J. Stark u.a.: Wem gehört die Popgeschichte?

Cover
Titel
Wem gehört die Popgeschichte?.


Autor(en)
Stark, Jürgen; Gebhardt, Gerd
Erschienen
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 19,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Baur, Geschichte des europäisch-transatlantischen Kulturraums, Universität Augsburg

Was ist Pop? Diese Frage hält Produzenten und Konsumenten genauso wie Journalisten, Theoretiker und Wissenschaftler auf Trab. Die Zahl der Erklärungsversuche ist mannigfaltig und die Diskussion darüber weit entfernt von einem Konsens. Lediglich über die Bedeutung scheint generelle Einigkeit zu herrschen: „Pop hat als zeitgeistiges Phänomen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das gesamte Spektrum der kulturellen Äußerungen erfasst und sich als 'Lebensgefühl' in der westlichen Welt etabliert.“1 In die andauernde Debatte um die Historisierung von Pop mischen sich nun Gerd Gebhardt und Jürgen Stark ein und fragen provokativ: Wem gehört die Popgeschichte?

Der Titel reminisziert hitzig geführte Grabenkämpfe zwischen Pop-Sympathisanten und Pop-Wissenschaftlern, zwischen den einen, die Pop leben und den anderen, die ihn zu theoretisieren trachten. Gerd Gebhardt und Jürgen Stark beziehen von Anfang an Position. Beide Autoren sind etablierte Insider des Pop-Geschäftes. Gerhardt war Geschäftsführer des Plattenlabels Warner Music Germany, später Präsident von Warner Central Europe und Vorsitzender der Deutschen Phono-Akademie. Er gilt als einer der geistigen Väter des ECHO-Musikpreises. Jürgen Stark arbeitete viele Jahre als Texter und Musikjournalist, war Chefredakteur der Musikzeitschrift „Metal Hammer“ und setzte sich im Rahmen mehrerer Kampagnen für mehr Musik in Schulen ein.

Das Buch bietet keine systematische oder chronologische Aufarbeitung der Popgeschichte. Gebhardt und Stark (Jahrgang 1951 bzw. 1957) dokumentieren ihre autobiografische Sicht auf ein Stück erlebter Popgeschichte – in der Doppelrolle von Konsumenten und Produzenten des Pop-Business. Das Ergebnis ist ein über weite Strecken melancholischer Blick zurück auf jenes goldene Zeitalter bis zur Mitte der 1990er-Jahre, in der die Autoren einen tief greifenden Wandel der globalen Rockpopmusik diagnostizieren. „Aus einer Bewegung gegen das 'Establishment' in Staat und Politik wurde eine weitgehend gesellschaftlich integrierte Musikfankultur, die bei aller Ausdifferenziertheit und Andersartigkeit ihre Rollenspiele nicht mehr in der Nähe zum politischen Aufbruch in vermeintlich bessere Welten betreibt. Pop sei in der breiten Mitte der behäbiger und saturierter gewordenen westlichen Gesellschaften angekommen.“ (S. 14) Gebhardt und Stark wenden sich jener „Phase eins“ zu, als Pop noch Underground und Subkultur gewesen sei, und beschwören den Geist jener Ära, als Musik die Erfüllung von „Love and Peace and Freedom“ proklamierte. Auch wenn die beiden einleitenden Kapitel von kulturpessimistischen Tönen geprägt sind, so bieten die folgenden Kapitel das, was sie versprechen: den Insider-Blick zweier Pop-Sympathisanten.

Der Aufbau des Buches folgt einem durchgängigen Prinzip: Jedes Kapitel wird eingeleitet durch den passenden Soundtrack, keinem normativen Best-of, wie die Autoren beteuern, sondern eine multimediale Ergänzung. Der Text ist gespickt mit zahlreichen Zitaten der Popmusik-Hall of Fame, Ausschnitten aus Interviews sowie „Gedächtnisnotizen“, mit denen die Autoren ihre persönliche Erinnerung einweben. Der chronologische rote Faden wird so durchtrennt und durch eine mosaikartige Collage der Popwelt ersetzt. Am Anfang, schreiben Gebhardt und Stark im Kapitel „Intro – Das Weltall swingt“, war nicht das Wort, sondern der Ton (S. 22). Dem folgt ein Schnelldurchmarsch durch die Kulturgeschichte menschlicher Lautproduktion von den Neandertalern bis hin zu Woodstock. Kapitel eins und zwei verorten die Grundlagen moderner Popmusik im afroamerikanischen Blues des frühen 20. Jahrhunderts. Aus pophistorischer Sicht sehen die Autoren die Wurzeln einer deutschen Zivilgesellschaft der Nachkriegszeit in der Weimarer Epoche der „Roaring Twenties“. Die folgenden neun Kapitel spannen den Bogen vom Wiederaufbau nach 1945 („Rock 'n' Roll in der kaputten Heimat“) bis zu den frühen 1990er-Jahren („BR'D'DR: Die Wende in Pop und Politik“). Angetreten, die Popgeschichte jenseits etablierter Kategorisierungen in den Blick zu nehmen, halten sich Gebhardt und Stark dann doch an bekannte Periodisierungen der Musikgeschichte. Brüche und Widersprüchlichkeiten werden nicht verschwiegen, populäre Mythen, etwa dem vom „Swinging London“ der 1960er-Jahre, aber nicht wirklich infrage gestellt, Anekdoten allzu oft ungebrochen in die Argumentation eingebaut.

Überzeugt von der befreienden und weltverbesserischen Kraft des Pops haben die Autoren immer den Fluchtpunkt ihrer Geschichte vor Augen: die „Phase zwei“ der Popgeschichte Mitte der 1990er-Jahre und das Ende eines Erfolgskonzeptes. „Wir haben getanzt, gefeiert, Irrtümer gelebt und uns über die Wiedervereinigung unseres Landes gefreut. Wir hatten jede Menge Aufklärung und Rock 'n' Roll pur und satt. Wir haben Kirchen, Parteien und die Gesellschaft herausgefordert, alten Muff besiegt, Hitler überwunden und die eigene Sprache nicht nur zum Singen neu entdeckt und in einen erneuerten Alltag überführt. Dennoch: In weiten Teilen der Welt kamen weder populäre Freizügigkeiten noch demokratisch-humane Lebensformen in Staat, Gesellschaft und Politik an.“ (S. 340-341) Alles was übrig blieb von der Aufbruchsstimmung sei Massenkultur und eine entpolitisierte Diktatur des Mittelmaßes.2 Man muss diesem apokalyptischen Grundtenor nicht widerspruchslos zustimmen und kann darauf hinweisen, dass auch im goldenen Zeitalter die Welt des Pops nicht unabhängig von den Mechanismen einer modernen Konsumgesellschaft agieren konnte. Die strukturellen Veränderungen des Musikmarktes seit Mitte der 1990er-Jahre sind jedoch nicht zu leugnen. Anschlussfähig und diskussionswert ist die These, dass ein aufgeschlosseneres pophistorisches Bewusstsein in Deutschland noch immer ein Desiderat ist (S. 68). Ausdruck dessen sei der andauernde Anachronismus vom binären Unterschied zwischen ernster und Unterhaltungsmusik (E- und U-Musik), unter dem Musikunterricht noch heute zu leiden habe (S. 27).

Mit einer Spur von Selbstironie und fast in Anlehnung an das Figurenpaar Estragon und Wladimir aus Samuel Becketts Theaterstück „Warten auf Godot“ stellen sich Gebhardt und Stark im Schlusskapitel erneut der Frage: Wem gehört die Popgeschichte? Allen Akteuren, die aktiv an der Geschichte mitgewirkt haben? Oder auch den Inaktiven und Gegnern der Popkultur? Einer klaren Antwort weichen beide aus, einigen sich aber darauf, dass Pop zwar in der Breite der Gesellschaft angekommen ist, Überraschungen aber auch in Zukunft nicht ausgeschlossen sind.

Anmerkungen:
1 Walter Grasskamp / Michaela Krützen / Stephan Schmitt (Hrsg.), Was ist Pop? Zehn Versuche, Frankfurt am Main 2004, S. 7. Vgl. zur aktuellen Forschungsdiskussion: Caroline Rothauge und Martin Lüthe: Tagungsbericht Theorien des Populären. 08.01.2010-09.01.2010, Paderborn, in: H-Soz-u-Kult, 18.02.2010, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=3001> (10.03.2011).
2 Zur Frage, wie politisch Populärkultur ist, vgl. Kaspar Maase, Was macht Populärkultur politisch? Otto von Freising-Vorlesungen der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Wiesbaden 2010; Jürgen Warneken, Populare Kultur. Gehen – Protestieren – Erzählen – Imaginieren, Köln 2010; Vittoria Borsò u.a. (Hrsg.), Die Macht des Populären. Kultur- und Medientheorie, Bielefeld 2010.

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