sexualität und einer für die Vormoderne wichtigen Leitkategorie, der Ehre, zu sehen vermag, etwa als Basis häuslichen Wirtschaftens oder als Standesehre – um nur einige Aspekte zu nennen. Mit ihrer Beschränkung auf literarische Quellen und humanistische Vorstellungen von Sexualität entwirft die Autorin ein etwas hermetisches Bild, das für sich plausibel erscheint, für weiterführende Fragen zum gesellschaftlichen Kontext und zum historischen Wandel jedoch keine Hinweise gibt.
Anmerkung:
1 Katherine Crawford, European Sexualities, 1400-1800, Cambridge 2007.