Die hier versammelten Beiträge in Form eines „Wörterbuchs“ wollen Einblick geben in die „Theorie und Praxis der Geschichtswissenschaft“. So findet man unterschiedlichste Einträge, die von A wie „Archivar“ bis W wie „Wahrheit“ reichen. Z für „Zettelkasten“ fehlt – vermutlich, weil es davon im Zeitalter moderner „Schreibwerkzeuge“ (auch dazu ein Eintrag) nurmehr wenige gibt. Dazwischen steht Erwartbares (und Unverzichtbares) wie „Quelle“, „Historiografie“, „Biografie“ und „Ereignis“, aber auch Neugierigmachendes wie „Bibliothek“, „Buchhandlung, kleine“, „Realexperiment“ und „Tunnelblick“.
Wie arbeiten Historiker, was beeinflusst ihr Denken, und was prägt ihre Alltagswirklichkeit? Dieses Nachschlagewerk nähert sich der Handwerkskunst des Historikers und der Historikerin nicht über deren Manifestationen in Büchern und Aufsätzen, sondern über die alltägliche Arbeit und die Lebenswirklichkeit von HistorikerInnen. Dazu gehören Konzepte und Paradigmen ebenso wie Quellen und Bibliotheken, professionelle Pflichten wie Vorlesungen, Gutachten und Peer Reviews. Wie Anne Kwaschik in ihrem Vorwort schreibt, geht es um ein Mehrfaches: um die „Arbeit des Handwerkers in seiner Werkstatt“, die „theoretische Angelegenheit der Erkenntnisfindung“, die „Verfasstheit der Wissenschaft“ sowie „ihre impliziten und expliziten Zwänge“ (S. 10). Die „Werkstatt“ als „Ort der Auseinandersetzung von Autonomie und Autoritäten“, wie sie Richard Sennett in seinem Buch über das Handwerk beschrieben hat1, bringt den Anspruch des Bandes, der gleichzeitig auch eine Festschrift für Peter Schöttler ist, am besten auf den Begriff: Was sind die theoretischen Annahmen, die Sachzwänge, die Werkzeuge, die wechselnden Kontexte, in denen Geschichte geschrieben wird – und in welchen Referenzrahmen beansprucht Geschichtswissenschaft Deutungsmacht?
Die Selbstreflexionen der HistorikerInnen machen dieses Buch zu einer interessanten Lektüre und schließen ganz unterschiedliche Aspekte des Historikerberufs ein. Anne Kwaschik gibt einleitend einen knappen und sehr guten Überblick zur Entwicklung der Geschichtswissenschaft – unter besonderer Würdigung der französischen Geschichtsschreibung, vor allem Marc Blochs, Lucien Febvres und und Michel Foucaults. Die Autorin zeigt die Kontextabhängigkeit historiographischer Strömungen: vom deutschen Idealismus über die Anlehnung an die Sozialwissenschaften, die Wiederentdeckung der Erzählung bis hin zur Konjunktur der Gedächtnisforschung, die im frankophonen Raum – und darüber hinaus – insbesondere durch Pierre Noras „lieux de mémoires“ einen besonderen Stellenwert in der Gegenwartshistoriographie gewonnen hat (siehe auch den vorzüglichen Eintrag von Etienne François). Kwaschik beschreibt darüber hinaus den veränderten Habitus von Historikern sowie die sich ändernden Produktionsbedingungen für diejenigen, die sich der Geschichtswissenschaft verschrieben haben.
Die Auswahl der Autoren ist sehr interessant, denn neben Historikern und Historikerinnen findet man Vertreter der Philosophie, der Sprach- und Literaturwissenschaften, der Soziologie, der Politologie, der Geographie, ja sogar der Biologie und der Medizin. Die Beiträge umfassen zwischen drei und sechs Seiten, sind also sehr kurz und dadurch häufig essayistisch. Der „fröhliche Verzicht auf das Gründliche“ ist nach Marcel Reich-Ranicki das Merkmal des Essays (siehe zu dieser Textsorte den Beitrag von Anne Kwaschik). Das erfordert Eigenständigkeit in der Akzentuierung und Kreativität in der Ausgestaltung des Themas – Fähigkeiten, die bei den AutorInnen naturgemäß in unterschiedlicher Weise ausgeprägt sind.
Bemerkenswert ist, wie manche der Autoren auf knappstem Raum Substantielles zu Papier bringen. Beispiele sind: „Subjekt“ von Reinhard Sieder; „Diskursanalyse“ von Philipp Sarasin; „Geschichtlichkeitsregime“ von François Hartog; „Gedächtnis“ von Marie-Claire Lavabre. Überraschende Perspektiven entwickelt Jakob Tanner in seinem Beitrag zum „Tunnelblick“. Brillant formuliert ist Thomas Welskopps Beitrag über die „Bielefelder Schule“, vor allem seine Schilderung des bellicosen und humorlosen Habitus der Bielefelder, der so manches Forscherleben vergiftet hat. Sehr gut sind auch Astrid M. Eckerts Beitrag über den „Archivar“ und Josef Ehmers Offenbarungen, welche Überraschungen den neugierigen Geist in einer „kleinen Buchhandlung“ erwarten; ebenso anregend sind die Einträge über „Kunst“ von Bernhard Jussen und über „Wahrheit“ von Enrico Castelli Gattinara. Die Lemmata sind alphabetisch geordnet, laden die Leserin und den Leser aber dazu ein, sich einen eigenen Lektüreparcours zusammenzustellen.
Die Fröhlichkeit beim essayistischen Verzicht aufs Gründliche ist unterschiedlich ausgeprägt. Humorvoll ist Jörn Leonhards Beitrag über die „Bibliothek“. Mein Favorit in puncto Ironie ist der Eintrag über den „Fußboden“ von Klaus-Michael Bogdal. Die Nutzung des Fußbodens in so mancher Gelehrtenstube wird hier auf amüsanteste Weise nach Gelehrtentypen klassifiziert („Leertischlern“ und „Volltischlern“, deren Erforschung sich die Wissenschaftsgeschichte noch unzureichend gewidmet habe). Die sich auf dem Fußboden stapelnden Druckerzeugnisse werden als „Orte der Erinnerung“ an die nicht geschriebenen Aufsätze und Bücher analysiert; Stapel, die die Fähigkeit haben, „jederzeit komplexere Systeme“ entstehen zu lassen und tückischerweise „die memorialtechnischen Schwierigkeitsgrade“ erhöhen, könnten eine neue „Archäologie des Wissens“ erforderlich machen (S. 77). Schließlich wird die Fußbodennutzung auch noch als „moderne und innovative Ausdrucksform kreativer Grenzgänger zwischen Wissenschaft und Kunst“ analysiert. Vollends philosophisch wird es, wenn die auf dem Fußboden versammelten Stapel als „raumgreifende fragile Gesamtkunstwerke und singuläre Environments“ charakterisiert werden, „die von der Vergeblichkeit menschlichen Strebens zeugen“ (S. 78). Wunderbar! Es gibt ihn noch, den Typ des ironischen Wissenschaftlers, der, ohne mit der Wimper zu zucken, sich über sich selber und seinesgleichen intelligent lustig machen kann. Das beruhigt.
Als Nachschlagewerk ist das Buch wohl nur teilweise geeignet. Manche Beiträge bieten auf knappstem Raum hilfreiche Informationen, weitere Texte enthalten nützliche Erkenntnisse und Anstöße (siehe „Buchhandlung, kleine“; „Realexperiment“; „Imagination“; „Sinne“). Andere hingegen lesen sich eher schwerfällig und uninspiriert. Am meisten profitieren wohl diejenigen Leser und Leserinnen, die auf der Suche nach Ungewöhnlichem und Humorvollem sind.
Die Auswahl der Einträge scheint ein wenig dem Zufall des Autorenkreises geschuldet, denn natürlich ließen sich noch viele weitere Stichworte denken – zum Beispiel: Arbeitsmarkt für Historiker/innen; Bilder/Visualisierung; Danksagung; Dissertation oder: Die Einsamkeit des Langstreckenläufers; Doktorvater/Doktormutter; Drittmittel; Erzählen und Erklären; Evidenz; Exzellenz; Fußnote; Graduiertenkolleg; Habilitation oder: späte Adoleszenzkrisen; Interview; Kolloqium; Kooperation/Kooperieren; Öffentlichkeit; Plagiat; Sonderdruck; Sonderforschungsbereich; Streiten; Tagung; Widmung; Zeit; Zeitzeuge. Dass das Buch in dieser Weise zum Fortspinnen und freien Assoziieren über die Praxis des geschichtswissenschaftlichen Arbeitens einlädt, ist vielleicht nicht das geringste Verdienst.
Anmerkung:
1 Richard Sennett, Handwerk, Berlin 2008.